Anna Burns Roman Milchmann ist im Wortsinne überwältigend. Das fängt mit dem ersten Satz an. Die Autorin spoilert und erzählt, was gewöhnlich erst am Ende des Geschehens offenbart würde. Der Spannung tut das keinen Abbruch, denn zwischen dem, was der Anfang ankündigt, und seiner Vollstreckung liegen viele hundert Seiten, die den Leser in eine Alptraumwelt führen. Zumindest habe ich sie so empfunden: grotesk, gewalttätig, übergriffig, verlogen, kafkaesk und zutiefst deprimierend.
Ein herausragendes Merkmal des preisgekröntem Werks ist seine Sprache, die jene bereits angedeutete Orientierungslosigkeit des Lesers verstärkt. Ich habe lange keinen Zugriff oder Ankerpunkt gefunden, es war mehr das Herumirren in einer gespenstischen. Namen nennt die Autorin selten, die Hauptfigur ist »Mittelschwester«, »Tochter« oder »Vielleicht-Freundin«; viele Personen werden mit dem Verhältnis zu »Mittelschwester« benannt: »Vielleicht-Freund«, »Kleine Schwestern«, »Schwester Eins« und »Schwager Drei«.
Mit diesem Kniff rückt alles ins Ungefähre, Umnebelte, auch die Handlungsorte, die politischen Verhältnisse, die Gruppierungen und Grüppchen. So entstehen von Beginn an Leerstellen, etwa die Frage, ob die Erzählerin diesen »Irgendwer McIrgendwas« aus dem ersten Satz nicht kennt oder – wenn doch – warum sie ihn so bezeichnet? Und natürlich: Überlebt die Hauptfigur die bedrohliche Lage?
»Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.«
Anna Burns: Milchmann
Ganz besonders auffällig ist, dass bereits im ersten Satz das Schicksal der titelgebenden Figur enthüllt wird. Der »Milchmann« stirbt, genauer gesagt: Er wird getötet. Die Ich-Erzählerin lebt in brutalen, gewalttätigen Verhältnissen. Durch den Kniff, das bereits mit dem Auftakt klarzustellen, wird alles Nachfolgende massiv aufgeladen. Drohungen sind wörtlich und vor allem ernstzunehmen.
Es ist vor allem die persönliche Konstellation, die der Auftaktsatz ankündigt, die das Buch bis zum Ende trägt. Die ist ungewöhnlich, selbst in einer Welt, in der die sozialen Netze und Kontakte ohnehin absurd ungewöhnlich sind. Schauderhaft, beklemmend und irritierend ungewöhnlich, dazu kalt und lieblos. Ein Nährboden für abgründige Gedanken.
»[…] Erkenntnis, dass man als normaler, gewöhnlicher, sehr netter Mensch den Wunsch hegen konnte, jemanden umzubringen, oder erleichtert war über einen Mord.«
Anna Burns: Milchmann
Trotz der sprachlichen Nebelwerferei ist jedem Leser sehr schnell klar, dass sich das Drama in Irland abspielt, genauer gesagt: Nordirland, jenem blutdurchtränkten Stückchen Erde, das bei Großbritannien blieb, als der Rest Irlands endlich in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Der Fanatismus und die unüberbrückbare Gegnerschaft zwischen den Religionen und den – zumeist entlang der konfessionellen Linie entlanglaufenden – politischen Haltungen prägen das Leben.
Burns bleibt vage und wird in ihrer Kritik dennoch deutlich. Massiv lässt sie ihre Erzählerin auf die Heroen eindreschen, die – wie auf allen Orten unserer Welt – politische Instabilität nutzen, um sich ein kleines Stück Macht zu sichern, unter dem Deckmantel des Kampfes für die Sache. An ihnen lässt sie kein gutes Haar, an ihren Gegnern sowie den englischen Sicherheitskräften und ihren Verbündeten auch nicht. Sie alle werden mit boshafter Komik bloßgestellt.
»[…] ›und es nur drei Optionen gibt – wir überleben, wir sterben, wir werden verwundet, wir scheitern, der Staat erwischt uns.‹
Anna Burns: Milchmann
Das waren fünf Optionen.«
Die Hauptfigur existiert in einer übergriffigen Gesellschaft. Gerüchte, Halbwahrheiten, Lügen gehen Hand in Hand mit bornierter Ignoranz sowie politischem und religiösem Fanatismus. Der Konformitätsdruck ist überwältigend, die Schere im Kopf eifrig beschäftigt, von Freiheit so wenig zu spüren, dass ich oft an die Lebensverhältnisse im Stalinismus erinnert wurde.
Möglicherweise steckt im Menschen doch ein kleiner Blockwart, der Inbegriff des kleinen Mannes, der nach einem Brocken Macht hascht. Burns findet starke Worte und Bilder, die entlarvend sind für die Absurdität der Handlungsweisen. Ein Kompressor (wissen Sie adhoc, was das eigentlich ist?) kann zum Gegenstand von weitreichenden Verdächtigungen bezüglich fehlender Loyalität und potenziellem Verrat werden.
Die Frauenfiguren in »Milchmann« kommen ebenfalls nicht allzu gut weg. Mit Hingabe widmet sich Burns den »Groupies« der stolzen Freiheitskämpfer, jener weiblichen Anhängsel, die voller Stolz zu ihren Heroen aufblicken und gerade von deren Missetaten angezogen werden. Auch die Mutter oder die ältere Schwester, traditionell eher Schutzfiguren in Romanen, sind Teil des immensen Drucks, unter dem die Hauptfigur steht.
»Und erst da erkannte ich, wie sehr ich mich eingeigelt hatte, wie sehr ich mich von diesem Mann in ein sorgfältig konstruiertes Nichts hatte navigieren lassen. Genauso von der Gemeinschaft, vom geistigen Klima, von den vielen kleinen Übergriffigkeiten.«
Anna Burns: Milchmann
Inmitten dieses gesellschaftlich äußerst problematischen Klimas gerät die Hauptfigur besonders unter Druck, weil ein viel älterer Mann ihr nachstellt. »Milchmann« ist nicht Irgendwer, sondern mit einer der politischen Gruppierungen verbunden, ein Machtmensch, der gegenüber der Erzählerin keine Zweifel daran lässt, dass er bekommen wird, was er will. Obwohl der Leser das Schicksal dieses Zudringlings bereits im ersten Satz erfährt, entsteht eine ungeheure Beklemmung über die ganze Handlung hinweg.
Positive Figuren sind rar in diesem Roman. Ein – keineswegs zufällig gewählter – »echter« Milchmann etwa, der sich um die Hauptfigur kümmert, als diese in Schwierigkeiten steckt. Aber auch die Heldin selbst muss sich eingestehen, dass sie im Laufe der Zeit die Fähigkeit eingebüßt hat, anderen zu vertrauen, die grundlegende Fähigkeit, ein Netzwerk aufzubauen, auf das sie sich stützen könnte; sie hat sich auch selbst isoliert, wie sie irgendwann selbst begreift. Ob und was daraus folgt, erfährt man auf den letzten Seiten des Romans.
Anna Burns: Milchmann
Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll
Taschenbuch
Tropen
ISBN: 978-3-608-50508-5