Schriftsteller - Buchblogger

Autor: Alexander Preuße (Seite 2 von 32)

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Ein rasanter, spannender, wendungsreicher Roman, unter dessen Oberfläche eine Menge mehr schlummert, wie das großartige Nachwort offenbart. Cover Elsinor-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Die Nacht der kranken Hunde von A.D.G. spielt in der französischen Provinz, die Hauptakteure glänzen nicht gerade durch urbane Weltläufigkeit, um es einmal zurückhaltend zu formulieren. Rückständig würden die Städter sie halten, klagt der Erzähler, wie rückständig sie tatsächlich sind, zeigt ausgerechnet jener Satz, der das Vor-Urteil entkräften soll: Man wisse, dass Hippies junge Leute seien, „mit Rauschgift, die ihre Frauen verleihen, ganz gleich an wen.“

Auf diese direkte Weise gelingt es dem Autor, die Personen zu charakterisieren, mit denen es der Leser auf den nächsten 170 Seiten vornehmlich zu tun bekommt. Die Dörfler sind eben nicht wie jene dickköpfigen, aber harmlosen Streithähne in jenem allbekannten gallischen Dorf, sie sind oft auf eine verletzend offene Weise boshaft, unanständig, schweinisch mit ihren schamlosen, sexualisierten Witzen und trinken zweifellos zu viel und zu oft Alkohol.

Zumindest während der erzählten Zeit verbringen sie sehr viel mehr Stunden in ihrer Stammkneipe als bei der Arbeit, von der bemerkenswert wenig die Rede ist. Ihre Ehefrauen sind kaum mehr als Heimchen, die durch die von Gardinen behüteten Fenster nach draußen spähen, wenn etwas geschieht; dennoch ihren Männern erlauben müssen, wenn sie trinken gehen wollen. Die Sozialstruktur ist auf eine deprimierende Weise erdrückend rückständig und ein dumpfer Gegenentwurf bürgerlicher Spießigkeit.

Eine Ärztin – wir wussten zwar, dass es so etwas gibt, hatten aber noch nie eine gesehen. Und wir waren überrascht, dass ein so schönes und so junges Mädchen Ärztin sein sollte. Um es genau zu sagen: Viel Vertrauen hatten wir nicht.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Der Autor hebt das negative Bild in gewisser Weise wieder auf, wenn die Dörfler auf die Hippies treffen, mit diesen über das Problem sprechen, das sie mit ihnen haben: Die langhaarigen Frauenverleiher haben sich auf einem Stück Land niedergelassen, ohne die Erlaubnis dafür eingeholt zu haben. Ausgerechnet auf einer Parzelle, deren Besitzrecht umstritten ist, was zu einem Leitmotiv der gesamten Handlung führt, denn einer der vorgeblichen Besitzer hat ein besonderes Interesse an diesem Flecken Erde.

Das Zusammentreffen der rückständigen Landeier und der Hippies nimmt einen völlig unerwarteten Verlauf, womit der Autor sein Händchen dafür beweist, den Leser mit seinen eigenen Vorurteilen in die Falle zu locken. Das Aufeinandertreffen verspricht geradezu ostentativ eine blutige, überschäumende Konfrontation mit tödlichem Ausgang, doch wird es nicht eingelöst, weil sich die Dörfler auf eine ziemlich schräge Weise auf die Hippies einlassen, mit ihnen am Feuer sitzen, trinken (Whiskey wie der Bürgermeister) und irgendwann sogar singen. Diese Steilvorlage lässt sich A.D.G. nicht entgehen, und wählt boshafterweise „We shall overcome“ – davon kann im weiteren Verlauf der Handlung wahrlich keine Rede sein.

Leute, die so trinken wie der Bürgermeister, waren vielleicht doch nicht völlig verworfen.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Ich fasse mich bewusst kurz, denn der Die Nacht der kranken Hunde ist ein rasant erzählter Roman, der auf erklärende, reflektierende Passagen verzichtet; stattdessen wird die Handlung vorangetrieben, die sich immer weiter zuspitzt und von einer ganzen Reihe heftiger Wendungen geprägt ist. Das vorwegzunehmen wäre gegenüber möglichen Lesern unfair, wenngleich der Roman durchaus zum mehrfachen Lesen einlädt, denn wie viele Noir-Krimis enthält auch dieser unter seiner Oberfläche sehr viel mehr.

Dieser ersten Wendung folgen noch etliche weitere, blutige, denn der Tod einer Dorfbewohnerin ruft weitere Parteien auf den Plan, die ebenso unredliche wie ungesetzliche Absichten verfolgen. Die Gegensätze  verlaufen dabei nicht so, wie es die Gruppenzugehörigkeit vermuten ließe. Das einsetzende Verwirrspiel wird durch die unklaren Fronten und Interessen noch verschärft, natürlich mischt auch die Polizei noch mit, die jedoch vom Autor nicht gerade als elitäre Heldentruppe vergeführt wird.

Tatsächlich spürt der Leser mit dem Auftreten der Uniformierten und den Reaktionen der Dorfbewohner ein beträchtliches Maß an Anarchie, mit dem diese Geschichte unterlegt ist und die sich im Erzähltempo und -duktus niederschlägt. Die Polizisten sind nicht die hellsten Leuchten und lassen sich von den Einheimischen mit hanebüchenen (Fehl-) Informationen aufs Glatteis führen und von den eigenen Absichten ablenken.

Die Männer des Dorfes wollen die Angelegenheit selbst regeln, ein nahezu klassisches Motiv auch aus anderen Genres, etwa dem Western, wo das Misstrauen und die Missbilligung gegenüber dem Staat und seinen Institutionen auf gleiche Weise transportiert wird. Die Herren des Ortes verfügen über Waffen, einige entstammen noch den heroischen Zeiten der Résistance, die auch gleich als Begründung für das eigenmächtige Handeln herhalten darf. Der Autor treibt dieses Spiel bis an den Rand einer Groteske

Obwohl schon Frühling war, würden wir bestimmt Feuer im Kamin anzünden. Um die hässlichen Bilder zu verscheuchen.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Die Erzählform trägt zu Befremdung ihren Teil bei. Lange bleibt unklar, um wen es sich beim Erzähler handelt, ja, ob es überhaupt einen gibt. „Wir“ wird gleich am Anfang des zweiten Absatzes als Erzählhaltung eingeführt, da es sich nicht um die Gollum-Version („Wir sind immer allein“) handelt, könnte es auch eine Art kollektives Bewusstsein sein, das spricht. Auch das nutzt A.D.G. zu einem fulminanten Twist gegen Ende des Romans, der den Leser nach all den ohnehin haarsträubenden Wendungen noch einmal verblüfft blinzeln lässt.

Wie bei allen Teilen der ganz wunderbaren Reihe um Klassiker der Spannungsliteratur beim Elsinor-Verlag rundet ein ganz großartiges Nachwort von Martin Compart den Band ab. Bei der Lektüre wird deutlich, dass unter der sehr handlungslastigen Erzählung eine ganze Menge Mehr-Sinn schlummert, denn es handelt sich bei Die Nacht der kranken Hunde um einen besonderen Noir-Roman.

Der natürliche Lebensraum des Noir-Personals ist das urbane Milieu, A.D.G. versetzt seine Protagonisten aufs Land. Ein Country-Noir also, über den Compart eine Menge zu erzählen weiß. So viel und so gut, dass man diesen sehr unterhaltsamen Roman gleich nochmals lesen will oder eben einen aus der Feder eines der andere Autoren, die im Nachwort genannt werden.
[Rezensionsexemplar]

Ebenfalls in der Reihe erschienen & besprochen:
Fearing, Kenneth: Die große Uhr.
Buchan, John: Der Übermensch.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde
Elsinor Verlag 2023
TB 194 Seiten
ISBN 978-3-942788-73-1

Tobias Rüther: Herrndorf

Trotz des tragischen Schicksals, das den Autor ereilte, lacht man oft und laut bei der Lektüre dieser sehr gelungenen Biographie, dank Herrndorfs bissigem Witz. Cover Rowohlt, Bild mit Canva erstellt.

Der Komet kommt, man weiß es von Anbeginn an; trotzdem breiten sich nach seinem Einschlag Schockwellen aus, durch Buch und Leser; ein Echo bloß jener Erschütterung, die Wolfgang Herrndorf angesichts seiner Diagnose erfasst haben muss. Bestürzend der Gedanke, dass es vielleicht dieses fürchterlichen Schicksalsschlages bedurfte, um Tschick und Sand und Arbeit und Struktur und Bilder deiner großen Liebe überhaupt zu schreiben.

Vorher, über viele Jahre hinweg, die irgendwie ins Ungefähre verliefen, waren es sehr wenige, wenn auch aus meiner Sicht sehr lesenswerte Bücher: In Plüschgewittern etwa, das in vielerlei Hinsicht typisch für Herrndorf ist; aber auch Diesseits des Van-Allen-Gürtels und Die Rosenbaum-Doktrin. Aber als Herrndorf die Diagnose erhalten hat und nach Hause geht, fasst er Entschlüsse, darunter den fundamentalen, zunächst seinen Jugendroman zu vollenden, der – bittere Ironie – zu einem durchschlagenden Erfolg auf dem Buchmarkt werden sollte.

Selbstverständlich ist das nicht, wenn man gerade erfahren hat, dass sich in seinem Kopf eine unheilbare, tödliche Krankheit eingenistet hat; ebensowenig selbstverständlich, dass es mit dem Schreiben wirklich geklappt hat; wie fragil die Situation in den ersten Tagen nach der Diagnose gewesen ist, schildert auch Daniel Rüther in Herrndorf auf beklemmende Weise; die entsprechenden Passagen in Arbeit und Struktur sind für mich bei der Lektüre kaum erträglich und zugleich von atemberaubender Intensität gewesen. Diese Seiten »ziehen einem den Stecker«.

Die Arbeit, sagt Carola Wimmer, »war der Abwehrzauber gegen die Todesangst«

Tobias Rüther: Herrndorf

Doch alles wäre nichts gewesen, hätte Wolfgang Herrndorf nicht jene Kraft aufgebracht, sich erfolgreich gegen die Todesangst zu wehren. Man sollte diese Teile des Buches mit weichen Augen lesen, um zu verstehen, was dem Autor in dieser fürchterlichen Situation gelungen ist: in größter Todesnot einen Roman wie Tschick zu schreiben, leicht, lebensbejahend, gut lesbar.

Und danach Sand, mein Lieblingsroman von Herrndorf, überhaupt einer der besten Romane, die ich gelesen habe. Natürlich waren die Zeitgenossen verblüfft über die tiefe Kluft, die sich zwischen dem Jugend- und Wüstenroman auftut. Beide flossen aus einer Feder und gehören doch ganz verschiedenen Welten an; leicht lesbar sind beide, fesselnd auch, doch ist Sand auf seine kompromisslose Weise für den Leser ein Marsch durch einen Dornwald.

Wie unterschiedlich man den Roman lesen kann, zeigt Rüther anhand von einigen Beispielen auf; hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, die sehr spezielle, komplizierte Erzählstruktur, die verwundene Rätselshaftigkeit und das Versteckspiel des Textes, in den Herrndorf Fäden aus dem Nichts in die Handlung eingewirkt hat, um diese lose flatternd zurückzulassen, erlauben vielfältige Zugänge. 

Aber was nützen schon Pläne: Was der Mensch wird in der Welt – das ist eine Erkenntnis, die Herrndorf wieder und wieder wiederholt, auch später – , das wird er sowieso nicht dank seiner Planung oder seines Willens.

Tobias Rüther: Herrndorf

Der Weg zu dem Kometen-Moment ist verblüffend. Herrndorf war als Kind erkennbar hochbegabt, vielfältig talentiert hat er sich der Malerei zugewandt und das Fach nach Abitur und Zivildienst in Nürnberg studiert. In der dortigen Atmosphäre hat er Schiffbruch erlitten, sein Stil hatte für die gewöhnlichen Studenten und Lehrkräfte etwas Anachronistisches, sein Auftreten galt machem als (zu) wenig »künstlerisch«.

Mit seiner Professorin liegt er über Kreuz und doch schafft es Herrndorf nicht, sich zu lösen; ein Wesensmerkmal, das sich auch auf anderen Feldern wiederfindet, etwa der nicht enden wollenden, unerfüllten und schmerzhaften Liebe zu einer Mitschülerin, die auch Jahre nach dem Abitur nicht erlischt und in Herrndorfs Kunst Spuren hinterlässt. Umgekehrt verweigert sich Herrndorf beharrlich dem gewöhnlichen Gang der Dinge, etwa Ausstellungen seiner Bilder; dieses Muster durchbricht er bei seiner Schreiberei glücklicherweise.

Pläne sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind. Nach dem bitter erkämpften Abschluss stößt Herrndorfs Arbeit plötzlich auf begeisterte Zustimmung, er illustriert, karikiert für Titanic und Eulenspiegel und gestaltet Umschläge von Büchern, kreiert brillante Bilder für einen Kalender zu Helmut Kohl und schafft Illustrationen für ein Buch über den ewig phrasendreschenden Fußballmoderator Heribert Fassbender.

Malen ist für mich, wie Zahnarzt ohne Betäubung. Ich KANN das nicht mehr.

Tobias Rüther: Herrndorf

Irgendwann lässt Wolfang Herrndorf das Malen sein. Warum er das so lange betrieben hat, obwohl das Zitat eine tiefgreifender Abneigung gegen diese Tätigkeit offenbart, bleibt letztlich rätselhaft; immerhin ist es ein Muster, es fällt ihm schwer, Dinge aufzugeben; wie bitter das später gewesen sein muss, wenn er krankheitsbedingt Dinge aufgeben muss, etwa nicht mehr Fußball- oder Eishockeyspielen kann.

Zu den vielfältigen Facetten des Lebens von Wolfgang Herrndorf gehört seine Tätigkeit als Schöffe und seine kurze Zugehörigkeit zur Autorennationalmannschaft, vor allem aber sein Daueraufenthalt im Internet – noch vor Facebook, Twitter und Instagram. Ein Forum bzw. auserlesenes Unterforum ist seine Welt, bis zum Ende; Arbeit und Struktur war dementsprechend zunächst auch kein Buchprojekt, sondern ein – leicht zeitversetztes – Echtzeit-Tagebuch im Netz.

Trotz des tragischen Schicksals, des Kometen, ist die Biographie von Tobias Rüther keine Trauerveranstaltung, dafür sorgen schon die vielen Zitate aus dem Werk Herrndorfs. Man lacht. Oft. Laut. Herrndorf hatte ein Händchen für Witz, nicht nur bei seinen Beiträgen für einschlägige Magazine, Kalender und Bücher, sondern auch in E-Mails und Forumsbeiträgen. Jene zweieinhalb Seiten »Arbeitstitel« für seinen Wüstenroman etwa, sortiert nach Kategorien: »Supermarktkassenbestseller«, »Hochkultur« oder »Seventies«, sind teilweise unglaublich komisch.

Es gehört zu den großen Stärken der Biographie, die solitäre Leistung Herrndorfs ohne falsche Bescheidenheit und in einer dem Autor zugewandten Weise, aber nüchtern herauszustellen; dazu gehört auch, die gekünstelt-mäkelige Bedenkenträgerei von Denis Scheck  bzw. effektheischend-aasige Bimmelei Juli Zehs nicht zu verschweigen. Selbstverständlich hat Herrndorf alle Preise verdient, denn man kann wie Rüther die Meinung vertreten: Herrndorf war »der größte deutschsprachige Schriftsteller seiner Generation.«

[Rezensionsexemplar]

Tobias Rüther: Herrndorf
Rowohlt Berlin 2023
Gebunden 384 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0082-3

Dimitri Kapitelman: Eine Formalie in Kiew

Ein kurzer Roman über die Abgründe von Migration und Famile. Cover dtv, Bild mit Canva erstellt.

Von einem, der auszog, ein Deutscher zu werden – und dazu dank teutonischer Bürokratie nach Kyjiw reisen muss, um eine Formalie zu erledigen. Unnötig zu erwähnen, dass es nicht bei der Formalie bleibt, ebenso unnötig zu erwähnen, dass es nicht bei dem einen sprichwörtlichen Klischee bleibt. Erfreulicherweise hat Autor Dimitrji Kapitelman eine ganze Reihe von Sprachneuschöpfungen ins literarische Feld geführt, um sich diesen Klischees angemessen anzunehmen und ihnen Leben einzuhauchen.

Der Leser folgt dem Ich-Erzähler in die Abgründe einer Migrations– und Familiengeschichte. Beide Motivkreise sind eng miteinander verwoben, beide sind fern jeglicher Verklärung und rührseliger Aufhübschung. Von einem Land ins andere überzusiedeln ist (über-)fordernder Kraftakt; Kapitelman spitzt das zu, in dem er sagt, die Katze habe sich am schnellsten in Deutschland integriert. Die Eltern des Erzählers fremdeln, übertünchen die Fremdheit mit Verklärung ihrer eigenen Herkunft.

Das ist ein Motiv, das aus anderen Migrations-Romanen bekannt ist. Nino Haratischwili etwa hat in ihrem Roman Die Katze und der General dieses Thema gekonnt auf den Punkt gebracht. Es lohnt sich für den Leser, auf die Zwischentöne zu hören – wer Migration verstehen will, kommt hier auf seine Kosten. Es ist kompliziert, einfache »Lösungen« sind und bleiben populistische Phrasendrescherei.

In der Ukraine erlebt der reisende Erzähler eine Reihe von Überraschungen, die hier nicht vorweggenommen werden. Der Krieg im Osten des Landes, in Deutschland und weiten Teilen Westeuropas lange Jahre als »Krise« verharmlost und vergessen, wetterleuchtet immer mal wieder am Erzählhorizont, Putins Angriffs- und Vernichtungskrieg ist noch fern. Angesichts dessen, was Kapitelman erzählt, ist man schon verblüfft, wie widerstandsfähig sich die Ukraine erwiesen hat. 

Auf den ersten Blick jedenfalls, denn Zwischentöne und Beiläufigkeiten lassen bereits erahnen, wie blind die Annahme gewesen ist, die Ukraine würde sich nicht wehren (können). Bei allen Missständen hat sich das Land, haben sich seine Menschen zu einer Zivilgesellschaft entwickelt, auch wenn sowjetische »Stillstandsarchitektur« und vieles andere Überkommene noch präsent sind. 

Dimitri Kapitelman: Eine Formalie in Kiew
dtv 2023
Taschenbuch 176 Seiten
ISBN 978-3-423-14842-9

Lesemonat August 2023

Elf Bücher im Lesemonat August, thematisch, zeitlich und in ihrer Form sehr breit gestreut. Tagebücher und Augenzeugenberichte bilden einen Schwerpunkt, damit befasse ich mich in einem kurzen Beitrag. Cover beim jeweiligen Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Starke Frauen können scheitern. Larissa Reissner war eine starke Frau, die auf tragische Weise gescheitert und früh gestorben ist. Steffen Kopetzky hat ihr in seinem Roman Damenopfer ein literarisches Denkmal der Extraklasse gesetzt, sein Buch ist eine ebenso mutige wie gelungene und dem Sujet angemessene Umsetzung der Idee, sich Leben und Sterben der außergewöhnlichen Frau zu widmen. Großartig ist die Sprache, bildstark und bei aller Tragik ironisch und voller Komik, was der Schwergewichts-Lektüre eine wohltuende Leichtigkeit verleiht. Ein heißer Kandidat für mein »Buch des Jahres«.

„Wie fängt so etwas an?“, heißt es an einer Stelle im Buch. „So etwas“ meint das Bild Konzert von Heinrich Vogeler, das berühmteste aus der so genannten Künstler-Kolonie Worpswede. Die Antwort gibt der Roman Konzert ohne Dichter von Klaus Modick, der kunstvoll die Ereignisse nachzeichnet, die letztlich in diesem Bild mündeten. Als passionierter Kunstbanause lese ich Künstlerromane mit großem Genuss und – dank Internet – immer auch einem Seitenblick auf die Bilder.

Große Themen greift der Kriminalroman Das neunte Gemälde von Andreas Storm auf: Kunstraub durch die Nationalsozialisten, unrechtmäßiger Handel mit geraubter Kunst, Unterwanderung der westdeutschen Sicherheitsorgane durch ehemalige Angehörige der SS. Jedes für sich ist  interessant, die Verstrickung im Rahmen eines vielschichtigen Kriminalfalls ein spannender, allerdings geraten das Erzählen und die Personen des Romans ein wenig zu „glatt“, flüchtig und hastig. Am Ende bleibt das Gefühl, dass durch Weniger hätte Mehr werden können.

Noch immer tobt der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Im August habe ich mehrere Bücher über das Thema beendet und teilweise besprochen. Wie in meinem  Lesemonat Juli ausführlich erläutert, dient derartige Lektüre dem Informieren, der Orientierung, dem Bedürfnis nach Begreifen und dem Abstand von der kurzatmigen Tagesberichterstattung. Bücher sind in diesem Sinne unersetzlich, denn sie eröffnen Perspektiven: die eines deutschen Freiwilligen auf Seiten der Ukrainer (Schützenhilfe von Jonas Kratzenberg), eines russischen Luftsturmsoldaten (ZOV von Pawel Filatjew), dem Kriegstagebuch eines in Charkiw lebenden Zivilisten (Feuerpanorama von Sergej Gerassimov) und die einer kurzen, aber umfassenden Darstellung des Krieges und seiner Ursachen (Der Krieg gegen die Ukraine von Gewndolyn Sasse).

Ganz passend dazu sind die Tagebücher Hermann Stresaus, die unter dem Titel Als lebe man nur unter Vorbehalt veröffentlicht wurden. Es ist frappierend, wie hellsichtig der Autor gewesen ist; dabei stand ihm nur die propagandadurchseuchte Presse bzw. das Radio zur Verfügung. Der Schlüssel liegt im Nachdenken. Seine Aufzeichnungen sind auch ein Kontrapunkt zu dem langen, bis heute hörbaren Echo der NS-Propaganda, er schildert, wie der Krieg in den Alltag drängt, ihn trotz aller kleinen Fluchten beherrscht.

Wovon Stresau nichts wusste und wir heute nur durch eine Indiskretion eines Teilnehmers wissen, ist Thema einer Graphic Novel: die Wannsee-Konferenz. Anfang 1942 hat diese stattgefunden, beschlossen wurde nicht weniger als der Tod von bis zu elf Millionen Menschen. Ein bürokratischer Akt des Grauens, in seiner Art singulär. Die Graphic Novel von Fabrice le Hénanff setzt das düstere Thema auch künstlerisch sehr gelungen um.

In der Philosophie bin ich nur Zaungast. Für mich ist das Buch Hegels Welt perfekt geeignet, um mein Wissen zu vermehren und mich an und über meine Grenzen des Verständnisses hinauszuführen. Ich habe eine Menge Eindrücke über Hegels Leben und Wirken erhalten, die Zeit, in der er lebte, was spannend genug. Seine Weltsichten werden in Jürgen Kaubes Sachbuch auch vorgestellt, hier konnte ich nicht überall folgen. Das hat den Lesegenuss jedoch keineswegs getrübt.

Die geheime Geschichte ist meine zweite Begegnung mit einem Werk der amerikanischen Schriftstellerin Donna Tartt. Kurz: Ihr Distelfink gefällt mir besser. Die geheime Geschichte ist ein ausschweifender Roman im College-Milieu der US-Ostküste. Eine kleine, fast geschlossene Gruppe von Studenten des Faches Altgriechisch begeht einen Mord – das ist kein Spoiler, denn das erfährt der Leser ganz früh. Dank der ausgeklügelten Handlungsstruktur kommt eine Menge Spannung auf, man hat stets das Gefühl, gleich passiere noch etwas, während die Erzählung durch das Dasein des Protagonisten streift. Aber: zu ausschweifend erzählt.

Bloggestöber

Für mich völlig überraschend und in der noch recht kurzen Bloghistorie einmalig ist das Interesse an meiner kurzen Buchbesprechung von Feuerpanorama, mit dem der Schriftsteller Sergej Gerassimov die ersten Monate des russländischen Angriffskrieges gegen die Ukraine schildert. Bislang sind die Bücher um die Ukraine auf eher verhaltenes Interesse gestoßen, Kriege ermüden auch jene, die in der Ferne bloß zuschauen und nur mittelbar betroffen sind. Umso mehr freut mich das Interesse an diesem Buch.

Ein historischer Roman, der sich nicht nur einem hochspannende Thema auf komplexe Weise nähert und noch eine Utopie und ihr Scheitern schildert, ist Der Sklavenkrieg von Arthur Koestler, dessen Besprechung auf reges Interesse gestoßen ist. Das gilt auch für mein »Sachbuch des Jahres«, das epische, epochemachende Die wahre Geschichte der Wikinger von Neil Price, dessen ausführliche Vorstellung zum Glück viele Leser gefunden hat.

Neues gibt es auch auf meiner Blogseite Piratenbrüder: Das Cover des vierten Bandes Vinland kann jetzt betrachtet werden, außerdem habe ich den Klappentext veröffentlicht. Der vierte Teil der Buchreihe hat zwei Zeitebenen, von denen eine in der Wikingerzeit spielt. Das Buch erscheint Ende 2023 / Anfang 2024. Mittlerweile ist auch das eBook des ersten Teils Eine neue Welt erhältlich, Band zwei Chatou erscheint in wenigen Tagen.

Augenzeugentagebücher & -berichte

In diesem Moment bin ich von der Lektüre eines fürchterlich guten Buches aufgestanden und an den Schreibtisch getreten, um mich einem wichtigen und sehr aktuellen Thema zu widmen: (Kriegs-)Tagebüchern und Augenzeugenberichten. Das Buch, von dem ich spreche, stammt von Hermann Stresau, der von 1933 bis 1945 Tagebuch geführt hat. Das Thema betrifft aber auch jene schriftlichen Erzeugnisse, die aus der von Russland mit Krieg überzogenen Ukraine stammen. Einige davon habe ich bereits auf meinem Blog besprochen.

Auf eine erschreckende Weise überschneiden sich beide Themen. Damals wie heute liest man die gleichen Ortsnamen, Kyjiw, Charkiw, Krim, Cherson, damals wie heute ist die Ukraine Schauplatz eines brutalen Überfalls, damals wie heute ist das Ziel des Angreifers die totale Auslöschung, damals wie heute hören wir von Folter, Erschießungen, Deportationen und Kriegsverbrechen.

Bei allem Gleichen sollen auch Unterschiede genannt werden: Damals griff die deutsche Wehrmacht an, heute Russland, damals verteidigte sich ein brutales Diktatorenregime unter Stalins Knute, heute eine westlich orientierte Demokratie, damals wurden schon in den ersten 500 Tagen hunderttausende Zivilisten von deutschen Einsatzgruppen erschossen, diese Dimension zumindest ist heute geringer. Bis jetzt, denn die Drohung, Atomwaffen einzusetzen, beinhaltet durchaus die Möglichkeit einer massenhaften, gezielten Tötung von Zivilpersonen.

Tagebuchschreiber sind Augen- und Ohrenzeugen und gleichzeitig zwangsläufig »blind«. Man sieht es im Falle historischer Tagebücher, wie Stresaus Als lebe man nur unter Vorbehalt, wie sehr die Gedanken, Annahmen und Schlüsse fehlgehen. Auch ein atemberaubend hellsichtiger Mensch wie Hermann Stresau, der sich von den Propagandastürmen des NS-Regimes und militärischen Siegen nicht hat mitreißen lassen, irrte bisweilen.

So geht es auch jenen, die seit dem Februar 2022 Zeugnis ablegen und schildern, was sie erleben und wie sie das Erlebte wahrnehmen. Das ist immer lohnenswert, denn es liefert einen – trotz allem immer auch gefilterten – Blick auf die Dinge. Das ist wichtig zu wissen. Stresau wusste zum Beispiel sehr früh von dem, was mit den Juden geschah; nicht im Detail, nichts von den Vernichtungslagern, aber vom Stern (für den er verächtlichen Sarkasmus übrig hatte), den Deportationen der Juden und Massenerschießungen hinter der Ost-Front.

Ein Widerständler ist er dadurch nicht geworden, zumindest ist davon nichts in seinen Tagebüchern zu lesen. Davon kann man halten, was man will, aber so tritt uns der Augen- und Ohrenzeuge Stresau entgegen. Und so treten uns die Autoren von (Kriegs-)Tagebüchern aus der Ukraine entgegen; es geht dabei aus meiner Sicht nicht um Wahrheit oder Lüge, um Heldenmut oder Feigheit und andere reichlich unangemessene Kategorien. Als Leser bin ich kein Richter, sondern vor allem neugierig auf die Darstellung einer Erlebenswelt, historisch oder gegenwärtig.

Die Frage nach der Wahrhaftigkeit stellt sich natürlich. Stimmt es, dass der russische Soldat keine Kriegsverbrechen gesehen hat? Wie viel Wahrheit steckt in der Beobachtung von Schlägen, die russländische Kriegsgefangene einstecken musste? Wichtiger noch: Wie schwer wiegt das angesichts der russländischen Kriegsverbrechen? Kann man wirklich so gelassen Tagebuch führen, während die Heimatstadt unter schwerem Feuer liegt? Aus der zeitlichen und räumlichen Ferne bleibt mir wenig mehr, als das zunächst einmal so hinzunehmen und abzuspeichern, abzugleichen. Die Zeit für Antworten kommt später, jetzt ist die Zeit der Eindrücke.

*Rezensionsexemplar

Jürgen Kaube: Hegels Welt

Ein perfektes Buch für einen Zaungast der Philosophie. Cover Rowohlt, Bild mit Canva erstellt.

In der Philosophie bin ich nur Zaungast. Für mich ist das Buch Hegels Welt von Jürgen Kaube perfekt geeignet, um mich an und über meine Grenzen des Verständnisses hinauszuführen, gleichzeitig einen umfassenden Einblick in Zeit und Welt des Gelehrten zu erhalten. 

Hegel lebte in einer Zeit tiefgreifender Umwälzungen. Die Aufklärung sorgte für beträchtliche Unruhe, ehe die Französische Revolution ganz Europa in Aufruhr versetzte. Hegel hat das nicht vor Ort in Frankreich, wie manch anderer flammender Geist, sondern aus der Ferne verfolgt. Ebenfalls die Entartung dieser Revolution zum jakobinischen Terror und ihre Häutungen hin zur Alleinherrschaft Napoleon Bonapartes.

Dessen Kriegszüge führten auch nach Deutschland, mitten hinein in Hegels Welt, der realen wie gedanklichen. Davon erfährt man viel, auch welchen Einfluss beides auf den Denker und seine Anhänger und Gegnerausübte; aber auch hier gilt, was eingangs bereits gesagt wurde: Ich bin bei den ausführlich geschilderten philosophischen Gedankengängen an meine Verstehensgrenzen gestoßen.

Besonders interessant war für mich der berufliche und private Weg Hegels. Das akademische Leben zu dieser Zeit unterschied sich dramatisch von dem der Gegenwart, daher sind die Ähnlichkeiten bemerkenswert, etwa wie sich erste Netzwerke bildeten, die zur gegenseitigen Unterstützung fungierten. Bis er einen bezahlten Posten zu erhielt, musste Hegel als Hauslehrer und Schulmeister arbeiten, als Leser erhält man auf diesem Wege erhellende Einblicke in die Lebensumstände dieser Zeit.

Wirklich überrascht hat mich, wie Hegel über Schule nachgedacht hat. Sein Ansatz und der seiner Gegner stehen sich bis in die Gegenwart gegenüber, zumindest im Grundsätzlichen. Autor Jürgen Kaube schildert ausführlich, wie Hegel sich schulisches Lernen vorstellt – man kann das auf die Gegenwart übertragen und zum Beispiel anhand der Frage, ob Latein oder lieber Informatik bzw. Wirtschaft Schulfach sein sollte, durchdeklinieren.

Ein tiefer Schatten liegt über Hegels Sicht von und Handeln gegenüber Frauen, insbesondere seiner Schwester. Schaudernd möchte man sich angesichts des Unheils abwenden, dem diese – auch dank ihres gedankenlos agierenden Bruders – ausgesetzt war. Das aber gehört genauso zu „Hegels Welt“ wie jene Gedanken und Werke sowie das akademische Wirken des Philosophen und findet zum Glück angemessene Beachtung in diesem vorzüglichen Sachbuch.

Jürgen Kaube: Hegels Welt
Rowohlt Berlin 2020
Gebunden 592 Seiten
ISBN: 978-3-87134-805-1

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