Schriftsteller - Buchblogger

Kategorie: Buchvorstellung (Seite 1 von 17)

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Ein großer Roman aus Slowenien, hervorragend erzählt. Cover Zsolnay-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Das große Elend. So nennt es die Mutter des Protagonisten Danijel, wenn in der heimischen Küche Zusammenkünfte des Ehegatten mit anderen ehemaligen »Teilnehmern am Volksbefreiungskampf«, also Partisanen, abgleiten. Es wird gesoffen, gesungen, gestritten, gebrüllt, Alkohol verschüttet und ab und zu landet ein Glas an der Wand, ehe man sich wieder versöhnt.

Manchmal muss Danijel mitten in der Nacht aufstehen und das Gegröle musikalisch untermalen. Seine Mutter verlässt daher mit ihm oft vorsorglich das Haus und schlüpft an solchen Abenden bei Verwandten unter, um dem großen »Elend« zu entgehen. Ist das nicht möglich, sitzen Mutter und Sohn in ihren Zimmern und hoffen, dass es beim gewöhnlichen »Elend« bleibt.

Allein das Wort »Elend« wird zu einem Abgrund, denn Drago Jančar entzieht auf diese schlichte Weise dem Nachkriegsdasein ehemaliger Widerständler alles Heroische. Der Vater von Danijel hat Gestapohaft und Lagerhaft überlebt, doch was bleibt davon? Der Held führt sich in der jugoslawischen Gegenwart in einer Weise auf, die Ekel und Fremdscham heraufbeschwören, er nimmt sich Freiheiten in einer noch immer begrenzt freien Gesellschaft.

Die Hilflosigkeit des Einzelnen, dem Schatten entgegenzutreten, den der Zweite-Weltkrieg auf die Gegenwart der späten 1950er Jahre in Slowenien wirft, sowie die Flucht in phrasenhafte Großsprecherei und Alkohol, ist ein Marsch in die persönliche Selbstzerstörung. Politisch, gesellschaftlich hält sich der Fortschritt in Grenzen, ja, es gibt sogar Parallelen der Gegenwart zur Nazi-Zeit. Der Ledermantel markiert die Grenze der Verbesserungen, eine Geheimpolizei brauchten beide Regimes.

Wenn du einen dieser Typen im langen Ledermantel siehst, weißt du, der ist von der Gestapo, auch wenn er in Zivil ist. Du machst einen großen Bogen um ihn, damit er dich nicht irgendwas fragt. Aber auch heute gehen welche in Ledermänteln herum, das sind die von der Ozna, mit denen hast du besser auch nichts zu tun.

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Das Zitat zeigt schön, wie Jančar Ereignisse, Personen, Zusammenhänge einander gegenüberstellt und weder kommentierend noch belehrend für sich selbst sprechen lässt. Dabei hilft ihm die Perspektive Danijels, der aus einer naiven, manchmal altklugen Sicht erzählt; ein bekanntes, wirkungsmächtiges Vorgehen, in diesem Falle angereichert mit einigen originellen Stilmitteln.

Das »große Elend« eskaliert eines Abends, als ein Teilnehmer der Zusammenkunft die sowjetische Nationalhymne anstimmt. In (»Marschall«) Titos Jugoslawien war man auf Distanz und eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der UdSSR bedacht. Danijels Vater, vom Schlaganfall getroffen und beeinträchtigt, schwankt ins Schlafzimmer und holt eine Pistole (alle Ehemaligen haben noch ihre Waffen). Er feuert sie ab, wie um einen Eindringling zu vertreiben. Die Kugel fährt in die Decke.

Der Schuss bleibt nicht folgenlos, die Miliz kommt und nimmt die Waffe mit. Danijels Vater ist empört, man behandele ihn wie einen Kriminellen. Ob man dafür (gegen die Deutschen als Partisan) gekämpft habe, dass einem die Miliz die Waffen wegnähme? Der Waffenschein sei auch weg, Danijels Vater »sei Invalide, und jetzt obendrein noch ohne Pistole.« Der Kampf gegen die Unfreiheit dient als Begründung dafür, sich Freiheiten herauszunehmen.

Er dreht lange die Tasse in den Händen herum und schaut in den dunklen Schlick des Kaffeesatzes. Wie die Hellseherinnen, die in den Schlieren auf dem Boden das Schicksal eines Menschen sehen. Welches Schicksal wird er ohne Waffe haben? Wie wird er sich vor Feinden und Leuten schützen, die in seine Wohnung kommen, um die sowjetische Hymne abzusingen?

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Das Ganze mündet in einen grotesken Tagtraum, in dem Danijel sich vorstellt, wie sich sein Vater beschwert und der Herr Jugoslawiens, Marschall Tito, alles wieder geraderückt. Höchstpersönlich, wie ein guter König im Märchen. Lustig ist das nicht, sondern bedrückend und deprimierend mitanzusehen, wie erbärmlich Heroen des Widerstands im Nachkriegsalltag eines angeblichen sozialistischen Paradieses vegetieren.

Das andere, jenseitige Paradies des kirchlichen Christentums bildet den Kontrapunkt zu der herrschenden Ideologie, Sie wird von Danijels Vater schärfstens angefeindet und bekämpft, obwohl die eigene Frau eine fleißige Kirchgängerin ist. Ihr Sohn nimmt am Unterricht bei »Vater Aloisius« teil, wo er auf rüde, herrische Weise mit einer anderen, absoluten Wahrheit konfrontiert wird.

Eine Hilfe ist ihm das nicht, im Gegenteil. Die Kirche in Gestalt des dogmatischen Geistlichen und der frömmelnden Mutter zwingt Danijel in gruselige Situationen. In der Schule wird er von einer linientreuen Lehrerin als »Verräter« gegenüber seinem Land und seinem heldenhaften Vater regelrecht vorgeführt, beim Abendmahl, im Beichtstuhl und dem geistlichen Unterricht sind abweichende Gedanken und Fragen lästig, während das Ritual peinlich eingehalten werden muss, sonst drohen hochnotpeinliche Erlebnisse.

Beide Formen der Weltverschlichtung, die absolute Wahrheit für sich in Anspruch nehmen und komplexe Wirklichkeiten auf hohle Formeln reduzieren, werden im Verlauf der Handlung entzaubert; dank der großen, gelassenen Erzählweise in Drago Jančars Als die Welt entstand auf eine unaufdringliche Weise, die dem Leser das Denken überlässt. Widersprüche gibt es genug.

Die Welt entsteht, indem die bestehende zerbricht, ihre Gewissheiten, die Klarheit weichen der Unschärfe; sie fühlen sich wie Lügen an.

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Da wäre Danijels Freund, dessen Vater im Krieg zur Wehrmacht eingezogen wurde und der ein Bein verloren hat, dafür aus Deutschland eine Rente bezieht, was den väterlichen Volksbefreiungskämpfer empört. Oder Professor Fabjan, der Deutsch an einer Schule unterrichtet hat, während Slowenien besetzt und Teil von Hitlers »Großdeutschland« war, aber russische Literatur schätzt, während seine Tätigkeit wie ein Brandmal nachwirkt.

Zwischen den beiden großen Mühlsteinen, dem sozialistischen und christlichen, ist Danijel eingeklemmt, eine Stütze sind sie ihm nicht, als er mit den menschlichen Widersprüchen konfrontiert wird. Als die Welt entstand erzählt, wie die Hauptfigur ihre Kindheit verlässt, das scheinbar sichere Fundament der Wahrheit gegen die Widersprüchlichkeit eintauscht und so die ersten Schritte in Richtung Erwachsenenleben macht.

Dabei geht es von Anfang an keineswegs um nur um Politik oder Gesellschaft. Die Welt entsteht für Danijel auch durch eine Dreiecksgeschichte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Diese Liebesgeschichte endet tragisch, wie man schon den ersten Seiten entnehmen kann, auf den bereits vorausgenommen wird, dass es »heftig« werde und die Ereignisse den Junge regelrecht überrollt hätten. »Es« steht für die »große Geschichte des Lebens«, die Liebe.

[Rezensionsexemplar]

Drago Jančar: Als die Welt entstand
Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler
Paul Zsolnay Verlag 2023
Gebunden 276 Seiten
ISBN: 978-3-552-07358-6

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Ein rasanter, spannender, wendungsreicher Roman, unter dessen Oberfläche eine Menge mehr schlummert, wie das großartige Nachwort offenbart. Cover Elsinor-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Die Nacht der kranken Hunde von A.D.G. spielt in der französischen Provinz, die Hauptakteure glänzen nicht gerade durch urbane Weltläufigkeit, um es einmal zurückhaltend zu formulieren. Rückständig würden die Städter sie halten, klagt der Erzähler, wie rückständig sie tatsächlich sind, zeigt ausgerechnet jener Satz, der das Vor-Urteil entkräften soll: Man wisse, dass Hippies junge Leute seien, „mit Rauschgift, die ihre Frauen verleihen, ganz gleich an wen.“

Auf diese direkte Weise gelingt es dem Autor, die Personen zu charakterisieren, mit denen es der Leser auf den nächsten 170 Seiten vornehmlich zu tun bekommt. Die Dörfler sind eben nicht wie jene dickköpfigen, aber harmlosen Streithähne in jenem allbekannten gallischen Dorf, sie sind oft auf eine verletzend offene Weise boshaft, unanständig, schweinisch mit ihren schamlosen, sexualisierten Witzen und trinken zweifellos zu viel und zu oft Alkohol.

Zumindest während der erzählten Zeit verbringen sie sehr viel mehr Stunden in ihrer Stammkneipe als bei der Arbeit, von der bemerkenswert wenig die Rede ist. Ihre Ehefrauen sind kaum mehr als Heimchen, die durch die von Gardinen behüteten Fenster nach draußen spähen, wenn etwas geschieht; dennoch ihren Männern erlauben müssen, wenn sie trinken gehen wollen. Die Sozialstruktur ist auf eine deprimierende Weise erdrückend rückständig und ein dumpfer Gegenentwurf bürgerlicher Spießigkeit.

Eine Ärztin – wir wussten zwar, dass es so etwas gibt, hatten aber noch nie eine gesehen. Und wir waren überrascht, dass ein so schönes und so junges Mädchen Ärztin sein sollte. Um es genau zu sagen: Viel Vertrauen hatten wir nicht.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Der Autor hebt das negative Bild in gewisser Weise wieder auf, wenn die Dörfler auf die Hippies treffen, mit diesen über das Problem sprechen, das sie mit ihnen haben: Die langhaarigen Frauenverleiher haben sich auf einem Stück Land niedergelassen, ohne die Erlaubnis dafür eingeholt zu haben. Ausgerechnet auf einer Parzelle, deren Besitzrecht umstritten ist, was zu einem Leitmotiv der gesamten Handlung führt, denn einer der vorgeblichen Besitzer hat ein besonderes Interesse an diesem Flecken Erde.

Das Zusammentreffen der rückständigen Landeier und der Hippies nimmt einen völlig unerwarteten Verlauf, womit der Autor sein Händchen dafür beweist, den Leser mit seinen eigenen Vorurteilen in die Falle zu locken. Das Aufeinandertreffen verspricht geradezu ostentativ eine blutige, überschäumende Konfrontation mit tödlichem Ausgang, doch wird es nicht eingelöst, weil sich die Dörfler auf eine ziemlich schräge Weise auf die Hippies einlassen, mit ihnen am Feuer sitzen, trinken (Whiskey wie der Bürgermeister) und irgendwann sogar singen. Diese Steilvorlage lässt sich A.D.G. nicht entgehen, und wählt boshafterweise „We shall overcome“ – davon kann im weiteren Verlauf der Handlung wahrlich keine Rede sein.

Leute, die so trinken wie der Bürgermeister, waren vielleicht doch nicht völlig verworfen.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Ich fasse mich bewusst kurz, denn der Die Nacht der kranken Hunde ist ein rasant erzählter Roman, der auf erklärende, reflektierende Passagen verzichtet; stattdessen wird die Handlung vorangetrieben, die sich immer weiter zuspitzt und von einer ganzen Reihe heftiger Wendungen geprägt ist. Das vorwegzunehmen wäre gegenüber möglichen Lesern unfair, wenngleich der Roman durchaus zum mehrfachen Lesen einlädt, denn wie viele Noir-Krimis enthält auch dieser unter seiner Oberfläche sehr viel mehr.

Dieser ersten Wendung folgen noch etliche weitere, blutige, denn der Tod einer Dorfbewohnerin ruft weitere Parteien auf den Plan, die ebenso unredliche wie ungesetzliche Absichten verfolgen. Die Gegensätze  verlaufen dabei nicht so, wie es die Gruppenzugehörigkeit vermuten ließe. Das einsetzende Verwirrspiel wird durch die unklaren Fronten und Interessen noch verschärft, natürlich mischt auch die Polizei noch mit, die jedoch vom Autor nicht gerade als elitäre Heldentruppe vergeführt wird.

Tatsächlich spürt der Leser mit dem Auftreten der Uniformierten und den Reaktionen der Dorfbewohner ein beträchtliches Maß an Anarchie, mit dem diese Geschichte unterlegt ist und die sich im Erzähltempo und -duktus niederschlägt. Die Polizisten sind nicht die hellsten Leuchten und lassen sich von den Einheimischen mit hanebüchenen (Fehl-) Informationen aufs Glatteis führen und von den eigenen Absichten ablenken.

Die Männer des Dorfes wollen die Angelegenheit selbst regeln, ein nahezu klassisches Motiv auch aus anderen Genres, etwa dem Western, wo das Misstrauen und die Missbilligung gegenüber dem Staat und seinen Institutionen auf gleiche Weise transportiert wird. Die Herren des Ortes verfügen über Waffen, einige entstammen noch den heroischen Zeiten der Résistance, die auch gleich als Begründung für das eigenmächtige Handeln herhalten darf. Der Autor treibt dieses Spiel bis an den Rand einer Groteske

Obwohl schon Frühling war, würden wir bestimmt Feuer im Kamin anzünden. Um die hässlichen Bilder zu verscheuchen.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Die Erzählform trägt zu Befremdung ihren Teil bei. Lange bleibt unklar, um wen es sich beim Erzähler handelt, ja, ob es überhaupt einen gibt. „Wir“ wird gleich am Anfang des zweiten Absatzes als Erzählhaltung eingeführt, da es sich nicht um die Gollum-Version („Wir sind immer allein“) handelt, könnte es auch eine Art kollektives Bewusstsein sein, das spricht. Auch das nutzt A.D.G. zu einem fulminanten Twist gegen Ende des Romans, der den Leser nach all den ohnehin haarsträubenden Wendungen noch einmal verblüfft blinzeln lässt.

Wie bei allen Teilen der ganz wunderbaren Reihe um Klassiker der Spannungsliteratur beim Elsinor-Verlag rundet ein ganz großartiges Nachwort von Martin Compart den Band ab. Bei der Lektüre wird deutlich, dass unter der sehr handlungslastigen Erzählung eine ganze Menge Mehr-Sinn schlummert, denn es handelt sich bei Die Nacht der kranken Hunde um einen besonderen Noir-Roman.

Der natürliche Lebensraum des Noir-Personals ist das urbane Milieu, A.D.G. versetzt seine Protagonisten aufs Land. Ein Country-Noir also, über den Compart eine Menge zu erzählen weiß. So viel und so gut, dass man diesen sehr unterhaltsamen Roman gleich nochmals lesen will oder eben einen aus der Feder eines der andere Autoren, die im Nachwort genannt werden.
[Rezensionsexemplar]

Ebenfalls in der Reihe erschienen & besprochen:
Fearing, Kenneth: Die große Uhr.
Buchan, John: Der Übermensch.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde
Elsinor Verlag 2023
TB 194 Seiten
ISBN 978-3-942788-73-1

Tobias Rüther: Herrndorf

Trotz des tragischen Schicksals, das den Autor ereilte, lacht man oft und laut bei der Lektüre dieser sehr gelungenen Biographie, dank Herrndorfs bissigem Witz. Cover Rowohlt, Bild mit Canva erstellt.

Der Komet kommt, man weiß es von Anbeginn an; trotzdem breiten sich nach seinem Einschlag Schockwellen aus, durch Buch und Leser; ein Echo bloß jener Erschütterung, die Wolfgang Herrndorf angesichts seiner Diagnose erfasst haben muss. Bestürzend der Gedanke, dass es vielleicht dieses fürchterlichen Schicksalsschlages bedurfte, um Tschick und Sand und Arbeit und Struktur und Bilder deiner großen Liebe überhaupt zu schreiben.

Vorher, über viele Jahre hinweg, die irgendwie ins Ungefähre verliefen, waren es sehr wenige, wenn auch aus meiner Sicht sehr lesenswerte Bücher: In Plüschgewittern etwa, das in vielerlei Hinsicht typisch für Herrndorf ist; aber auch Diesseits des Van-Allen-Gürtels und Die Rosenbaum-Doktrin. Aber als Herrndorf die Diagnose erhalten hat und nach Hause geht, fasst er Entschlüsse, darunter den fundamentalen, zunächst seinen Jugendroman zu vollenden, der – bittere Ironie – zu einem durchschlagenden Erfolg auf dem Buchmarkt werden sollte.

Selbstverständlich ist das nicht, wenn man gerade erfahren hat, dass sich in seinem Kopf eine unheilbare, tödliche Krankheit eingenistet hat; ebensowenig selbstverständlich, dass es mit dem Schreiben wirklich geklappt hat; wie fragil die Situation in den ersten Tagen nach der Diagnose gewesen ist, schildert auch Daniel Rüther in Herrndorf auf beklemmende Weise; die entsprechenden Passagen in Arbeit und Struktur sind für mich bei der Lektüre kaum erträglich und zugleich von atemberaubender Intensität gewesen. Diese Seiten »ziehen einem den Stecker«.

Die Arbeit, sagt Carola Wimmer, »war der Abwehrzauber gegen die Todesangst«

Tobias Rüther: Herrndorf

Doch alles wäre nichts gewesen, hätte Wolfgang Herrndorf nicht jene Kraft aufgebracht, sich erfolgreich gegen die Todesangst zu wehren. Man sollte diese Teile des Buches mit weichen Augen lesen, um zu verstehen, was dem Autor in dieser fürchterlichen Situation gelungen ist: in größter Todesnot einen Roman wie Tschick zu schreiben, leicht, lebensbejahend, gut lesbar.

Und danach Sand, mein Lieblingsroman von Herrndorf, überhaupt einer der besten Romane, die ich gelesen habe. Natürlich waren die Zeitgenossen verblüfft über die tiefe Kluft, die sich zwischen dem Jugend- und Wüstenroman auftut. Beide flossen aus einer Feder und gehören doch ganz verschiedenen Welten an; leicht lesbar sind beide, fesselnd auch, doch ist Sand auf seine kompromisslose Weise für den Leser ein Marsch durch einen Dornwald.

Wie unterschiedlich man den Roman lesen kann, zeigt Rüther anhand von einigen Beispielen auf; hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, die sehr spezielle, komplizierte Erzählstruktur, die verwundene Rätselshaftigkeit und das Versteckspiel des Textes, in den Herrndorf Fäden aus dem Nichts in die Handlung eingewirkt hat, um diese lose flatternd zurückzulassen, erlauben vielfältige Zugänge. 

Aber was nützen schon Pläne: Was der Mensch wird in der Welt – das ist eine Erkenntnis, die Herrndorf wieder und wieder wiederholt, auch später – , das wird er sowieso nicht dank seiner Planung oder seines Willens.

Tobias Rüther: Herrndorf

Der Weg zu dem Kometen-Moment ist verblüffend. Herrndorf war als Kind erkennbar hochbegabt, vielfältig talentiert hat er sich der Malerei zugewandt und das Fach nach Abitur und Zivildienst in Nürnberg studiert. In der dortigen Atmosphäre hat er Schiffbruch erlitten, sein Stil hatte für die gewöhnlichen Studenten und Lehrkräfte etwas Anachronistisches, sein Auftreten galt machem als (zu) wenig »künstlerisch«.

Mit seiner Professorin liegt er über Kreuz und doch schafft es Herrndorf nicht, sich zu lösen; ein Wesensmerkmal, das sich auch auf anderen Feldern wiederfindet, etwa der nicht enden wollenden, unerfüllten und schmerzhaften Liebe zu einer Mitschülerin, die auch Jahre nach dem Abitur nicht erlischt und in Herrndorfs Kunst Spuren hinterlässt. Umgekehrt verweigert sich Herrndorf beharrlich dem gewöhnlichen Gang der Dinge, etwa Ausstellungen seiner Bilder; dieses Muster durchbricht er bei seiner Schreiberei glücklicherweise.

Pläne sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind. Nach dem bitter erkämpften Abschluss stößt Herrndorfs Arbeit plötzlich auf begeisterte Zustimmung, er illustriert, karikiert für Titanic und Eulenspiegel und gestaltet Umschläge von Büchern, kreiert brillante Bilder für einen Kalender zu Helmut Kohl und schafft Illustrationen für ein Buch über den ewig phrasendreschenden Fußballmoderator Heribert Fassbender.

Malen ist für mich, wie Zahnarzt ohne Betäubung. Ich KANN das nicht mehr.

Tobias Rüther: Herrndorf

Irgendwann lässt Wolfang Herrndorf das Malen sein. Warum er das so lange betrieben hat, obwohl das Zitat eine tiefgreifender Abneigung gegen diese Tätigkeit offenbart, bleibt letztlich rätselhaft; immerhin ist es ein Muster, es fällt ihm schwer, Dinge aufzugeben; wie bitter das später gewesen sein muss, wenn er krankheitsbedingt Dinge aufgeben muss, etwa nicht mehr Fußball- oder Eishockeyspielen kann.

Zu den vielfältigen Facetten des Lebens von Wolfgang Herrndorf gehört seine Tätigkeit als Schöffe und seine kurze Zugehörigkeit zur Autorennationalmannschaft, vor allem aber sein Daueraufenthalt im Internet – noch vor Facebook, Twitter und Instagram. Ein Forum bzw. auserlesenes Unterforum ist seine Welt, bis zum Ende; Arbeit und Struktur war dementsprechend zunächst auch kein Buchprojekt, sondern ein – leicht zeitversetztes – Echtzeit-Tagebuch im Netz.

Trotz des tragischen Schicksals, des Kometen, ist die Biographie von Tobias Rüther keine Trauerveranstaltung, dafür sorgen schon die vielen Zitate aus dem Werk Herrndorfs. Man lacht. Oft. Laut. Herrndorf hatte ein Händchen für Witz, nicht nur bei seinen Beiträgen für einschlägige Magazine, Kalender und Bücher, sondern auch in E-Mails und Forumsbeiträgen. Jene zweieinhalb Seiten »Arbeitstitel« für seinen Wüstenroman etwa, sortiert nach Kategorien: »Supermarktkassenbestseller«, »Hochkultur« oder »Seventies«, sind teilweise unglaublich komisch.

Es gehört zu den großen Stärken der Biographie, die solitäre Leistung Herrndorfs ohne falsche Bescheidenheit und in einer dem Autor zugewandten Weise, aber nüchtern herauszustellen; dazu gehört auch, die gekünstelt-mäkelige Bedenkenträgerei von Denis Scheck  bzw. effektheischend-aasige Bimmelei Juli Zehs nicht zu verschweigen. Selbstverständlich hat Herrndorf alle Preise verdient, denn man kann wie Rüther die Meinung vertreten: Herrndorf war »der größte deutschsprachige Schriftsteller seiner Generation.«

[Rezensionsexemplar]

Tobias Rüther: Herrndorf
Rowohlt Berlin 2023
Gebunden 384 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0082-3

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Die Hellsichtigkeit des Tagebuchschreibers Stresau ist frappierend, besonders, weil er seine Rückschlüsse auf der Basis von propagandatriefenden Presseberichten gezogen hat. Seine Äußerungen stellen einen Kontrapunkt zu dem dar, was an propagandistischem Getöse bis heute das Bild der Zeit prägt – etwa zur berühmt-berüchtigten Sportpalast-Rede von Joseph Goebbels im Februar 1943. Cover Klett-Cotta, Bild mit Canva erstellt.

Ist es mutig oder töricht, Adolf Hitler in einem Tagebuch als »Oberidioten« zu bezeichnen? Hermann Stresau hat das getan, am 31.01.1944, dem Jahrestag der so genannten »Machtergreifung«. Als ich diese Passage las, war ich froh, dass niemand die Aufzeichnungen vorzeitig in die Finger bekommen hat, das hätte fatale Folgen für Stresau gehabt. Uns Nachgeborenen wäre ein kleiner Schatz entgangen, denn nicht anderes sich die Tagebücher Als lebe man nur unter Vorbehalt.

Der Autor Hermann Stresau eignet sich nicht als Heldenfigur des Widerstands, wie etwa Sophie Scholl oder Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Er ist konservativ, wenn die Rede auf die Rolle der Frau (»Weiber«) kommt, muss der moderne Leser tapfer sein; seine Haltung zur Weimarer Republik ist bestenfalls kühl, mit der Parteiendemokratie kann er so wenig anfangen wie mit linken Schriftstellern und dem Vertrag von Versailles.

Und doch hat er 1933 den Kotau gegenüber dem Regime verweigert, erhebliche wirtschaftliche Einbußen inkauf genommen, um sich eine innere Distanz zu wahren gegenüber dem Nazi-Regime. Das ist die Voraussetzung für seinen scharfen, analytischen und oft hellsichtigen Blick auf die Dinge, die schon seine Tagebücher 1933 – 1939 Von den Nazis trennt mich eine Welt auszeichnen. Den Kriegsausbruch 1939 hat er wenigstens befürchtet und doch ist er wie ein Hammerschlag auf ihn niedergegangen.

Morgens müssen wir uns eine Zentnerlast vom Herzen schieben, um aufstehen zu können. Wir erheben uns sonst immer frisch und munter um 6 Uhr, selten später, aber jetzt ist’s das Gegenteil: ein furchtbares Gefühl nach dem Erwachen, ein unbeschreibliches Grauen, ein Alpdruck, man möchte die Welt verfluchen. 05.09.1939

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Das bleibt der Grundtenor während der kommenden fünfeinhalb Jahre, bis das so genannte »Dritte Reich« im Mai 1945 in Schutt und Asche gesunken war und Millionen elendig verreckt, vertrieben oder versehrt waren. Selbst während der Phase, in der die Wehrmacht Sieg an Sieg reihte und auch Stresau mit einer militärischen Eroberung Englands oder der Niederwerfung der UdSSR rechnete, hat er sich von der Siegespropaganda nie anstecken lassen.

Das gehört zu den – ja – Ungeheuerlichkeiten der Tagebucheinträgen. Stresau hat von Anfang an gewusst, dass die USA (»Amerika«) den Ausschlag geben würde und ihm war klar, dass die Entscheidung nicht auf dem Schlachtfeld, sondern danach fallen würde. Frieden gibt es durch Verhandlungen – wohlgemerkt nach der militärischen Entscheidung – und er hat der Reichsführung um Adolf Hitler schlicht und ergreifend die Fähigkeit dazu abgesprochen.

Stresau hat sich von den militärischen Erfolgen beeindrucken, aber nicht blenden lassen; seine Erwartungen an die Wehrmacht waren zu hoch, aber selbst die höchsten Regierungsstellen in England (und den USA) haben es den deutschen Truppen zugetraut, die UdSSR niederzuwerfen und auch deshalb massive Unterstützung geliefert, ohne die die Rote Armee in noch größere Schwierigkeiten geraten wäre. Stresau befand sich also in guter Gesellschaft.

Es ist absolut faszinierend zu lesen, dass jemand derart unabhängig und zutreffende Einschätzungen treffen kann, wenn ihm nur das Propaganda-Geklingel der gleichgeschalteten Presse zur Verfügung steht. Der Schlüssel liegt im Nachdenken über das Geschriebene und Verschwiegene. Wenn berichtet wurde, dass sechzig feindliche Flieger abgeschossen wurden, hat Stresau daraus geschlossen, dass die Zahl der angreifenden Flugzeuge entsprechend hoch sein musste und auf dieser Basis auf die immense, ja übermächtige Leistungsfähigkeit der gegnerischen Wirtschaft rückgeschlossen. Hieß es im Wehrmachtsbericht »planmäßig«, übersetzte er das mit Verlangsamung, Stockung oder Stillstand der Vormarsches.

Lesen allein macht nicht klug, Nachdenken macht klug. Das zeigt sich auch an einer anderen Bemerkung, anlässlich der Feststellung Stresaus, die Zeitungsberichte und Haltung der Zeitgenossen wären unangemessen oberflächlich und unbekümmert. Der Tagebuchschreiber zeigt sich bestürzt darüber, wie Zivilisten begeistert über versenkte Schiffe nach Bombentreffern reden.

Aber wenn man sich da so in Norwegen vorstellt: ein Truppentransporter auf hoher See von schwersten Bombenkalibern getroffen, in Brand geraten, und man denkt an die Scenen, die sich dabei abspielen, und sieht dazu die vergnügten Gesichter auf der Straße – dann merkt man, in welcher Unwirklichkeit der Durchschnittsmensch lebt […], ohne zu spüren, daß dies alles des Teufels ist und vielleicht in einem allgemeinen Grauen enden wird. 30.04.1940

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Der alltäglichen Propaganda begegnet Stresau mit beißendem Spott, insbesondere den wissenschaftlich haarsträubenden, von den Nationalsozialisten zusammenphantasierten Germanenkult nimmt er genüsslich aufs Korn. Er würde gern wissen, warum alle kurze Haare trügen, denn als »alte Germanen müßten wir freien deutschen Männer nicht nur den Hut abnehmen, sondern auch die entsprechenden Locken ums arische Antlitz flattern lassen.«

Doch gibt es noch eine andere Ebene, die Stresaus Tagebücher wertvoll machen. Am 18. Februar 1943 hielt Joseph Goebbels im Sportpalast zu Berlin jene berühmte Rede, in der er die Frage in den Saal rief: »Wollt ihr den totalen Krieg?« Der Saal echote stürmische Begeisterung, man kann es sich auf Youtube heute noch ansehen – die Propaganda (!), die bis heute unser Bild prägt.

Stresau charakterisiert ähnliche Reden als »fiebrig« und konstatiert nüchtern: »Im Volk doch starke Beunruhigung zu bemerken.« Dieser kühle Kontrapunkt ist gar nicht zu überschätzen. Éric Vuillard hat in seiner mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Schrift Die Tagesordnung nachdrücklich darauf verwiesen, wie sehr die Gegenwart von Propaganda-Bildern aus der NS-Zeit geprägt ist – ein giftiger Nachhall der Vergangenheit. Stresaus klärende Worte bilden eine Art Gegengift dazu.

Ich wünsche nicht, daß wir den Krieg verlieren. Ich wünsche eher, daß wir ihn gewinnen, uns jedenfalls behaupten, und uns unsere verrückt gewordenen Führerbande entledigen. 29.5.43

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Natürlich ist Stresau auch Kind seiner Zeit. Dem Rassenwahn der »Nasolisten« steht er ablehnend gegenüber, die »Rasse« ist für ihn aber eine gewöhnliche Denkkategorie. Man stehe mit Artverwandten (England und Amerika) im Krieg, während die Verbündeten (Italiener, Japaner) einem so fremd wären. Wenn sich Stresau über Juden abfällig äußert, dann nicht wegen der »Rasse«, sondern weil ihm an einer Einzelperson etwas Konkretes missfällt, etwa Stefan Zweigs Essay über Hölderlin.

Der nächste große Schock ist der Überfall auf die Sowjetunion, in mehrfacher Hinsicht. Der »Alpdruck« der sich anbahnenden Niederlage, weil Deutschland »alles über den Kopf wachsen« werde, weicht bis Kriegsende nicht, allen zwischenzeitlichen Erfolgen zum Trotz. Wie betäubt sei man, angesichts des ins Endlose sich dehnenden, den ganzen Erdball umspannenden Krieges, der nicht – wie von Hitler behauptet – 1941 enden werde, sondern »nach 10 Jahren vielleicht.«

Von den Kriegsverbrechen, dem Genozid, dem sich anbahnenden Holocaust und dem drakonischen Gebahren in den besetzen Gebieten weiß Stresau recht früh. Interessant sind seine Quellen. Ein Arzt berichtet ihm von einem Offizier, der wegen »Kopfschmerzen« behandelt werden will. Es stellt sich heraus: Dieser Offizier hat mehr als 800 Zivilisten, Frauen und Kinder erschossen – das halte er nicht mehr aus. Stresau weiß obendrein um den Hunger der ausgeplünderten Gebiete (auch im Westen), um die »renitente« Bevölkerung und die »Widerspenstigkeit der Besiegten« überall.

Die ›Freiheit‹, die wir bringen, wäre ihnen alles andere als erwünscht.« 6.7.41

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Spektakulär sind die Schlussfolgerungen, die Stresau daraus zieht, die wichtigste: Der Krieg ist nicht zu gewinnen. Anders als jene Zeitgenossen, die sich von den militärischen Erfolgen in dieser Zeit haben blenden lassen, wusste der Tagebuchschreiber ganz genau, dass selbst bei einem umfassenden Sieg der Wehrmacht der Krieg noch lange nicht siegreich beendet werden könnte – ein Frieden erschien ihm völlig unmöglich.

Doch selbst die militärischen Aussichten beurteilt er nüchtern. Angesichts der größten Kesselschlacht an der Ostfront mit gewaltigen Verlusten für den Gegner macht er eine einfache Rechnung auf: Die Rote Armee habe vier Millionen Mann verloren, blieben noch sechszehn Millionen, die Industrie wäre hinter dem Ural, und die Versenkung alliierter Handelsschiffe im Nordmeer bedeute eine auf massive materielle Unterstützung für die UdSSR. Mit einem Wort: militärisch sei noch lange nichts gewonnen.

Es ist angesichts der Traumtänzerei in den hohen Stäben von Militär und Verwaltung, der braunen Partei und ihren Organisationen, der Presse und Wirtschaft geradezu bestürzend, wie ein Einzelner auf der Basis kümmerlicher, propagandatriefender Informationen durch kluges Nachdenken realitätsnahe Schlussfolgerungen zieht. Vor allem ist ihm klar, dass ein »Sieg« keineswegs glanzvoll ausfallen würde, im Gegenteil.

Grete und ich waren heute zwei Juden begegnet, mit ›Sternchen‹, und hatten uns schämen müssen. Darauf die Frage: wozu das alles, Kriege, Staaten usw., dieser ganze furchtbare Unsinn, wenn das zu nichts führt als solchen Lumpereien. 19.10.41

Was diesem Krieg zur Zeit eine besondere Note gibt, sind die systematischen Judendeportationen mit dem ausgesprochenen Zweck der Vernichtung der Unglücklichen. 18.11.41

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Nach der Niederlage bei Stalingrad verändert sich alles. Die Stimmung in der Bevölkerung sinkt drastisch, die Versorgungslage wird schlechter, die Vernichtung der deutschen Städte durch den Bombenkrieg schreitet immer schneller voran, während die gesamte Bevölkerung begleitet von fanatischen Worten in den Dienst des längst verlorenen Krieges gepresst wird.

Stresau muss zwangsweise in einer Fabrik arbeiten. Seine Beobachtungen und Betrachtungen sind erhellend, denn auch hier klaffen Propaganda und Wirklichkeit weit auseinander. Die Produktion leidet unter vielerlei Dingen, Chaos, Materialmangel, unqualifizierten Arbeitern, dem Auftreten des Sicherheitspersonals, das die ausländischen Arbeiter drangsaliert, und den ständigen Alarmen, die jede Nachtruhe über Monate und Jahre unmöglich machen.

Man müsse gar keine Sabotage üben, konzediert der Tagebuchautor, das erledige sich ganz von allein. Doch ist Stresau keineswegs zum Spott zumute, er ist innerlich zerrissen zwischen dem Wunsch, das Desaster möge sich noch abwenden lassen und der Einsicht, dass Deutschland und Europa immer weiter in den Abgrund rutschen. Für eine Zukunft nach dem Kriegsende sieht er schwarz, rechnet mit Jahrzehnten bitterer Lebensverhältnisse.

Ein besonderer Wert der Tagebücher liegt darin, dass sie zeigen, wie sehr sich der Krieg in den Alltag hineindrängt, während sich die Menschen bemühen, ihn zu verdrängen. Die Fluchten sind vielfältig, Literatur, Musik, Gespräche, abendliche Runden mit kulturellen Gesprächen, Affären, Alkohol bieten immer wieder eine Möglichkeit, dem alltäglichen Grauen zu entfliehen, ohne ihm zu entkommen.

Manche Schilderung aus den letzten Kriegsmonaten ist haarsträubend, etwa von Göttingen aus den Rauchturm der im März 1945 zerstörten Stadt Hildesheim zu beobachten: eine »riesige Rauchwolke, wie von einem Vulkan«. Nach der Befreiung Tage später folgen peu á peu die Nachrichten von den NS-Gräueltaten, noch nicht von der Massenvernichtung im Osten, sondern aus dem KZ Sachsenhausen. Diese sind so schauerlich, dass selbst ein kluger, aufmerksamer Beobachter wie Hermann Stresau notiert: »Kaum glaublich, aber es muß wahr sein.«

[Rezensionsexemplar]

Die Tagebücher 1933 – 1939 habe ich auch besprochen:
Von den Nazis trennt mich eine Welt

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt
Klett-Cotta 2021
Gebunden 594 Seiten
ISBN 978-3-608-98472-9

Daniel Schulz: Ich höre keine Sirenen mehr

Bewegende und erhellende Impressionen aus der Zivilgesellschaft im Krieg. Cover Siedler-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Krieg ist Chaos. Geordnete Bahnen zerbrechen, das Leben gerät im Wortsinne aus den Fugen, Menschen werden in die Flucht getrieben, verlieren die Orientierung und irren auf der Suche nach einer neuen im sprichwörtlichen Nebel des Krieges. Vor den Fenstern ein Feuerpanorama statt des gewohnten Anblicks – nicht nur in Charkiw, der Frontstadt, die medial oft im Schatten Kyjivs steht.

Am Ende des bewegenden Buches von Daniel Schulz fühlt der Leser das Chaos. Ich höre keine Sirenen mehr ich wie ein Echo aus der Ferne, das jenes ungeheuerliche Durcheinander des Krieges wiederklingen lässt, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat – wie die berühmten Hunde des Krieges Shakespeares. Schulz liefert keine Analysen, einordnende Hintergrundinformationen, strukturiert und selbstverständlich immens hilfreich, wie es andere Bücher über den Krieg gegen die Ukraine tun; er lässt die Menschen vor Ort ausführlich zu Wort kommen, während er sie begleitet.

Ich höre keine Sirenen mehr bietet vor allem Impressionen, Nachklänge, wie nach einem Konzert- oder Kinobesuch; Stil und Inhalt, Perspektive und Erzählhaltung wechseln, dankenswerterweise scheut sich Schulz auch nicht, seine vielfältigen, sehr persönlichen Erfahrungen einfließen zu lassen und zu offenbaren, dass seine Reise in die Ukraine, in den russländischen Angriffs- und Vernichtungskriegs auch ein Versuch ist, eine persönliche unspezifische Angst loszuwerden.

Die russischen Raketen, die Sirenen des Luftalarms, das Sterben der ukrainischen Soldat:innen und Zivilist:innen, sie reißen Lücken ins Gewebe der Gewohnheiten.

Daniel Schulz: Ich höre keine Sirenen mehr

Es geht sehr menschlich zu in dem Buch, für das ein sehr treffender Untertitel gewählt worden ist: Krieg und Alltag schließen einander aus, weil Krieg den Alltag zerbricht. Doch schon wenige Monate nach dem Tag, an dem der vollumfängliche Vernichtungskrieg Russlands begonnen hat, ist Alltäglichkeit überlebensnotwendig. Hierzulande ist oft von Kriegsmüdigkeit die Rede, eine fremdschambehaftete Eigendiagnose angesichts der Leistungen und Belastungen der Menschen in der Ukraine.

Ein Alltag mit seinen Routinen ist essentiell, anders wäre die irgendwann einsetzende Erschöpfung nicht zu bewältigen. Wir reden hier nicht von den Soldaten, der regulären Armee, wir reden von Freiwilligen, ungezählten Frauen und jenen Männern, ohne die der Krieg für die Ukraine einen schlechteren Verlauf genommen hätte. Auf mehr als 1.700 Neugründungen nach der vollumfänglichen Invasion im Februar 2022 beziffert Schulz die Zahl solcher Gruppen von Freiwilligen.

So beginnt Schulz’ Reise in Krieg und Alltag mit einem Blick auf das, was man gewöhnliche Zivilgesellschaft nennt. Wie »Alltag« und »Krieg« scheinen sich »Zivil« und »Krieg« auszuschließen, betrachtet man einen Waffengang als Krise, ist es nur folgerichtig, dass dem zivilen Sektor eine wichtige Rolle, ja: die Hauptlast zukommt. Die Ukrainer nennen es „ukrainische Anarchie“, mit der die Hilfen organisiert werden – unter kreativer Zuhilfenahme aller modernen Kommunikationskanäle, was den Leser staunen lässt.

Küchentische, […] sind neben den vom Staat und von Nichtregierungsorganisationen geführten Zentren die anderen wichtigen Orte, an denen ukrainische Freiwillige Nachschub und Hilfe organisieren.

Daniel Schulz: Ich höre keine Sirenen mehr

Das Chaos, von dem ein aus Deutschland stammender freiwilliger Frontsoldat berichtet, mag aus der Sicht des Bundeswehr-Veteranen problematisch sein, beim Umgang mit allzu knappen Ressourcen notwendig und hilfreich. Die spezifisch bundesdeutschen Klagen über die Folgen des Krieges verblassen doch zu Phantomschmerzen, wenn Daniel Schulz ausführlich schildert, wie Kunst- und Kulturschaffende ihre Fähigkeiten in den Dienst der ukrainischen Kriegführung stellen und gleichzeitig versuchen, die fürchterlichen Folgen für die dortige Zivilbevölkerung abzufedern.

Die Helfer sind dabei keineswegs unkritisch gegenüber dem Staat und seinen Makeln, etwa der grassierenden Korruption. Eine Gleichschaltung findet auch im Krieg nicht statt, es wirkt mehr wie ein temporärer Waffenstillstand; spürbar ist, dass nach dem Ende des Krieges die Reformforderungen wieder erhoben werden. Ob und wie weit diese tragen und zu strukturellen Veränderungen führen werden?

Einige Dinge sind von Krieg zu Krieg doch gleich oder zumindest ähnlich. Luftalarm. Autor Schulz muss erstaunt feststellen, wie sehr diese ignoriert werden – ein Motiv, das aus Tagebüchern des Zweiten Weltkrieges oder Augenzeugen bekannt ist. Ein Gesprächspartner aus der Ukraine versucht eine Begründung und zieht Parallelen zum Auto: Es gebe Unfälle, Tote und Verletzte, jeder wisse das und fahre trotzdem.

»Der Krieg ist bei allem Leid, das er bringt, auch eine Chance, unsere Seelen zu retten.«

Daniel Schulz: Ich höre keine Sirenen mehr

Dann geht es doch noch ein wenig an die Front. Kriege werden immer auf der Basis der Erfahrungen aus dem vorangegangenen begonnen und bringen gewöhnlich massive Überraschungen. Im Ersten Weltkrieg waren es Maschinengewehre und Flugzeuge, in der Ukraine sind es Drohnen. Die Bedeutung dieser kleinen Flugobjekte für Aufklärung und Kampf ist schon im Waffengang zwischen Armenien und Aserbaidschan immens gewesen, jetzt ist sie ungleich größer.

Es ist interessant zu sehen, wie die Anfänge nach dem Maidan und der russländischen Invasion der Krim bzw. des Donbas ausgesehen habe, wie Initiativen am Militär vorbei und parallel dazu vorangetrieben wurden, etwa bei der Ausbildung zum Drohnenfliegen. Auch in diesem Bereich zeigt sich der unheilvolle Einfluss des Krieges, der alles verschlingt – moderne Technik und die Menschen, die Dinge tun (müssen), die sie eigentlich vermeiden wollten.

Wir sehen nur, was wir verstehen; daher ist es sehr positiv, dass Schulz einerseits innerhalb seines gewohnten Netzwerkes (Kulturelite) unterwegs ist, sich aber bewusst auch anderen Menschen und Verhältnissen widmet. Das führt ihn in manchen Kapiteln an den Rand der Sprachlosigkeit, etwa zu jenen kargen Eindrücken von einem Parkplatz bei Saporischschja. Aber auch zu Menschen wie den Freiwilligen Andriy, der für deutsches Sicherheitsnetz-Denken geradezu abenteuerlich mutig agiert – immer mit der Begleitmusik der Sirenen.

[Rezensionsexemplar]

Daniel Schulz: Ich höre keine Sirenen mehr
Siedler Verlag 2023
Hardcover 272 Seiten
ISBN: 978-3-8275-0167-7

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