Schriftsteller - Buchblogger

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Lesemonat September 2023

Neun Bücher im September 2023, quer durch die Genres; herausragend die Biographie zu Wolfgang Herrndorf. Bei Gelgenheit werfe ich einen Blick auf die Longlist des Deutschen Buchpreises, in dem mir vor allem eine große Leerstelle aufstößt. Cover beim jeweilgen Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Eigentlich wollte ich den Kometen übergehen und auf die vielen andern Facetten von Wolfgang Herrndorfs Leben (Malerei, Kindheit als Hochbegabter, Scheitern in Nürnberg, Internet-Bewohner etc.) fokussieren, doch das geht nicht. Die Diagnose der tödlichen und unheilbaren Erkrankung lässt das schlichtweg nicht zu; wenn der Komet eingeschlagen ist, ändert sich buchstäblich alles. Tobias Rüther hat in seiner Biographie Herrndorf* auf eine sehr gut lesbare und verständliche Weise den Lebensweg des Schriftstellers nachgezeichnet, unprätentiös und auf eine dem Autor zugewandte Weise. Für Leser Wolfgang Herrndorfs ein Muss; für alle anderen auch.

Diagnose und Symptome werden in Krise der Narration von Byung-Chul Han wunderbar, wenn auch ein wenig redundant ausgebreitet – was aber ist mit der Therapie? Was heißt eigentlich Erzählen? Der Autor bleibt letztlich die Erklärung schuldig. Möglicherweise gibt es auf diese Frage auch keine allgemeine, sondern nur persönliche, individuelle Antworten. Es finden sich aber sehr treffende Sätze in diesem Buch. Ein Beispiel: „Narrative sind wirksamer als bloße Fakten oder Zahlen, weil sie Emotionen auslösen.“ Trump erklärt, in einem Satz. Allein deswegen ist das Buch lesenswert, auch wenn der Autor die Grenze zur abgrundtief verhassten Esoterik ein- oder zweimal touchiert. Das tut dem Rest aber keinen Abbruch. Bei Kommunikatives Lesen findet sich eine detaillierte, kritische Besprechung.

Der Protagonist in Schwüle Tage von Eduard von Keyserling ist umstellt von hochbusigen Verlockungen und kann nicht, darf nicht. Die Mägde bewundern die Hände des „Jungherrn“, gehen aber mit den Knechten ins Heu. Das ins Unbestimmte gleitende Bedürfnis, irgendetwas tun zu müssen, die schwer lastende Atmosphäre fängt Keyserling ganz wunderbar ein. Eine schöne Erzählung über das adoleszente Begehren, sie steht am Anfang eines Erzählungsbandes, der bei Buchwolf besprochen wird.

Trotz des Titels ist Eine Formalie in Kiew kein Buch über den russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Es ist im Kern eine Migrations- und Familiengeschichte, die Dimitrij Kapitelman in einer sehr unterhaltsamen Weise erzählt. Allein die kruden Wortneuschöpfungen, mit denen er alles mögliche gekonnt aufs Korn nimmt, sorgen für manchen Lacher. Doch wird auch deutlich, dass Migration eben mehr ist als „Auswandern“, und dumpfbackiger Polit-Populismus mit Realitäten nichts gemein hat.

Ganz sicher ist Ich höre keine Sirenen mehr* ein Buch über den russländischen Krieg gegen die Ukraine und zwar ein ganz besonders gelungenes: Autor Daniel Schulz widmet sich dem Alltag im Krieg und rückt damit die Zivilgesellschaft ins Bild. Die hat sich bemerkenswert resilent gezeigt und einen erheblichen Anteil am Erfolg der Ukraine. Schulz liefert unmittelbare Impressionen, lässt die Betroffenen zu Wort kommen und das auf eine lobenswert journalistisch-kritische Weise.

Urban Fantasy ist das Genre, zu dem ich aus Unterhaltungszwecken greife. Der Magier von London von Benedict Jacka erfüllt diese Aufgabe ganz vorzüglich. Der dritte Teil der Buchreihe um den Magier Alex Verus macht einfach Spaß, die Balance, aus den Vorgängern das Nötige fortzuführen und doch Neues zu präsentieren, ist gelungen. Hier entfaltet sich peu á peu ein grausames Geheimnis, Anklänge an einen Krimi sind unübersehbar – aber einen mit Magie und Witz.

Literatur ist für mich auch immer ein Weg, Neuland zu betreten. Stephan Thome führt den Leser mit Pflaumenregen nach Taiwan, dessen Gegenwart und vor allem Geschichte in Form einer Familiengeschichte erzählt wird. Die Kolonialzeit und der Zweite Weltkrieg sowie die unmittelbare Nachkriegszeit Taiwans hinterlassen Spuren bis in die Gegenwart, in der die Insel von China in ihrer Existenz bedroht wird. Thome erzählt das auf eine sehr angenehme, unaufgeregte Weise, die Lektüre macht einfach Spaß. Sehr schön & ausführlich besprochen bei Literaturreich.

Was für ein wildes Buch! Der Elsinor-Verlag hat seine Reihe um Klassiker aus dem Krimi-Segment um ein ganz besonderes Exemplar erweitert: A.D.G. Die Nacht der kranken Hunde*. Es geht aufs Land, in Frankreich – und wer denkt da nicht an das berühmte Dorf? Tatsächlich erinnert die Figurenschar an die Gallier, allerdings ohne deren herzliche Freundlichkeit. Hippies nisten sich nahe dem Dorf ein, ein Tod setzt schließlich eine Entwicklung in Gang, die in ein turbulentes, Chaos mündet, alles umwirkt vom Flor des Anarchismus.

Die Fotos des Kriegsfotographen Robert Capa sind weltberühmt, doch wie steht es um sein Leben? Die Graphic-Biography Capa von Florent Silloray widmet sich dem Lebenswerk Capas, der bürgerlich Endre Friedman hieß. Die Stationen, die ihn aus bitterer Armut zu Weltruhm führten, werden nachgezeichnet, die Schattenseiten seines Lebens werden nicht ausgeblendet, auch der bis zu seinem frühen Tod in Indochina nachwirkende Schock über den Tod Gerdas wird nicht übergangen.

Bloggestöber

Nach zwei Jahren Buchbloggen habe ich gelernt: Es ist unvorhersagbar, welcher Buchtitel auf Interesse stößt und welcher nicht. Im September gab es eine große Überraschung, denn die Tagebücher 1939-1945 von Hermann Stresau haben mit großem Abstand das meiste Interesse auf sich gezogen. Was ein kleiner Link auf einem anderen Buch-Blog nicht alles anrichten kann.

Mich freut das, denn Stresaus Als lebe man unter Vorbehalt* sind ungeheuer zeitgemäß. In den Tagebüchern, Aufzeichnungen und Berichten, die ich gegenwärtig aus der Ukraine und Russland lese, tauchen Motive wieder auf, die sich auch bei Stresau finden. Kleinigkeiten, wie das Ignorieren des Luftalarms, Grundlegendes wie die innere Zerrissenheit, die Erschöpfung, der Kampf um ein Stück Alltag im Krieg – alles schon einmal dagewesen und zurückgekehrt.

Ebenso erfreulich ist, dass der Beitrag über Die Nacht der kranken Hunde* von A.D.G. viel Aufmerksamkeit erhalten hat, ein Country-Noir-Klassiker in der wunderbaren Reihe des Elsinor-Verlages. Es gibt keinen ehrenhaften Abgang aus einem verbrecherischen Krieg, das haben die Franzosen in Vietnam (später auch die USA) am eigenen Leibe spüren müssen. Mein Blogbeitrag zu Éric Vuillards Ein ehrenhafter Abgang* wurde im September am dritthäufigsten angesteuert.

Neues gibt es auch von meiner Arbeit als Schrifsteller: Der zweite Band meiner Piratenbrüder-Buchreihe ist veröffentlicht, Chatou heißt der Teil.

Es geht rund: Hochspannung, Komik, Dramatik – Joshua und Jeremiah kämpfen einen schier aussichtslosen Kampf um das Leben ihrer Freunde und geraten dabei selbst in tödliche Gefahr.

Eine Longlist mit Leerstelle

Krieg? Welcher Krieg? Pssst! Du darfst das Wort nicht verwenden! Es kostet dich Reichweite. Schreibe lieber Kr*eg, dann merkt es der Algorithmus nicht und der Leser weiß dennoch, von was die Rede ist.

Die Schere im Kopf ist zurück.

Aber zurück zum Krieg. KRIEG! Man könnte auch in anderer Hinsicht meinen, es gäbe keinen. Wer einen Blick in die Longlist des Deutschen Buchpreises wirft, wird vergeblich einen Roman suchen, der den russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine thematisiert. Oder etwas in dessen Peripherie – Belarus vielleicht, Flüchtlinge, Oligarchen, fröhliche Z-Krieger im ach so verhassten Westen.

Nichts.

Das heißt nicht, dass die Themen, die von den Romanen auf der Longlist behandelt werden, sämtlich uninteressant wären, ganz im Gegenteil: NSU-Komplex oder die Sirenenklängen des so genannten Islamischen Staats; Historisches, das den Leser in die unmittelbare Zeit vor der Urkatastrophe Europas führen; Migration – ein wichtiges Dauerthema in Deutschland.

Eine Abwertung der Romane und ihre Inhalte liegt mir fern, ich ziele auf die Leerstelle ab, die ich persönlich als ebenso schmerzlich wie bezeichnend finde. Im Grunde genommen ist der verbrecherische Angriffskrieg Russlands kein Thema, man hat es sich eingerichtet zwischen billigem Gas aus Putins Reich, dem militärischen Schutz der USA und Stillstandsverwaltung; in der Komfortzone ruht der Blick bequem auf sich selbst.

Putin? Im vergangenen Jahr hatte man hierzulande wenigstens Serhi Zhadan den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zugesprochen, sein Roman Internat ist thematisch, sprachlich und in seiner Konzeption überragend. In Frankreich hat man Guliano da Empolis Der Magier im Kreml immerhin ausgezeichnet, wenn auch nicht mit dem Prix Goncourt, für den ein Werk autofiktionaler Eigenfokussierung gewählt wurde. Als gäbe es keine Welt außerhalb der eigenen und würde diese nicht längst davon massiv beeinflusst.

Das spielt aber in den Romanen der Buchpreislonglist gar keine Rolle, ebensowenig in der Rezeption. Andere Dinge machen die Musik. Ein willkürliches Bespiel. Die taz etwa kümmert das Geschlecht der sechs Autoren, die auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gekommen sind. Die Shortlist wäre »geradezu passgenau um die Figur des älteren weißen männlichen Autors herumgebaut

Was soll das? Warum nicht gleich darauf verweisen, dass die Nachnamen mit dem Anfangsbuchstaben A-M auf der Shortlist marginalisiert werden?

Literatur-Preise werden nie nach literarischer Qualität vergeben. Das ist auch völlig in Ordnung. Insofern sind diese Preise auch Gradmesser für das, was dem Publikum als zeitgemäß präsentiert wird. Als Indikator für die weltabgewandte Lese- und vielleicht auch Leseweise ist die Longlist des Deutschen Buchpreises dank der Leerstelle bezüglich des wichtigsten Themas unserer Tage eine Schande.

*Rezensionsexemplar

Lesemonat August 2023

Elf Bücher im Lesemonat August, thematisch, zeitlich und in ihrer Form sehr breit gestreut. Tagebücher und Augenzeugenberichte bilden einen Schwerpunkt, damit befasse ich mich in einem kurzen Beitrag. Cover beim jeweiligen Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Starke Frauen können scheitern. Larissa Reissner war eine starke Frau, die auf tragische Weise gescheitert und früh gestorben ist. Steffen Kopetzky hat ihr in seinem Roman Damenopfer ein literarisches Denkmal der Extraklasse gesetzt, sein Buch ist eine ebenso mutige wie gelungene und dem Sujet angemessene Umsetzung der Idee, sich Leben und Sterben der außergewöhnlichen Frau zu widmen. Großartig ist die Sprache, bildstark und bei aller Tragik ironisch und voller Komik, was der Schwergewichts-Lektüre eine wohltuende Leichtigkeit verleiht. Ein heißer Kandidat für mein »Buch des Jahres«.

„Wie fängt so etwas an?“, heißt es an einer Stelle im Buch. „So etwas“ meint das Bild Konzert von Heinrich Vogeler, das berühmteste aus der so genannten Künstler-Kolonie Worpswede. Die Antwort gibt der Roman Konzert ohne Dichter von Klaus Modick, der kunstvoll die Ereignisse nachzeichnet, die letztlich in diesem Bild mündeten. Als passionierter Kunstbanause lese ich Künstlerromane mit großem Genuss und – dank Internet – immer auch einem Seitenblick auf die Bilder.

Große Themen greift der Kriminalroman Das neunte Gemälde von Andreas Storm auf: Kunstraub durch die Nationalsozialisten, unrechtmäßiger Handel mit geraubter Kunst, Unterwanderung der westdeutschen Sicherheitsorgane durch ehemalige Angehörige der SS. Jedes für sich ist  interessant, die Verstrickung im Rahmen eines vielschichtigen Kriminalfalls ein spannender, allerdings geraten das Erzählen und die Personen des Romans ein wenig zu „glatt“, flüchtig und hastig. Am Ende bleibt das Gefühl, dass durch Weniger hätte Mehr werden können.

Noch immer tobt der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Im August habe ich mehrere Bücher über das Thema beendet und teilweise besprochen. Wie in meinem  Lesemonat Juli ausführlich erläutert, dient derartige Lektüre dem Informieren, der Orientierung, dem Bedürfnis nach Begreifen und dem Abstand von der kurzatmigen Tagesberichterstattung. Bücher sind in diesem Sinne unersetzlich, denn sie eröffnen Perspektiven: die eines deutschen Freiwilligen auf Seiten der Ukrainer (Schützenhilfe von Jonas Kratzenberg), eines russischen Luftsturmsoldaten (ZOV von Pawel Filatjew), dem Kriegstagebuch eines in Charkiw lebenden Zivilisten (Feuerpanorama von Sergej Gerassimov) und die einer kurzen, aber umfassenden Darstellung des Krieges und seiner Ursachen (Der Krieg gegen die Ukraine von Gewndolyn Sasse).

Ganz passend dazu sind die Tagebücher Hermann Stresaus, die unter dem Titel Als lebe man nur unter Vorbehalt veröffentlicht wurden. Es ist frappierend, wie hellsichtig der Autor gewesen ist; dabei stand ihm nur die propagandadurchseuchte Presse bzw. das Radio zur Verfügung. Der Schlüssel liegt im Nachdenken. Seine Aufzeichnungen sind auch ein Kontrapunkt zu dem langen, bis heute hörbaren Echo der NS-Propaganda, er schildert, wie der Krieg in den Alltag drängt, ihn trotz aller kleinen Fluchten beherrscht.

Wovon Stresau nichts wusste und wir heute nur durch eine Indiskretion eines Teilnehmers wissen, ist Thema einer Graphic Novel: die Wannsee-Konferenz. Anfang 1942 hat diese stattgefunden, beschlossen wurde nicht weniger als der Tod von bis zu elf Millionen Menschen. Ein bürokratischer Akt des Grauens, in seiner Art singulär. Die Graphic Novel von Fabrice le Hénanff setzt das düstere Thema auch künstlerisch sehr gelungen um.

In der Philosophie bin ich nur Zaungast. Für mich ist das Buch Hegels Welt perfekt geeignet, um mein Wissen zu vermehren und mich an und über meine Grenzen des Verständnisses hinauszuführen. Ich habe eine Menge Eindrücke über Hegels Leben und Wirken erhalten, die Zeit, in der er lebte, was spannend genug. Seine Weltsichten werden in Jürgen Kaubes Sachbuch auch vorgestellt, hier konnte ich nicht überall folgen. Das hat den Lesegenuss jedoch keineswegs getrübt.

Die geheime Geschichte ist meine zweite Begegnung mit einem Werk der amerikanischen Schriftstellerin Donna Tartt. Kurz: Ihr Distelfink gefällt mir besser. Die geheime Geschichte ist ein ausschweifender Roman im College-Milieu der US-Ostküste. Eine kleine, fast geschlossene Gruppe von Studenten des Faches Altgriechisch begeht einen Mord – das ist kein Spoiler, denn das erfährt der Leser ganz früh. Dank der ausgeklügelten Handlungsstruktur kommt eine Menge Spannung auf, man hat stets das Gefühl, gleich passiere noch etwas, während die Erzählung durch das Dasein des Protagonisten streift. Aber: zu ausschweifend erzählt.

Bloggestöber

Für mich völlig überraschend und in der noch recht kurzen Bloghistorie einmalig ist das Interesse an meiner kurzen Buchbesprechung von Feuerpanorama, mit dem der Schriftsteller Sergej Gerassimov die ersten Monate des russländischen Angriffskrieges gegen die Ukraine schildert. Bislang sind die Bücher um die Ukraine auf eher verhaltenes Interesse gestoßen, Kriege ermüden auch jene, die in der Ferne bloß zuschauen und nur mittelbar betroffen sind. Umso mehr freut mich das Interesse an diesem Buch.

Ein historischer Roman, der sich nicht nur einem hochspannende Thema auf komplexe Weise nähert und noch eine Utopie und ihr Scheitern schildert, ist Der Sklavenkrieg von Arthur Koestler, dessen Besprechung auf reges Interesse gestoßen ist. Das gilt auch für mein »Sachbuch des Jahres«, das epische, epochemachende Die wahre Geschichte der Wikinger von Neil Price, dessen ausführliche Vorstellung zum Glück viele Leser gefunden hat.

Neues gibt es auch auf meiner Blogseite Piratenbrüder: Das Cover des vierten Bandes Vinland kann jetzt betrachtet werden, außerdem habe ich den Klappentext veröffentlicht. Der vierte Teil der Buchreihe hat zwei Zeitebenen, von denen eine in der Wikingerzeit spielt. Das Buch erscheint Ende 2023 / Anfang 2024. Mittlerweile ist auch das eBook des ersten Teils Eine neue Welt erhältlich, Band zwei Chatou erscheint in wenigen Tagen.

Augenzeugentagebücher & -berichte

In diesem Moment bin ich von der Lektüre eines fürchterlich guten Buches aufgestanden und an den Schreibtisch getreten, um mich einem wichtigen und sehr aktuellen Thema zu widmen: (Kriegs-)Tagebüchern und Augenzeugenberichten. Das Buch, von dem ich spreche, stammt von Hermann Stresau, der von 1933 bis 1945 Tagebuch geführt hat. Das Thema betrifft aber auch jene schriftlichen Erzeugnisse, die aus der von Russland mit Krieg überzogenen Ukraine stammen. Einige davon habe ich bereits auf meinem Blog besprochen.

Auf eine erschreckende Weise überschneiden sich beide Themen. Damals wie heute liest man die gleichen Ortsnamen, Kyjiw, Charkiw, Krim, Cherson, damals wie heute ist die Ukraine Schauplatz eines brutalen Überfalls, damals wie heute ist das Ziel des Angreifers die totale Auslöschung, damals wie heute hören wir von Folter, Erschießungen, Deportationen und Kriegsverbrechen.

Bei allem Gleichen sollen auch Unterschiede genannt werden: Damals griff die deutsche Wehrmacht an, heute Russland, damals verteidigte sich ein brutales Diktatorenregime unter Stalins Knute, heute eine westlich orientierte Demokratie, damals wurden schon in den ersten 500 Tagen hunderttausende Zivilisten von deutschen Einsatzgruppen erschossen, diese Dimension zumindest ist heute geringer. Bis jetzt, denn die Drohung, Atomwaffen einzusetzen, beinhaltet durchaus die Möglichkeit einer massenhaften, gezielten Tötung von Zivilpersonen.

Tagebuchschreiber sind Augen- und Ohrenzeugen und gleichzeitig zwangsläufig »blind«. Man sieht es im Falle historischer Tagebücher, wie Stresaus Als lebe man nur unter Vorbehalt, wie sehr die Gedanken, Annahmen und Schlüsse fehlgehen. Auch ein atemberaubend hellsichtiger Mensch wie Hermann Stresau, der sich von den Propagandastürmen des NS-Regimes und militärischen Siegen nicht hat mitreißen lassen, irrte bisweilen.

So geht es auch jenen, die seit dem Februar 2022 Zeugnis ablegen und schildern, was sie erleben und wie sie das Erlebte wahrnehmen. Das ist immer lohnenswert, denn es liefert einen – trotz allem immer auch gefilterten – Blick auf die Dinge. Das ist wichtig zu wissen. Stresau wusste zum Beispiel sehr früh von dem, was mit den Juden geschah; nicht im Detail, nichts von den Vernichtungslagern, aber vom Stern (für den er verächtlichen Sarkasmus übrig hatte), den Deportationen der Juden und Massenerschießungen hinter der Ost-Front.

Ein Widerständler ist er dadurch nicht geworden, zumindest ist davon nichts in seinen Tagebüchern zu lesen. Davon kann man halten, was man will, aber so tritt uns der Augen- und Ohrenzeuge Stresau entgegen. Und so treten uns die Autoren von (Kriegs-)Tagebüchern aus der Ukraine entgegen; es geht dabei aus meiner Sicht nicht um Wahrheit oder Lüge, um Heldenmut oder Feigheit und andere reichlich unangemessene Kategorien. Als Leser bin ich kein Richter, sondern vor allem neugierig auf die Darstellung einer Erlebenswelt, historisch oder gegenwärtig.

Die Frage nach der Wahrhaftigkeit stellt sich natürlich. Stimmt es, dass der russische Soldat keine Kriegsverbrechen gesehen hat? Wie viel Wahrheit steckt in der Beobachtung von Schlägen, die russländische Kriegsgefangene einstecken musste? Wichtiger noch: Wie schwer wiegt das angesichts der russländischen Kriegsverbrechen? Kann man wirklich so gelassen Tagebuch führen, während die Heimatstadt unter schwerem Feuer liegt? Aus der zeitlichen und räumlichen Ferne bleibt mir wenig mehr, als das zunächst einmal so hinzunehmen und abzuspeichern, abzugleichen. Die Zeit für Antworten kommt später, jetzt ist die Zeit der Eindrücke.

*Rezensionsexemplar

Lesemonat Juli 2023

Ein bunter Mix aus Romanen, Sachbüchern und einer Graphic Novel kann ich für den Monat Juli präsentieren. In einem etwas längeren Text gehe ich der Frage nach, warum es sich gerade jetzt lohnt, Bücher über Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zu lesen. Cover vom jeweiligen Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Was für ein tolles Sachbuch! Die wahre Geschichte der Wikinger von Neil Price erfüllt mich noch immer mit einer tiefen Wärme und Freude. Ein monumentales, epochemachendes Werk über die Nordmänner und -frauen, in dem man auf viele Fragen (Kriegerinnen? Ja!) eine Antwort bekommt, das alles in wohldurchdachter, nachvollziehbar und verständlich aufbereiteter Form. Das ist ein ganz heißer Kandidat für mein Sachbuch des Jahres!

Noch immer tobt der schreckliche Krieg gegen die Ukraine. Warum sollte man sich jetzt noch einmal mit den ersten Monaten des russischen Angriffs- und Vernichtungskrieges und vor allem mit der Zeit davor befassen? Es dient zur Vergewisserung, wo die Ukraine jetzt steht – im Vergleich zu Ende Juni 2022. Katrin Eigendorfs sehr lesenswertes Buch Putins Krieg lässt nicht nur die ersten Kriegsmonate Revue passieren, es analysiert, liefert (historische) Hintergründe, ordnet ein, erklärt und entlarvt Propaganda und Lügen.

Ein ganz anderer Zugang zu diesem Thema bietet die Graphic Novel Die Reise des Marcel Grob. Sie erzählt die Geschichte eines Elsässers, der im Juni 1944 in die Waffen-SS gepresst wurde und an Kriegsverbrechen beteiligt war. Die Bilder sind auf eine sehr authentische Weise atmosphärisch, die Erzählung ist sehr spannend und – wichtig! – Fiktion. Vor allem aber werden Fragen aufgeworfen, die uns heute im Angesicht von Massakern wie Butscha unweigerlich bedrängen.

Lunapark ist der sechste Roman von Volker Kutscher um den Kriminalkommissar Gereon Rath; und ja – er ist mindestens genauso gut wie die beiden direkten Vorgänger, die sich aus meiner Sicht von dem Auftakttrio abheben. Diesmal wird es verwickelt, brutal gefährlich und das auf eine Weise, dass am Ende Protagonist und Umfeld nicht ohne Beschädigungen davonkommen. Wieder gelingt es Kutscher, ein historisches Ereignis (»Röhm-Putsch«) geschickt zum Teil der Handlung zu machen.

Joachim B. Schmidt ist mit seinem Roman Kalmann ein kleiner Glanzpunkt in der – nun, ja – Krimi-Literatur gelungen. Nicht umsonst ist einmal von Forest Gump die Rede, mit dem Kalmann ein recht bescheidenes Intelligenz-Niveau teilt; allerdings sind seine Gewaltausbrüche heftiger, wenn er in eine Sackgasse gerät, sich überfordert oder hilflos fühlt und Wut als Fluchtkorridor dient. Der Leser folgt ihm sehr unmittelbar, denn Schmidt gibt Kalmann die Rolle des Ich-Erzählers; sehr gelungen! Danke an Horatio-Bücher für die tolle Empfehlung und die schöne Buchbesprechung!

Das Thema von Rote Kreuze ist hoch interessant und bis in die Gegenwart sehr aktuell. Die stalinistische Sowjetunion ist ein brutaler, menschenverachtender Unrechtsstaat gewesen, wie sich an vielen Dinge zeigt. Auch die Behandlung der Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkrieges, wohlgemerkt der eigenen, die von den Deutschen, Rumänen, Bulgaren etc. gefangen genommen wurde. Sasha Filipenko verpackt das in eine gute Geschichte, wobei mir das Schicksal der erzählenden Figur etwas abgeschmackt vorkam. Lesenswert ist das Buch trotzdem. Eine ausführliche Besprechung findet sich hier.

Hedy Lamarr ist eine faszinierende Persönlichkeit. Schönheit und hohe Intelligenz, ein bewegtes Leben voller Brüche, Rückschläge und Erfolge, umflort von Tragik. Trotz einiger Mankos ist Die einzige Frau im Raum* von Marie Benedict lesenswert, wann hat schon eine Film-Diva einen Hochleistungs-Waffentechnologie entwickelt und gleichzeitig die bornierte Engstirnigkeit einer von Männern dominierten Welt entlarvt?

Ein scharfäugiger und -züngiger Beobachter ist Hermann Stresau gewesen, wie sein Tagebuch Von den Nazis trennt mich eine Welt* zeigt. Obschon konservativ in seiner Haltung verweigerte er 1933 den Kotau gegenüber den Nationalsozialisten und verlor seine Anstellung. Wirtschaftlich in dauerhaften Turbulenzen behielt er die Entwicklung im Blick, kommentiert gedankenreich und vor allem zutreffend in seinem Tagebuch. Die Einträge werden immer seltener, je näher der Krieg kommt; dafür immer interessanter, während das erste und zweite Jahr noch sehr von den eigenen Problemen geprägt sind.

Arthur Koestler geht es in seinem Historischen Roman Der Sklavenkrieg* nicht um eine spannende Schilderung des Aufstands unter Spartacus, sondern um die großen Fragen. Etwa: Warum handeln Menschen gegen ihre eigenen Interessen? Um derlei durchzudeklinieren hat er sich dieses Sujet ausgesucht. Sklaven kämpfen für ihre Herren gegen die aufständischen Sklaven – warum? Das alles ist auf sprachlich hohem Niveau erzählt und in eine anspruchsvolle Form gegossen; wer hier das beliebte Spiel um »historische Wirklichkeit« spielt, ist selbst schuld.

Stimmungsvoll und spannend erzählt Kai Meyer seinen Roman Die Bücher, der Junge und die Nacht. Auf drei Zeitebenen entfaltet sich eine verwickelte Geschichte, die tief im Abgrund der deutschen Geschichte ihren Anfang nimmt, und den Leser bzw. Hörer auf eine Reise nimmt, die es in sich hat. Mir persönlich gefällt die Umsetzung des Hörbuchs mit drei Sprechern nicht besonders, ich fühle mich eher gestört durch den ständigen Stimm-Wechsel, der für das Verständnis unnötig ist. Eine ausführliche Buchbesprechung mit vielen zusätzlichen Informationen einschließlich Interview mit dem Autor gibt es bei Kaffeehaussitzer.

*[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Blog-Monat

Auf meinem Blog war es im vergangenen Monat Volker Kutschers Roman Lunapark, der die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, überraschenderweise gefolgt von zwei älteren Besprechungen: Éric Vuillards Tagesordnung und Nicolas Mathieus Wie später ihre Kinder. Was mich sehr freut, ist die Aufmerksamkeit für die Bücher, die sich mit Russlands Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine auseinandersetzen.

Einen recht großen Teil der Bücher habe ich diesmal nicht selbst besprochen, aber versucht, auf andere Blogs zu verweisen. Das werde ich so beibehalten.

Besonders gefreut habe ich mich über die (Neu-)Erscheinung meines ersten Romans Eine neue Welt der Buchreihe Piratenbrüder, zunächst als Taschenbuch. Das neue Cover sieht toll aus und kommt auch sehr gut an. Bald gibt es auch die eBook-Version – und: Band 2 Chatou sowie Band 3 Doppelspiel erscheinen auch in den kommenden Wochen. Cover und Klappentext stehen schon auf der Seite Piratenbrüder.

Bücher: Gegen die Gewöhnung & für die Orientierung

Im zurückliegenden Monat passierte der russländische Angriffskrieg gegen die Ukraine den fünfhundertsten Tag. So ganz stimmt das nicht, denn Krieg führt Russland schon seit 2014 gegen das Nachbarland, was im Westen geflissentlich ignoriert, heruntergespielt und verdrängt wurde (wie der »Frieden« aussah: Serhiy Zhadan, Internat).

Entsprechend aufgeschreckt waren viele im Februar 2022. Bedauerlicherweise ist bei vielen Zeitgenossen recht schnell  das eigentliche Drama in der Ukraine gegenüber hauseigenen und -gemachten Problemen (Gas, Inflation) in den Hintergrund gerückt.

Ungewöhnlich ist das nicht, das Desinteresse an der Ukraine, ja an ganz Ostmitteleuropa ist groß. Menschen lassen nicht gern von ihren Vorurteilen, das bequeme Sofa der eingekochten Meinungen wird ungern verlassen, stattdessen wird verdrängt. Das funktioniert nur mit einem nicht unerheblichen Aufwand, dem man als politisch-historisch geschulter Zeitgenosse staunend folgt.

Nach fünfhundert Tagen Krieg hat bei der überwältigenden Mehrheit obendrein eine Gewöhnung eingesetzt, außer bei den Betroffenen vor Ort in der Ukraine, versteht sich. Das ist normal und durchaus gefährlich. Ermüdung und der Wunsch, der Krieg möge bald aufhören, sind verständlich.

Wie kann man damit umgehen?

Ein Weg ist, die Sozialen Medien einmal zu meiden und sich einige Bücher zu beschaffen, am besten von Ukrainern oder wenigstens von dort lebenden Autoren bzw. Journalisten über die Ukraine, um sich noch einmal zu vergegenwärtigen, worum es eigentlich geht. Statt nur schnelle (manchmal aber sinnvolle) Kurzbeiträge zur Kenntnis zu nehmen, lohnt es sich, tiefgreifende, zusammenhängende Analysen, Erzählungen, Essays oder Berichte zu lesen.

Auf meinem Blog finden sich eine ganze Reihe von Beispielen (Schlagwort Ukraine oder Ukrainelesen), weitere werden folgen, denn ich setze das selbst um, vor allem natürlich aus dem Bedürfnis heraus, zu begreifen. Konkret hilft mir etwa das Buch Putins Krieg von Katrin Eigendorf, noch einmal zu vergegenwärtigen, wo “wir” vor einem Jahre standen und jetzt stehen – es ist eine Impfung gegen das Gefühl des Stillstands.

Auch für uns gilt: Es ist die Zeit, in der wir leben. Wir müssen sehen, wie wir damit umgehen. Bücher können dabei helfen, denn sie können dabei helfen, eine Orientierung zu gewinnen. Anders als die hektischen, immer widersprüchlichen und von Trollen und Troll-Bots unterwanderten Sozialen Medien ermöglichen sie einen langen Blick auf die Ereignisse und den Weg dahin.

Lesemonat Juni 2023

Recht wenig Rezensionsexemplare, dafür wieder einmal sehr breit gestreut: Mein Lesemonat Juni. Cover jeweiliger Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Ab und zu lese ich gern einen Thriller von Don Winslow. In diesem Monat war es Frankie Machine, um das ich eine recht lange Zeit herumgeschlichen bin, weil ich mit dem Titel nichts anfangen konnte. Die Geschichte aber ist wirklich gut, sehr spannend, während sich peu á peu die Gründe und Hintergründe entpuppen, die für das Leben der Hauptfigur eine dramatische Wendung bringen. Bei Winslow habe ich immer den Eindruck, dass er weiß, wovon er schreibt; so auch hier.

Hilmar Klute ist mir als Essay-Autor in der Süddeutschen Zeitung mehrfach aufgefallen, also habe ich die Gelegenheit genutzt, einen längeren Roman von ihm zu hören. Sprachliche Köstlichkeiten pflastern den Weg der Erzählung, die auch deswegen einen sperrigen Titel benötigt, weil sich Die schweigsamen Affen der Dinge ein wenig zu lang über einem recht dünnen Sujet ausbreitet. Das war schon okay, die von den Essays geweckten Erwartungen hat das Buch aber nicht erfüllt.

Wozu Rassismus? von Aladin El-Mafaalani ist, was ich als akademische Analyse und Darstellung von Rassismus und Antirassismus bezeichnen würde. Man erfährt eine Menge, vielschichtig und wohlgesetzt fordert das Buch geradezu Widerspruch und Nachdenken heraus – ein generelles Gütesignal. Wie der real existierende Antirassismus aussieht, nun, die Geschichte der Ismen gibt Auskunft. Einen Vorgeschmack liefern die Sozialen Medien, die vom konstruktivem Diskurs, den El-Mafaalani immer wieder anführt, so weit entfernt sind wie das Leben vom Paradies.

Immer wieder gern lese ich Bücher von Klaus Modick. Im Juni war es Keyserlings Geheimnis: Graf Eduard von Keyserling ist ein vergessener Schriftsteller aus dem gleichfalls vergessenen deutsch-baltischen Adel. Modick erweckt beides in seinem Roman wieder zum Leben, mit einer sehr gelungenen, atmosphärisch passenden Sprache. Von Keyserling habe ich tatsächlich ein sehr schmales Büchlein gelesen: Wellen.

Überraschend spannend las sich Krieg der Welten von H.G. Wells. Wie auch immer man den Roman oder die etwas längere Erzählung einordnet, bemerkenswert ist der Kniff, Kritik an Missständen gewissermaßen über die Bande zu äußern. Wells lässt seine Hauptfigur in die Zukunft reisen und dort erleben, wohin die scharf getrennte Klassengesellschaft führen kann. Wie im Genre Dystopie üblich, enthält das Werk eine Warnung an die Gegenwart.

Gute Unterhaltung bot der Urban-Fantasy-Roman Ritual von London von Benedict Jacka. Seit ich Bekanntschaft mit dem unvergleichlichen Bartimäus von Jonathan Stroud gemacht habe, verschlägt es mich immer mal wieder in dieses Genre, das entspannendes Lesen ohne besonderen Anspruch verspricht. Jacka hat eine ganze Reihe um den Magier Alex Verus gestrickt, das Ritual ist der zweite Teil.

Enttäuscht hat mich die Biographie Diokletian* von Alexander Demandt. Auf die vielen Fragen, die ich um den römischen Kaiser hatte, finden sich nur wenige Antworten. Das liegt sicherlich auch an der dürftigen Quellenlage, allerdings ist der Ansatz des Buches auch eher eine paraphrasierende Darstellung dessen, was überliefert ist.

Eine sehr positive Überraschung ist Der Meister des Jüngsten Tages von Leo Perutz gewesen. Leo wer? Nun, der Schriftsteller hat diesen Roman 1923 veröffentlicht, obwohl er zu einem Welterfolg wurde, gehört Perutz nicht zu jenen Autoren der Weimarer Zeit, die bis heute gern und häufig gelesen werden. Bedauerlich, denn dieses Werk hat Qualitäten!

Das lässt sich auch für Königsmörder von Robert Harris, in dem der Leer der Verfolgung zweier Oberste aus der Armee Oliver Cromwells, deren Unterschrift auf dem Todesurteil für den König ihr eigenes Leben verwirkt. Sie fliehen in die amerikanischen Kolonien, ein fanatischer Häscher ist auf ihren Spuren. Großartige und ausschweifende Schilderung der Lebensumstände um 1660, der allgegenwärtige religiöse Fanatismus ist beeindruckend; und schauderhaft.

*[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Blog-Gestöber

Éric Vuillard hat in diesem Jahr mit Ein ehrenvoller Abgang einen für ihn sehr typischen Roman vorgelegt, der sich in gewohnt engagierter Weise mit dem Indochina-Krieg auseinandersetzt. Beim Blog-Stöbern bin ich bei literaturreich (Petra Reich) auf eine ganz hervorragende, ausführliche Besprechung gestoßen, die einen etwas anderen Akzent setzt, als meine eigene. Bücher sind wie Berge, sie ermöglichen unterschiedliche Perspektiven und Zugänge. Éric Vuillard – Ein ehrenvoller Abgang.

Ein mächtiges Unterfangen gibt es bei Julian Zündorf zu lesen: Vier Maximalist Novels über den Zweiten Weltkrieg. Ein monströser Krieg verarbeitet in monströsen Romanen, von denen ich keinen kenne, obwohl ich – wie man schon an der Schlagwortwolke auf meine Homepage erkennen kann – mit dem Thema auf vertrautem Fuß stehe. Der Zauber von Literaturblogs entfaltet sich in solchen Momenten, denn hier bekommt der Blog-Leser einen kleinen Zugang zu den monumentalen Werken und kann sich überlegen, ob er eines davon zur Hand nimmt oder sich mit dem Eindruck begnügt. Grossmanns Stalingrad werde ich nicht lesen, weil ich bereits Leben und Schicksal kenne und für interessanter halte. Um Die Wohlgesinnten schleiche ich schon geraume Zeit herum, Die Enden der Parabel und Europe Central klingen so verlockend, dass ich nicht lange widerstehen können werde.

Einige interessante Ausblicke auf die Herbstprogramme der Verlage:
literaturreich
Buch-Haltung
elementares lesen

Blog-Monat

Das meiste Interesse hat im Monat Juni die Besprechung von Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge* auf sich gezogen, gefolgt von Tony Hillerman: Blinde Augen* und Dawid Hewson: Garten der Engel.*

Im ersten Halbjahr 2023 wurde meine eher kritisch gehaltene Buchbesprechung zu Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen am häufigsten angesteuert, außerdem Kenneth Fearing: Die große Uhr und (sehr erfreulich!) Alexis Jenni: Die französische Kunst des Krieges, eines meiner Lieblingsbücher überhaupt.

Noch häufiger als der Buchblog wurde die Blog-Seite Piratenbrüder aufgerufen, wo sich nach langer Pause einiges getan hat: Die neuen Cover der ersten drei Bände sind dort zu sehen, außerdem kann man sich die Klappentexte durchlesen. Die Romane werden im neuen Look bald (wieder) erhältlich sein.

Indochina- / Vietnam-Krieg: Perspektive erweitern

Ganz besonders gefreut habe ich mich über das Interesse am Roman Der Gesang der Berge von Nguyễn Phan Quế Mai, der eine Lektüre-Lücke geschlossen hat. Ich kenne zwar eine Reihe von Romanen, die sich um den Indochina– (Frankreich) und vor allem Vietnam-Krieg (USA) drehen, natürlich auch eine Anzahl von Filmen und auch eine gute Dokumentar-Reihe, doch bleiben die Nordvietnamesen meist seltsam gesichtslos.

Es gibt sehr gute Romane zum Thema Vietnam: Alexis Jenni, Die französische Kunst des Krieges; Karl Marlantes, Matterhorn; Graham Green, Der stille Amerikaner; Èric Vuillard, Ein ehrenhafter Abgang; Viet Thanh Nguyen, Der Sympathisant; Nguyễn Phan Quế Mai, Der Gesang der Berge. Eigene Aufnahme.

Der Gesang der Berge schildert die beiden großen Kriege, außerdem die Besetzung Indochinas durch die Japaner aus der Sicht einer nordvietnamesischen Familie. Mehr noch: Vor allem die Frauen und Mädchen, die zuhause die Stellung halten mussten, während die männlichen Familienmitglieder an der Front kämpften, rücken in den Fokus des Überlebenskampfes.

Das ist teilweise nichts anderes als die Hölle. Der Leser erfährt die unendlichen Leiden, denen die nordvietnamesische Bevölkerung ausgesetzt war, endlich aus deren Sicht. Bisher waren Nordvietnamesen uniform gekleidete »Gegner«, wenn man sie denn überhaupt zu Gesicht bekam. Im Guerilla-Krieg blieben sie meist unsichtbar, wenn sie offen antraten, haben ihnen die Amerikaner immense Verluste zugefügt.

Der Roman stellt einen guten und notwendigen Kontrapunkt zu Filmen á la Platoon dar. In diesem Streifen stirbt in einer Szene ein amerikanischer Soldat (Elias Grodin, dargestellt von Daniel Dafoe), während gleichzeitige zahllose gesichtslose Nordvietnamesen (die sich reichlich dumm anstellen) von Hubschraubern unter Feuer genommen werden und sterben. Ein Drama ist aber nur der sterbende Amerikaner.

Mit Romanen á la Der Gesang der Berge treten Individuen aus der grauen Masse uniformierter Schatten, Menschen, die ein schauderhaftes Schicksal erlitten haben und ein bemerkenswerte Kraft entfalteten, um zu bestehen.

Lesemonat Mai 2023

Sehr gute Romane und Sachbücher bei einer deftigen Enttäuschung – mein Lesemonat Mai war großartig. Cover jeweiliger Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Drei Bücher dieses Lesemonats haben einen ähnlichen Wesenskern: Sie befassen sich in autofiktionaler Manier mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Protagonisten und ihre Familien. Jedes Buch unternimmt das auf eine sehr eigene Weise, was allein wegen des Blickwinkels kein Wunder ist: Während Andreas Fischer mit Die Königin von Troisdorf die deutsche (Nachkriegs-)Perspektive im Fokus hat, dreht sich Stefan Hertmans’ Der Aufgang* um den aus Belgien stammenden Kollaborateur Willem Verhulst; die Familie im Der Stammhalter* von Alexander Münninghoff stammt aus der Niederlanden, ist vor Kriegsausbruch im Baltikum ansässig und kehrt in die Niederlande zurück.

Mich haben alle drei Bücher fasziniert. Sie machen fühlbar, wie sehr der Zweite Weltkrieg die Verhältnisse in Europa umgewälzt hat, wie tiefgreifend die Folgen gewesen sind und dass nach dem letzten Schuss nicht alles »vorbei« war. Alexis Jenni hat es in seinem großen Roman Die französische Kunst des Krieges so formuliert: »Die Stille nach dem Krieg ist immer noch Krieg.« Das haben die folgenden Generationen zu spüren bekommen.

Auch Garten der Engel* von David Hewson führt in den Zweiten Weltkrieg, nach Venedig im Jahr 1943. Nachdem das Land die Seite gewechselt hat, weht durch die von der Wehrmacht besetzten Gebiete ein rauer Wind; den Bürgern jüdischen Glaubens droht die Vernichtung in den Blutmühlen des Naziregimes. Hewson strickt darum einen fesselnden Roman, der – trotz kleiner Schwächen – unbedingt lesenswert ist.

Das gilt auch für Serhij Zhadans Himmel über Charkiw. Kurz gesagt: Beeindruckende Impressionen aus der Frontstadt in der Ukraine aus den ersten Wochen des russländischen Überfalls. Das ist auch das Thema von Christoph Brumme, der deutsche Schriftsteller lebt in Poltava, unweit Charkiws, und schreibt wegen seiner Herkunft auch mit einem scharfen Blick in seine alte Heimat. Im Schatten des Krieges* lebt es sich wesentlich unbequemer als auf dem Sofa der Selbstgefälligkeit.

George Orwell ist vor allem durch seinen epochalen Roman 1984 berühmt und bekannt; doch hat er auch viel im journalistischen Bereich publiziert, unter anderem auch Beiträge, die in den Wochen und Monaten um die deutsche Kapitulation 1945 herum entstanden sind. Diese finden sich in dem kurzen Büchlein Reise durch Ruinen und sind bis heute sehr lesenswert; wie auch das vorzügliche Nachwort von Volker Ullrich.

Ab und zu behaupte ich, dass ich Krimis nicht gern läse. Stimmt nicht, denn das betrifft nur wirkliche Kriminalfälle á la Tatort; whodunit interessiert mich meistens nicht, es sei denn, es geht in dem entsprechenden Roman um mehr. So verhält es sich bei den Büchern von Tony Hillerman. In Blinde Augen* geht die Navajo-Police wieder auf Verbrecher-Jagd, ganz wunderbar werden Fall und Aufklärung mit Mystik und Kultur der Navajo verbunden, aber auch mit dem Genozid an den indianischen Gemeinschaften. Sehr spannend ist es obendrein.

Differenziert und wohltuend unaufgeregt setzt sich Jens Balzer mit dem Thema Appropriation auseinander und entwickelt einen eigenen Ansatz, mit dem Thema umzugehen. Seiner Ethik der Appropriation kann man folgen oder nicht, jedenfalls ist der Leser nach der Lektüre um einiges klüger. Erfreulich: Balzer unterstreicht, dass jenes aktivistische Eintreten für die historisch Geknechteten einen imperialen, kolonialistischen Gestus beinhaltet. So ist es.

Ich mag keine programmatische Literatur, aus gutem Grund. Pantopia von Theresa Hanning liegt eine tolle Idee zugrunde, die jedoch mit Beton an den Füßen ins tiefe Wasser stolpert und absäuft. Teile dieses Romans klingen wie Parteitagsreden, die beiden Hauptfiguren wirken ebenso künstlich und unwirklich, die Pläne oft naiv, die Gegenspieler sind keine Lichtgestalten und irgendwie schummelt sich die Handlung märchenhaft zum Ende hin durch. Ich habe beim Hören oft gedacht, hoffentlich wird das niemals Wirklichkeit und leider nicht abgebrochen.

Da war ich in einem anderen Fall klüger. Schon nach wenigen Seiten war die tänzelnde, selbstverliebte Sprache nicht auszuhalten. Also ging ich nicht mit auf die Afghanische Reise von Roger Willemsen.

Blog-Monat

Auf meinem Blog gibt es eine Schlagwortwolke. Ich mag das sehr, auch wenn die graphische Umsetzung etwas schlicht daherkommt. Die Wolke aus Schlagworten lädt zum Stöbern ein, außerdem gibt sie Auskunft über die inhaltlichen Schwerpunkte der Bücher, die von mir vorgestellt werden.

Wenig verwunderlich steht Historischer Roman ganz oben, Politik, Sachbuch, Deutschland, Frankreich und USA sowie Zweiter Weltkrieg gehören auch zu den von mir am häufigsten verwendeten. Tatsächlich ist das der Kern dessen, was in vielen Romanen und Sachbüchern eine wesentliche Rolle spielt.

Die Wolke zeigt aber auch, dass diese Kernbegriffe umgeben sind von einem Schwarm an Schlagwörtern, die auf eine gewissen thematische Breite hinweisen und trotzdem in irgendeiner Weise in das Gravitationsfeld meiner Kernthemen gehören.

Neu sind drei Schlagworte: Familienroman, Generationenroman und Nachkriegsstille. Zuletzt habe ich eine Reihe von Büchern gelesen, die alle drei Aspekte miteinander vereinen: Aufgang, Der Stammhalter, Die Königin von Troisdorf, Garten der Engel – aber auch andere, wie Die Detektive vom Bhoot-Basar oder Der Gesang der Berge, die in Indien bzw. Vietnam spielen.

Familien und Geschichten, die mehrere Generationen betreffen, gibt es rund um den Globus; doch auch das, was ich Nachkriegsstille getauft habe, ist überall anzutreffen. Das Wort geht auf den bereits genannten Satz aus dem Roman Die Französische Kunst der Krieges von Alexis Jenni zurück, der sagt, die Stille nach dem Krieg sei immer noch Krieg.

Nachkriegsstille bestimmt die Zukunft

Wie sehr das stimmt und wie weit diese Nachkriegsstille reicht, wie sehr sie das Schicksal von Generationen nach dem Ende der Kampfhandlungen noch beeinflusst, zeigen diese Bücher eindringlich. Da wir Zeitgenossen eines großen, blutigen Angriffs- und Vernichtungskrieges sind, in der Russland seine brutale imperialistische Tradition fortführt, ist das Thema von beunruhigender Brisanz.

Trotz aller Zuversicht, dass die Streitkräfte der Ukraine letztlich den militärischen Sieg von Putins Russland zu verhindern und selbst triumphieren, wird es ein Verlust sein. Es geht dabei keineswegs nur um die ohnehin dramatischen materiellen Schäden, die in der Ukraine angerichtet wurden, sondern auch die immateriellen, die viel länger und ärger wirken werden.

Und das ist auch eine – sicherlich unangenehme – Lehre aus der Nachkriegsstille. Russland wird nur im Falle einer vollständigen Niederlage überhaupt in der Lage sein, wie Deutschland nach 1945 einen neuen, friedlichen, demokratischen Weg zu beschreiten. Erst der völlige Bankrott der imperialen putinistischen Ideologie wird das Fundament bilden.

Denn: 1939 hat Deutschland Polen nicht allein zerstört, auch die Sowjetunion, in deren direkter Nachfolge Putin Russland stellt, war mit dabei; sie hat Finnland angegriffen, Bessarabien besetzt und auch das Baltikum. Deutschland war Hammer, die Sowjetunion der Amboss, zwischen denen Ostmitteleuropa zermalmt wurde. Dieses Erbe wirkt in Russland frei von jeglichem Verantwortungsgefühl bis heute.

Lesemagnet

Ganz besonders viel Aufmerksamkeit hat im Monat Mai meine Buchvorstellung zu Andreas Fischers Die Königin von Troisdorf erfahren, die am häufigsten von allen Beiträgen von den Besuchern meines Blogs angesteuert wurde. Unter den Sachbüchern fand der Atlas von Christian Grataloup: Geschichte der Welt die meiste Aufmerksamkeit.

Ein Dauerbrenner ist und bleibt mein Beitrag zu dem Roman Propaganda von Steffen Kopetzky, der drauf und dran ist, den bisherigen Leseliebling unter meinen Buchvorstellungen, Nicolas Mathieu, Wie später ihre Kinder, abzulösen. In einigen Wochen erscheint Kopetzkys neuer Roman, Damenopfer, den ich bereits lesen durfte. Die Buchbesprechung auf meinem Blog erfolgt im August.

[*=Rezensionsexemplar]

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