Schriftsteller - Buchblogger

Monat: Februar 2023 (Seite 1 von 2)

Benedict Jacka: Das Labyrinth von London

Urban Fantasy spielt in London, so scheint das Genre-Axiom zu lauten. Cover Blanvalet, Bild mit Canva erstellt.

Feine Urban-Fantasy aus der Feder von Benedict Jacka. Sein Alex Verus ist eine originelle Figur, die schon im Auftaktband der recht üppigen Buchreihe einiges durchmacht, haarsträubende Situationen bewältigen muss und bei Gelegenheit die Welt mit einer halben Legion ironischer, sarkastischer und flapsiger Bemerkungen bereichert.

Verus ist Magier, allerdings ein besonderer. Kämpfen kann er nicht, im Gegensatz zu vielen anderen Zauberkundigen, die je nach Ausrichtung zur weißen oder schwarzen Richtung neigen und zumeist ihr eigenes Süpplein köcheln. Der Protagonist ist Wahrsager. Er kann die Zukunft bzw. viele verschiedene Varianten einer möglichen Zukunft voraussehen.

Das ist zunächst einmal lustig, wenn Verus sein Alltagsleben als Inhaber eines Ladens etwas aufpeppt und den Leser vorab darüber in Kenntnis setzt, was die werte Kundschaft wünscht. Eigentlich wussten wir immer schon, dass Hellsehen eine Kernkompetenz misslaunig dreinblickender Ladenbesitzer ist, woher sonst sollten sie wissen, dass wir nur stöbern, nicht kaufen wollen?

Verus ist ein Außenseiter. Gemieden vom Rat, was eine höfliche Umschreibung ist, belastet von einer üblen Vergangenheit unter der Knute eines Schwarzmagiers, hält er Distanz. Das ist ein gutes Stichwort, wenn es um jene junge Dame namens Luna geht, die von einem Fluch belegt ist, der jeden in Mitleidenschaft zieht, der ihr zu nahe kommt.

Wer solche Freunde hat, braucht eigentlich keine Feinde mehr, doch wird Verus in ein Abenteuer gezogen, das nach dem preußischem Militär-Leitspruch „Viel Feind, viel Ehr“ gestaltet ist. Gleich mehrere Gruppen wollen etwas, das sie nur mit Hilfe von Verus bekommen können – die sich daraus ergebenden Antagonismen führen mitten hinein in eine turbulente Hetzjagd, bei der jeder gegen jeden kämpft.

Genretypisch spielt der Roman in London. Wo sonst?, könnte man beinahe fragen. Genretypisch muss der Leser eine allzu nüchterne Lesehaltung ablegen, um Spaß zu haben, sonst verheddert er sich leicht in den Fallstricken des Phänomens »Zukunft«. Gelingt das, ist Das Labyrinth von London ein sehr kurzweiliges, originelles und spannendes Lesevergnügen.

Weitere Bände der Buchreihe um Alex Verus, die ich besprochen habe:
Das Ritual von London.
Der Magier von London.

Der Wächter von London.

Benedict Jacka: Das Labyrinth von London
aus dem Englischen von Michelle Gyo
Blanvalet 2018
TB 416 Seiten
ISBN: 9783734161650

Volker Ulrich: Deutschland 1923

Die Inflation aus dem Jahr 1923 hat bei der deutschen Bevölkerung Spuren hinterlassen, bis heute. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Geschichte hält sich nicht an Jahreszahlen und Kalender. Politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen reichen in beide Richtungen darüber hinaus. Entsprechend ist es ein sinnvoller Ansatz, ein Buch über das Jahr 1923 nicht auf dasselbige zu beschränken, sondern die Wurzeln der katastrophalen Entwicklung und deren Folgen aufzuzeigen.

Man kann sich auch streng auf jene 365 Tage beschränken und nur in einzelnen Fällen vorgreifen oder zurückgehen. So ist Jutta Hoffritz mit ihrem Buch Totentanz vorgegangen. Durch die Fokussierung auf das Erleben der von ihr ausgewählten Persönlichkeiten erhält die Erzählung eine ganz besondere Nähe und Unmittelbarkeit. Dabei bleiben allerdings viele Dinge auf der Strecke, etwa die Erklärung, warum Deutschland 1923 von einer Hyperinflation heimgesucht wurde.

Der Ansatz, den Volker Ulrich in Deutschland 1923 wählt, erklärt mehr, indem er die Ursachen ergründet und aufzeigt. Die gewaltige Geldentwertung hätte Anfang 1923 vielleicht noch eingedämmt werden können, doch war sie zu diesem Zeitpunkt schon ordentlich in Schwung. Die Ursachen reichen zurück in den Ersten Weltkrieg, der auf Pump finanziert wurde: Die Kosten würden die Verlierer bezahlen, so dachte man auf allen Seiten; natürlich ging man deutscherseits davon aus, dass die anderen verlieren würden.

Statt dicker Kriegsgewinne gab es 1918 Gebietsverluste, Aufstände, Putschversuche, Separatisten, die Notwendigkeit, immense Sozialleistungen aufzulegen und gewaltige finanzielle Reparationsbelastungen. Aus diesem verhängnisvollen Zustand hätte nur eine starke Reichsregierung im Verein mit nachgiebigen Siegerstaaten herausgefunden – stattdessen eskalierte der Reparationsstreit, Frankreich und Belgien besetzten das Ruhrgebiet.

Als Harry Graf Kessler im August 1922 durch Nordfrankreich reiste, war er erschüttert über das Bild, das sich ihm vier Jahre nach Kriegsende immer noch bot.

›Große, unkultivierte Flächen, die von blühendem Unkraut überwachsen sind, und auch zwischen bestellten Feldern auffallend viele unbestellte. Zerschossene Häuser, eingestürzte Dächer, kleine Barackendörfer, neue Landhäuschen von trostloser Scheußlichkeit. St. Quentin ist nicht vollständig zerstört, wie man gesagt hat, doch die Bahnhofsstraße und viele Häuser sind noch immer nach vier Jahren Trümmerhaufen. Und die Kathedrale thront fensterlos mit einem Wellblechschutzdach als erhabene, weithin sichtbare Ruine über der zerschossenen Stadt.‹«

Volker Ulrich: Deutschland 1923

Dieses Faktum wurde nicht nur von der deutschen Regierung geflissentlich ignoriert, man darf sich getrost die Frage stellen, wer sich im Deutschen Reich zu dieser Zeit überhaupt Gedanken gemacht hat, was der Krieg in Frankreich und Belgien hinterließ. Und wer sich dazu offen und öffentlich äußerte. Auch in der Geschichtsschreibung bleibt oft randständig, dass es für Reparationen trotz aller problematischen Punkt im Vertrag von Versailles sehr gute Gründe gab.

Die höchst problematisch agierende Regierung Cuno verfolgte ein Programm, das in den Abgrund führte, auch wenn es anfangs zu einer kurzlebigen inneren Einheit führte. Sie ignorierte den dringend gebotenen Rat, einen Kampf nur zu dann zu fechten, wenn die Aussicht auf Sieg steht – Frankreich und Belgien saßen am längeren Hebel, hatten Verantwortliche, die das Reich gern nachhaltig geschwächt sahen und – nicht zu vergessen – angesichts der immensen Zerstörungen in ihren Ländern sachliche Gründe, auf Reparationen zu bestehen.

Es ist immens spannend zu verfolgen, wie sich die Dinge im Reich entwickelten, wie zentrale Figuren handelten und aus welchen Gründen sie das taten. Volker Ulrich verfolgt in seinem Buch sehr genau die politischen Entscheidungsprozesse, die zu dem Desaster führten. Man schaudert, wie nahe das Reich dem Abgrund tatsächlich gekommen ist. Ein totaler Zusammenbruch, kriegerische Handlungen mit Frankreich, Separatstaaten, kommunistische und / oder rechtsradikale Umstürze – alles lag in Reichweite.

Rückblickend kann man leicht in die Versuchung geraten, zu glauben, dass das alles besser gewesen wäre, als das finstere Tal, das die Welt zwischen 1933 und 1945 durchschritten hat, doch würde es zu kurz greifen, der Katastrophe von 1923 zu attestieren, sie führte unausweichlich zu Hitlers Machtergreifung. Hitler hätte auch nach 1930 noch verhindert werden können, etwas wenn die Demokraten wehrhafter und Thälmanns Kommunisten nicht beinhart stalinhörig gewesen wären.

»Noch im Dezember 1923 hätte ein politischer Beobachter für den Bestand der Weimarer Republik keine fünf Rentenmark gegeben.«
Arthur Rosenberg.

Volker Ulrich: Deutschland 1923

Trotzdem war die Hinterlassenschaft von 1923 eine schwere Bürde für die Weimarer Republik ganz unabhängig von den massenpsychologischen Aspekten. Ein oft eher stiefmütterlich behandelter Aspekt ist, dass man sich in den Parteien der Mitte und SPD Illusionen hingab, die eine konstruktive, langfristige Politik verhinderten. Stattdessen wurden parteipolitische Spielchen gespielt, die 1924 prompt zu beträchtlichen Verlusten bei den Wahlen führten – und zu einem Erstarken der antidemokratischen Kräfte.

Der zweite, wichtige Punkt, den Volker Ulrich gern noch etwas prägnanter hätte nennen können, sind die Präzedenzfälle, die 1923 geschaffen wurden; die Reichsexekution gegen Sachsen und Thüringen etwa bildeten die Blaupause für den verheerenden Preußenschlag 1932. Wunderbar deutlich wird hingegen, wie verhängnisvoll die Stellung der Reichswehr, ihre angebliche Neutralität, die eine immense Rechtslastigkeit aufwies, war. Übertroffen wurde dieser Webfehler nur von der absurd rechtslastigen Justiz, die am Ende der Weimarer Republik nicht umsonst ein Hort der Hakenkreuzler war.

Ulrich widmet der Kunst, Literatur, Architektur und Technologie (Radio) auch einigen Raum, was ein wenig wirkt, als säßen diese Passagen im Notsitz des Buches. Es gibt natürlich Verbindungen zu dem politisch-wirtschaftlichen Geschehen des Jahres 1923,  auch sind die Entwicklungen wirklich spannend, doch fehlt ein wenig die innere Anbindung an den Rest des Buches. Doch das ist angesichts der großen Qualität von Deutschland 1923 zu verschmerzen, denn Volker Ulrich hat ein hervorragendes Buch über das Horrorjahr verfasst.

Volker Ulrich: Deutschland 1923
C.H. Beck 2022
Hardcover 441 Seiten
ISBN: 978-3-406-79103-1

Giuliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Mit großer Spannung habe ich diesen Roman erwartet. Eine großartige politische Erzählung in den Schatten hinter den Kulissen. Cover C.H. Beck. Bild mit Canva erstellt.

Wenn man an einem Lagerfeuer oder vor einem Feuerkorb sitzt, wärmen die Flammen von vorn, am Rücken fröstelt man. So ist es bei  mir gewesen, kaum dass ich in die Handlung des Romans Der Magier im Kreml von Giuliano da Empoli hineingezogen wurde. Ich wusste ja, was kommt. Grundsätzlich. So wird es jedem gehen, der die vergangenen 25 Jahre nicht mit fest verschlossenen Augen durchs Leben taumelte.

Der wunderbar politische Roman entfaltet sein Thema gemächlich vor den Augen des Lesers. Er erschafft das Profil einer Persönlichkeit, ihrer Herkunft und en passant die Entwicklung Russlands seit der Zarenzeit: Wadim Baranow, der Magier im Kreml oder – wie es Beresowski an einer Stelle formuliert: »Putins Rasputin«. Ein  Berater des Zaren, wie Putin genannt wird, ohne Fachressort, aber mit direktem Zugang zu ihm.

In Russland zählt nur das Privileg, die Nähe zur Macht.

Guliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Baranows Tätigkeit nahe dem Zentrum aller Macht in Russland liefert einen Reiz des Romans, die Hoffnung auf erhellende Blicke hinter die Kulissen. Glücklicherweise vermeidet der Autor effektheischende »Enthüllungen«; entäuscht wird, wer Action oder Handlungsspannung erwartet. Für jene, die sich seit 1998 den Entwicklungen in Russland nicht verschlossen haben, bietet das Buch ein immens spannendes und gleichfalls irritierend gruseliges Leseerlebnis.

Der Magier im Kreml ist eine Fiktion, aber eine klug arrangierte und informierte. Der Tonfall ist nüchtern, in einem überlegenen, von der Arroganz des Machtwissens umflorten Gestus vorgetragen. Baranow gibt vor, genau zu wissen, wie es läuft und gelaufen ist; er lässt seinen Zuhörer (und die Leser) daran teilhaben, eine fürstliche Gunstbezeugung. Er hat nach eigenem Bekunden wesentlichen Anteil daran, dass Russland heute so ist, wie es ist, er ist ein loyaler Zyniker der Macht, machiavellistisch und bigott.

Der Krieg in der Ukraine war wie alles andere auch. Ich hatte ihn bestimmt nicht gewollt. Ich hatte meine Ablehnung im Übrigen lautstark zum Ausdruck gebracht. Aber dann, als der Zar diesen Krieg beschlossen hatte, tat ich alles in meiner Macht Stehende, ihn zum Erfolg zu führen.

Guliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Da Empoli hat seinen Roman im Wesentlichen als Kaminzimmergespräch in Szene gesetzt, eine großartige Entscheidung, diese Form passt wie angegossen. Der Ich-Erzähler kommt über ein Posting in den Sozialen Medien zu einem sehr speziellen Roman aus den 1920erJahren in Kontakt mit Baranow und wird zu diesem eingeladen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn der ehemalige Kremlmagier ist zu einem Gespenst geworden, nach seinem Rücktritt, umwittert von Gerüchten und Vermutungen zu seinem Schicksal.

In dem Gespräch zwischen den beiden Männern verstummt der Ich-Erzähler mehr und mehr, er unterbricht Baranows Erzählfluss nur anfangs ab und zu durch eine Nachfrage. Manchmal spricht dieser seinen Gast direkt an, das wirkt, als wende er sich direkt an den Leser. In diesen Passagen bekommen der Westen und seine Protagonisten oft abfällige Bemerkungen zu lesen, eine tiefgreifende Verächtlichkeit und Abneigung gegen die vermeintliche Schwäche – sehr authentisch, denn die Echos dieses Weltbildes waren tatsächlich den vergangenen Jahren oft in Zeitungen zu lesen.

Baranow ist eine unangenehme Person. Eingebildet. Arrogant. Narzisstisch. Stolz. Selbstgefällig. Er vermittelt gegenüber seinem Gesprächspartner (und dem Leser) das Gefühl der Überlegenheit einer bedeutenden Persönlichkeit, die auf die anderen herabsieht wie auf durcheinanderwirbelnde Ameisen. Menschen sind  ihm im Grunde genommen völlig gleichgültig, insbesondere die Russen, denen er attestiert, sie bräuchten Härte, Führung, aber keine Demokratie.

Wer ein wenig in Geschichte bewandert ist, kennt derlei Aussagen auch über »die Deutschen«, etwa von den Reaktionären um 1848 und während des Kaiserreichs, den Völkischen und Nazis; man kennt es auch aus China und hier wie da ist es schlichtweg falsch. Aber nützlich, denn rund um den Erdball wird diese Verschlichtung allzu gern aufgegriffen, wenn andere Erklärungen zu kompliziert oder lästig geraten. So auch, wenn man den Aufbau einer Diktatur rechtfertigen will.

Die erste Regel der Macht lautete, auf Fehlern zu beharren, in der Mauer der Autorität nicht den kleinsten Riss zu zeigen.

Guliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Am Aufstieg Putins und der Errichtung einer Machtvertikale hat Baranow einen gehörigen Anteil. Er weiß darum, wie Dinge inszeniert werden, denn er stammt aus intellektuellen Theaterkreisen und hat im Fernsehgeschäft die wesentlichen Instrumente kennengelernt. Als Beresowski ihn kontaktiert und klar wird, worum es dem einst mächtigen Medienmogul geht, endet alles fröstelige Kaminfeuerbehagen und die Luft scheint zu vereisen.

Es ist wie beim Anschauen der herausragenden TV-Serie Chernobyl, wenn der unverzeihliche und verhängnisvolle Leichtsinn jene dramatische und schreckliche Entwicklung einleitet, der gewöhnlich als GAU bezeichnet wird. Da Empolis Roman erreicht diesen Punkt, wenn die Zauberlehrlinge á la Beresowski im Dunstkreis der Macht ihr Spiel spielen und wie Dr. Frankenstein ein Geschöpf in die Welt setzen, das nicht mehr zu kontrollieren ist. Und seine Schöpfer frisst. Der GAU ist hier ein politischer.

Das Reich des Zaren wurde aus dem Krieg geboren, und es war nur folgerichtig, dass es am Ende wieder zum Krieg zurückkehrte.

Guliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Je näher das Romanende kommt, desto deutlicher wird, wie gefestigt Weltbild und Macht des Zaren sind. An einer Stelle lässt da Empoli jemanden zu Wort kommen, der sich über einen Exit des Machthabenden auslässt – genauer gesagt: einen Bogen zur Mafia schlägt und die Meinung vertritt, in beiden Fällen sei ein Abgang unmöglich. Das aber hieße, nach allem, was vorher zu lesen war, dass mit Putin kein Frieden möglich wäre. Schöne Aussichten!

Da Empoli lässt seinen Roman in schauderhaft dystopischen Äußerungen münden, die inhaltlich  überraschend sind und dennoch in gewisser Hinsicht zu dem ganzen Vorangehenden sehr gut passen, obwohl sie über Putin hinausreichen. Die düstere Prophetie aus dem Munde Baranows hinterlässt ein Gefühl nachdenklichen Grauens, das den Leser noch einige Zeit begleitet, wenn er Der Magier im Kreml zugeschlagen hat.

Guiliano da Empoli: Der Magier im Kreml
aus dem Französischen von Michaela Meßner
C.H. Beck 2023
Hardcover 265 Seiten
ISBN 978-3-406-79993-8

Tony Hillerman: Tanzplatz der Toten

Wunderbarer Sarkasmus gehört dazu, wenn die Navajo-Police ihre Ermittlungen aufnimmt. Der Auftaktband war sehr überzeugend. Cover Unionsverlag, Bild mit Canva erstellt.

Warum? Warum? Warum? Polizisten, Detektive, Agenten – Ermittler aller Art sind immer auf der Jagd nach dem Motiv, dem Beweggrund für eine Tat, welcher Natur sie auch immer sein mag. Autoren von Romanen mit kriminalistischem Kern brauchen also eine Quelle, aus der sie Motive schöpfen können; Tatmotive für ihre Täter und Handlungsmotive für ihre Figuren.

Tony Hillermans Quelle für Tanzplatz der Toten ist die Mythologie der Zuñi, einer indianischen Gemeinschaft in den USA. Der Ermittler, Joe Leaphorn, gehört aber den Navajo an, wie schon der Klappentext informiert, hält er sich gewöhnlich aus den Angelegenheiten der Zuñi heraus. Im Handlungsverlauf klingt die Kluft zwischen beiden Gemeinschaften immer wieder an, es gibt eine überraschend klare Abgrenzung in „wir“ und „sie“.

Sollte sich die Zuñi-Fliege tatsächlich dazu herablassen, über die Hand eines Navajo zu spazieren?

Tony Hillerman: Tanzplatz der Toten

Es liegt einige Bitterkeit in diesen Worten, aber auch eine gehörige Portion Ironie. Leaphorn macht von ironischen Betrachtungen und Äußerungen dosiert Gebrauch. Dosiert beschreibt auch treffend die Figurengestaltung: Hillerman lässt bemerkenswert viel von seinem Charakter unerklärt, eine Reihe von Facetten der Persönlichkeit des Navajo kann der Leser aus seinen Worten und Handlungen erschließen.

Das ist eine sehr schöne Herangehensweise, denn so wird der Leser immer wieder überrascht, während sich das Bild von Lieutenant Joe Leaphorn weiter zusammensetzt. Da es sich um den Auftakt einer Buchreihe handelt, hat sich der Autor für die folgenden Bände jede Menge Spielraum für die Entwicklung dieser Romanfigur belassen, was sehr zu begrüßen ist.

Trotz des Trennenden sind die beiden Jungen George und Ernesto miteinander befreundet, ja, der Navajo George möchte gern Zuñi sein, von der einen in die andere Gemeinschaft wechseln. Das ist faktisch unmöglich und zugleich der Ausgangspunkt eines Dramas, an dessen Anfang das Verschwinden beider Jungen steht, und das immer weitere Kreise zieht.

Leaphorn ist durch die unterschiedliche Zugehörigkeit der Jungen gezwungen, bei seiner Ermittlung mit den den Kollegen der Zuñi zusammenzuarbeiten. Nolens, volens, versteht sich. Die Spurensuche entfaltet vor den Augen des Lesers viele interessante Details der Lebenswirklichkeit der indianischen Gemeinschaften, ohne je in anthropologischen Info-Dump zu verfallen.

In die Kultur der Navajo will ich die Leser und Leserinnen hineinziehen.

Tony Hillerman: Tanzplatz der Toten

Die Umstände sind allesamt eng mit der Auflösung des Falles verbunden, gleichgültig, ob es sich um soziale Faktoren wie Trunksucht, Armut, bürokratische Aspekte wie die Zuständigkeiten oder Grenzverläufe oder eben die Mythologie handelt. Zu den ganz besonderen Momenten gehört das Gespräch Leaphorns mit einem katholischen Geistlichen (ausgerechnet!) über die beiden Jungen und die Mythen der Zuñi – ein Schlüssel für die Handlungsmotivation von George.

Zuhören und Geduld sind zwei der wichtigsten Ermittlungsmethoden des Navajo-Polizisten, Leaphorn bringt oft durch aufmerksames Schweigen seine Gegenüber zum Reden. Außerdem ist er ein brillanter Spurenleser, ein Motiv, das clichéhaft in Western aller Art vorkommt und von Hillerman geschickt adaptiert, aufgewertet und in seine Geschichte eingeflochten wurde.

Dort hatte er sich umgedreht, sich niedergehockt, wie seine Fußabdrücke mit dem stärker belasteten Ballen verrieten, und hatte mit dem Gesicht zur Lichtung gewartet.

Tony Hillerman: Tanzplatz der Toten

Leaphorn ist in der Lage, Geschehnisse aus Spuren durch seine genaue Beobachtungsgabe zu rekonstruieren. Dabei greift er auch auf andere für den mitteleuropäisch sozialisierten Leser ungewöhnliche Kenntnisse zurück, etwa Aspekte der rituellen Jagd: Sie weisen ihn auf Abweichungen von der Norm hin, aus denen er bestimmte Rückschlüsse über das Verhalten des Jägers ziehen kann.

Das wirkt alles sehr authentisch und erhöht die Spannung immens. Dazu trägt auch bei, dass der Ermittler dem Pfad der Rationalität folgt, Unlogik ist ihm verhasst. Er extrahiert die wichtigen Fakten aus den zum Teil surreal wirkenden mythologisch geprägten Erzählungen, wodurch diese (wie auch die Ermittlungen) nicht zu esoterischem Gedöns verkommen. 

Er hatte plötzlich das Gefühl, von der Wirklichkeit ins Surreale zu wechseln.

Tony Hillerman: Tanzplatz der Toten

Die indianischen Gemeinschaften sind dabei nicht nur unter sich. Auch der »Weiße Mann« ist in der Gegend, in Gestalt von Forschern, die auf der Suche nach bahnbrechenden Erkenntnissen über den Folsom-Menschen graben, oder einer Schar Hippies, die Hippie-Dinge tun. Auch das FBI gibt sich die Ehre und wird – geradezu klassisch – mit einigem verächtlichen Spott überzogen.

Der in seinem Äußeren wie Denken fast geklont wirkende Agent O´Malley, „zackiger Haarschnitt, sauber gewaschen, geschniegelt und unbelastet von übermäßiger Intelligenz“, tappt bei seinem Auftreten zielsicher in einer Reihe von Fettnäpfchen, die von den Navajo und Zuñi einträchtig mit sarkastischen Kommentaren quittiert werden.

Mein Daddy hatte eben doch recht, sagte Pasquaanti. Trau keiner verdammten Rothaut, hat er immer gesagt.

Tony Hillerman: Tanzplatz der Toten

Pasquaanti vertritt die Zuñi-Police, er ist derjenige, mit dem Leaphorn im Fall der beiden vermissten Jungen kooperiert. Die aus vielen anderen Büchern und Filmen sattsam bekannte Zugeknöpftheit des FBI bekommt hier eine rassistische Note. Die Perspektive des Romans bringt umgekehrt einige – für mich sehr schöne und auch komische – Sichtweisen mit sich.

Das Auftreten des FBI ist keineswegs nur eine Art Gimmick. Es zeigt die Eskalation des Falles und der Ermittlungen, die Suche nach Vermissten wird zur Jagd nach einem Mörder und berührt ganz andere Bereiche, wie Drogenhandel. So zeitlos der Roman wirkt, an einigen Stellen schimmert durch, dass er Anfang der 1970er Jahre verfasst wurde. In Vietnam kämpfen die USA noch immer ihren verlorenen Krieg, ein Nebeneffekt ist der steigende Drogenkonsum.

Die indianischen Gemeinschaften leben nicht isoliert von der übrigen Welt, auch der Ermittler Leaphorn nicht. Ganz am Ende des Romans wird seine Neugier deutlich, die vorher schon mehrfach angedeutet wird. Der „Weiße Mann“ gehe an die Dinge völlig anders heran, als „wir Indianer“; so verabschiedet er sich aus dem Roman mit der Ankündigung, er wolle „noch mehr darüber herausfinden, was in den Weißen vor sich geht.“ Angesichts des verheißungsvollen Auftakts eine Einladung für die ausstehenden Teile, der ich gern Folge leisten werden.

Weitere Bücher der Reihe um die Navajo-Police:
Blinde Augen
Zeugen der Nacht
Dunkle Winde

[Rezensionsexemplar]

Tony Hillerman: Tanzplatz der Toten
aus dem Englischen von Helmut Eilers
Unionsverlag 2023
TB 224 Seiten
ISBN 978-3-293-20953-4

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

Vor 175 Jahren entfachte die Französische Februarrevolution auch in Deutschland eine revoultionäre Stimmung. Cover Kiepenheuer&Witsch, Bild mit Canva erstellt.

Wem die Sympathien des Autors gehören und auf wessen Seite er sich stellt, erschließt sich schon aus dem Titel Die Flamme der Freiheit. Letzte Zweifel räumt der Blick in die Würdigung aus, die den frühen Demokratinnen und Demokraten der Jahre 1848/49 gilt. Entsprechend ist dieses Buch gehalten, eine engagierte Streitschrift für die demokratischen, republikanischen und sozialen Bestrebungen im Gefolge der Februarrevolution in Frankreich 1848.

175 Jahre ist es nun her, dass in Paris innerhalb dreier Tage die Regierung des französischen Königs Louis-Philippe hinweggefegt und das Tor zu Freiheit aufgestoßen wurde. Mit auf den Barrikaden dabei sind deutsche Exilanten, denn Paris ist zu diesem Zeitpunkt die achtgrößte deutsche Stadt. Mehr als 60.000 leben dort, keineswegs nur politische Flüchtlinge á la Heine, sondern auch aus dem Nordhessischen stammende Straßenfeger.

Die Erzählung hebt dort an und endet nur wenige Wochen später, als alles östlich des Rheins in einem schauderhaften Gemetzel, einer ungeheuren Bedrückung endet, begleitet von brutalen Übergriffen gegenüber Unschuldigen und für schuldig Erklärten. Den Exildeutschen kommt in diesem Drama eine tragische Rolle zu, sie werden zum Gegenstand einer wüsten Propagandaschlacht reaktionärer Kräfte, über ihnen geht ein Sturzbach erfundener Vorwürfe und Verunglimpfungen nieder – ein bis in die Gegenwart probates Mittel, um Erhebungen aller Art zu desavouieren.

Die Feinde der Demokratie, gleich welcher Couleur, haben meist keine Probleme, skrupellos zu sein, jedes Mittel ist recht – wohingegen die Demokraten sich schwertun, ihre Feinde zu bekämpfen.

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

Jörg Bong widmet der medialen Dreckschleuder der so genannten Liberalen bzw. Ordnungspartei bzw. Konstitutionellen viel Raum, völlig zu recht, denn eine der Schwächen auf Seiten der Demokraten bestand darin, sich gegen die Lügenpropaganda nicht zu Wehr setzen zu können. Überhaupt ist Die Flamme der Freiheit für verträumte Revolutions-Schwärmer eine bedrückende Lektüre.

Denn skrupulöse Demokratie stößt hier auf brutalen, gut geführten, strategisch und taktisch sachverständigen Widerstand, den Bong gekonnt nachzeichnet. Selbstverständlich seitens der Fürsten, die – wie in Berlin – den Aufruhr auf brutalste Weise niederschießen lassen, Kreide fressen, zum Schein entgegenkommen und im Geheimen die Reaktion vorbereiten.

Schlimmer noch: Die Liberalen, die eine konstitutionelle Monarchie anstreben, von Sozialpolitik ebenso wenig wissen wollen wie von breiter Demokratie und Republik, geschweige denn Frauenrechten, erweisen sich als die schamlosesten Gegner der Demokraten. Lieber keine Freiheit als keine Ordnung, notfalls eine deutsche Einheit auch ohne Freiheit. Die Konstitutionellen wissen genau, was sie tun.

Das Vivat auf die Ordnung steht vor dem auf die Freiheit.

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

Sie werfen ihre Medienmaschine an, lassen sich mit Pöstchen abfinden und werden zum Büttel des überkommenen Systems aus Eigeninteresse. Sie fechten mit großem Geschick und einer bemerkenswerten Ruchlosigkeit, manövrieren die Demokraten nach Strich und Faden aus, bis das Momentum der Revolution verflogen ist. Bis zum bitteren Ende sind viele Meilensteine vorübergezogen, an denen hätte eine schärfere Gangart eingeschlagen werden können. Die Ausrufung der Republik begleitet von einem frühen bewaffneten Aufstand.

Hätte. Wäre. Schreckliche Worte, denn sie suggerieren oft Optionen, die nur vom Ende her besehen »besser« erscheinen. Für die von Skrupeln gebremsten Demokraten gab es gute Gründe für ihre Zurückhaltung. Die Französische Revolution watete durch Blut und mündete in einer Gewaltherrschaft, die Europa mit einem verheerenden Dauerkrieg überzog.

Umgekehrt wäre Louis-Phillippe ohne das Wissen um die potenzielle Gefahr, die von dem Umsturz für ihn persönlich ausging, nicht ohne Weiteres gewichen; hätten die deutschen Fürsten nicht solche Angst vor der Revolution gehabt. Im Wissen um das, was auf 1848/49 folgte, Bismarck, drei Kriege, Erster und Zweiter Weltkrieg, ehe endlich die Demokratie von den USA nach Deutschland gebracht wurde, ist es leicht, die Zögerlichkeit der Demokraten zu rügen.

Man hat die Revolution abermals vorbeiziehen lassen.

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

Die entscheidende Frage ist ohnehin eine ganz andere: Hätte es wirklich etwas geändert? Die Gegner wären auch dann skrupellos, klug, heimtückisch und im Besitz der militärischen Macht gewesen, insbesondere die Liberalen fehlten in den Reihen der Revolution. Die Demokratie-Gegner hatten auch noch Beistand von ganz Links, denn die Kommunisten waren ein dankbares Schreckgespenst, um die Demokraten als Aufrührer, Umstürzler, Gewalttäter zu brandmarken.

Vor allem aber stellt sich die Frage, ob Deutschland überhaupt bereit gewesen wäre, eine Revolution durchzuziehen. »Die Revolution begann systemkonform«, sie bediente sich vieler Petitionen, der Fokus ihrer Anführer liegt auf Ruhe und Ordnung. Man kann darüber spotten, doch das war auch ein – letztlich ungenügender – Versuch, den Gegnern den Wind aus den Propagandasegeln zu nehmen. Von den Gefahren wusste man auf Seiten der Republikaner ebenso wie von den revolutionären Abgründen.

Es wäre viel zu einfach, den Demokraten die alleinige Schuld zuzusprechen. Trotzdem ging ihnen auch die nötige Wehrhaftigkeit ab, um das Ziel zu erreichen. So folgt Rückschlag auf Rückschlag, Niederlage auf Niederlage, denn der Versuch, statt eines bewaffneten, allgemein revolutionären Aufstands einen ruhigeren, legitimierenden Weg einzuschlagen, spielte den Gegnern in die Karten. Als endlich zu den Waffen gegriffen wurde, war es zu spät, der April brachte ein dramatisches, tragisches Ende.

Das ist der Kern der demokratischen Ideen 1848/49: eine demokratische Bundesrepublik, eine verfassungsmäßige Herrschaft des Volkes.

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

Die Flamme der Freiheit ist ein sehr wichtiges und zeitgemäßes Buch. Es führt ein in die bedrückenden Umstände des von Metternich und Konsorten geprägten Europas, die sozialen Verwerfungen der anbrechenden industriellen Revolution und die vielen großartigen, hochmodernen Ideen, die bereits damals formuliert wurden.

Schön ist auch, dass Bong die Marginalisierung der ebenso engagierten wie klugen Frauen thematisiert und sie zu Wort kommen lässt, statt sie nur zu bedauern. Die hellsichtigen und klaren Äußerungen sind sehr interessant, zum Beispiel die entschiedene Ablehnung von Karl Marx’ Weltverbesserungsreligion durch Demokratinnen wie Emma Herwegh, was ihnen scharfe Anfeindungen des brausebärtigen Kommunisten einträgt.

Jörg Bong bezieht klar Position, stellt sich auf die Seite der Demokraten. Und er legt mit seinem Buch den Finger in jene Wunde, die bis in die Gegenwart schwärt, sich bereits in der kurzen Zeit der Weimarer Republik als verheerend erwiesen hat, auch im besonders schrecklichen Jahr 1923 und nach 1929, gleichermaßen in der von Putin und antidemokratischen Populisten geprägten Gegenwart:

»Eine reale Demokratie fußt auf wacher Wehrhaftigkeit und unbedingter Parteiname – mit klar begrenzter Toleranz für ihre Feinde.«

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit.
unter redaktioneller Mitarbeit von Simon Elson
Kiepenheuer&Witsch 2022
Gebunden 560 Seiten
ISBN: 978-3-462-00313-0

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