Schriftsteller - Buchblogger

Monat: Juni 2022 (Seite 2 von 2)

Literarische Begegnung mit F.C. Delius

Ende Mai 2022 ist der Schriftsteller Friedrich Christian Delius verstorben. Im Netz gibt es so viele Nachrufe, dass ich keinen hinzufügen möchte, stattdessen will ich meine Begegnungen mit seiner Literatur schildern. Der Grund ist: Delius hat einige sehr interessante, unterhaltsame und vor allem inhaltlich gewinnbringende Romane und Erzählungen verfasst, die »Birnen von Ribbeck« einmal ausgenommen.

Ich war selbst ein wenig überrascht, wie viele Bücher ich von ihm gelesen habe. In meinem Regal nehmen sie nur einen vergleichsweise geringen Raum ein, denn ich besitze nur Taschenbücher, außerdem fallen die Werke zum Teil recht schmal aus. Das ist aber kein Nachteil, denn Delius hat etwas zu sagen, wofür er eben nicht episch ausholen muss.

Das gilt für mein Lieblingsbuch von ihm: »Die linke Hand des Papstes«. Es ist ein perfekter Reisebegleiter für einen Trip nach Rom. Dort habe ich es mit großen Vergnügen ein weiteres Mal gelesen, abends, wenn es frisch geworden war und ich davor in meiner kleinen Unterkunft Schutz gefunden hatte. Tagsüber habe ich die üblichen Stätten der Stadt besucht und bin immer wieder auf einen caffé al banco irgendwo eingekehrt. Merke: Ein mürrischer Barista zaubert bisweilen tollen caffé.

Es geht um die Hand dieses Papstes namens Benedikt.

Das Buch über die linke Hand des Papstes reicht weit über Rom hinaus. Delius, der in dieser Stadt 1943 das Licht der Welt erblickte, hat mit Italien einige Rechnungen zu begleichen, die sich als Gegenpart der unerträglichen Schwärmerei gegenüber diesem Land lesen. Gesellschaftlich, politisch und religiös herrschen unappetitliche Zustände, die der Autor wunderbar boshaft und mit sehr spitzer Feder zu Papier bringt.

Besonders beeindruckt hat mich »Die Frau, für die ich den Computer erfand«. Was für ein Titel! Und was für eine Form! Delius nutzt die Szenerie eines Interviews bzw. Gesprächs, bei der nur der Befragte zu Wort kommt. Ja, so kann man einen ganzen Roman erzählen. Und was für einen. Konrad Zuse hat während des Zweiten Weltkrieges einen Computer gebaut, der tatsächlich funktionierte – 1945, in Göttingen, meiner Wahlheimat. Hier können Sie lange nach einem Hinweis darauf suchen, was sehr viel mehr über diese Stadt, die angeblich »Wissen schafft«, sagt als alle hübschen Fachwerkbauten.

Zuse hat auch gemalt. Seit Protrait von Bill Gates hat er diesem in den 1990er Jahren selbst übergeben.

Richtig gern gelesen habe ich auch »Die Flatterzunge«. Ein Musiker tourt mit seinem Orchester in Israel und unterzeichnet einen Getränkebeleg mit »Adolf Hitler«. Was nach dieser Entgleisung folgt, kann man sich denken, auch wenn die dem fiktionalen Text zugrundeliegende Handlung 1997, also lange vor den so genannten digitalen Scheiterhaufen namens Soziale Medien geschah. Was treibt jemanden zu so einer Tat? Delius gibt eine Art von Antwort.

Das erste Buch des Autors, was mir in die Hände fiel, war »Bildnis der Mutter als junge Frau«. Ein langer Innerer Monolog einer Einundzwanzigjährigen, die im Januar 1943 durch Rom geht, hochschwanger (Delius kam im Februar 1943 in Rom zur Welt), während ihr Mann in Afrika soldatiert. Es ist jene Zeit, als in Stalingrad eine ganze Armee verreckt und das große Sterben auch auf deutscher Seite beginnt; der befremdete Blick auf die scheinfriedliche Umwelt Roms aus einer Frau »in anderen Umständen« heraus ist berührend.

Im Januar 1943 waren Italien und das Deutsche Reich noch verbündet; in Rom war es ruhig. Ein dreiviertel Jahr später hatte sich alles gewandelt.

Ein ganz besonderer Reise-Roman ist »Spaziergang von Rostock nach Syrakus«, bei der Delius seinen Protagonisten auf den Spuren von Johann Gottfried Seume (»Spaziergang nach Syrakus«) nachvollziehen lässt. Aber: Die Hauptfigur lebt in der DDR, die sie illegal verlassen muss, um den Lebenstraum einer Reise nach Italien zu verwirklichen.

Besonders schön ist auch »Der Tag, an dem ich Weltmeister wurde«. Es verknüpft einen der Gründungsmythen der Bundesrepublik Deutschland, den WM-Sieg 1954, mit dem Befreiungsschlag eines Kindes, das sich aus dem erstickenden Überbau des heimischen Pastorvaters herauskämpft. Ein Fußballbuch? Nein.

Ein Gründungsmythos der Bundesrepublik; bei Delius Anlass für eine Lossagung.

Der Roman »Mein Jahr als Mörder« dreht sich um die mörderische Wut, die ein ungerechtes Urteil entflammen kann. Der Nazi-Richter Hans-Joachim Rehse, der während des so genannten Dritten Reichs unter anderem Widerstandskämpfer zum Tode verurteilt hatte, wird in der Bundesrepublik freigesprochen. Die Empörung lodert hell, ein Student entschließt sich zur Tat. Delius nimmt hier die Nachkriegsjustiz aufs Korn und berührt die uralte Frage nach »Gut« und »Böse«.

Lesemonat Mai 2022

Wer zu Lebzeit faul auf Erden” – hat eine stattliche Schlange an unveröffentlichten Buchvorstellungen im Backend seines Blogs. Vier der hier kurz angerissenen Bücher werden bald mit einer ausführlichen Präsentation gewürdigt, denn mein Lesemonat Mai war tatsächlich großartig und vielfältig. Zu Kohlhaas kann man unendlich viel sagen, ich belasse es lieber bei dem kurzen Stück unten, verbunden mit einer heftigen Leseempfehlung. Dem literarischen Schmuckstück kann, sollte man sich durchaus ab und zu aussetzen.

Auch der Roman von Daniel Mellem wäre eine eigene Buchvorstellung wert, seine Hauptfigur ist enervierend, unangenehm, faszinierend, genial, ein Sternengreifer, dessen vielschichtige Existenz die gewaltigen Umwälzungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts abbildet und eben auch das Schicksal eines Einzelnen, der seiner Zeit weit voraus ist und ihren sozialen und politischen Mechanismen zugleich hilflos (und eselig stur) gegenübersteht.

Mit Leonardo Paduras drittem Teil seines Havanna-Quartetts nehme ich meine Reise nach Cuba wieder auf. Bei diesem Werk lohnt es sich, das Nachwort vorher, nebenher oder nachher zu lesen. Ich habe es selten erlebt, wie ein paar Seiten einem Roman einen ungeheuren Glanz verleihen. Mit Petersons Vakuum geht es mal wieder in die Zukunft, wie schon Universum sehr unterhaltsam, originell strukturiert und Stoff zum Nachdenken gibt es auch. Danke noch mal an rezensionsnerdista für ihren Hinweis auf den Autor – Blogs lesen lohnt sich eben doch!

Wo ich schon einmal dabei bin: Dank des wunderbaren Buchblogs horatio-buecher bin ich auf Alida Bremers tolles Buch aufmerksam geworden – sie reiht sich ein in die Schar jener, die Wurzeln außerhalb Deutschlands haben und die deutsche Literatur mit ganz anderen Geschichten reicher machen, wie Stanišić, Haratischwili, Marinić, Ohde, Rávik-Strubel und viele mehr. Und Dubois? Prix-Goncourt!

Daniel Mellem: Die Erfindung des Countdown

Der Roman holt weit aus, führt den Leser zunächst in die Kindheit des Protagonisten, schildert ein wohlbekanntes Motiv, nämlich des unangepassten, aneckenden Kindes, das sich den engen Grenzen des Daseins nicht fügen will. Die Generation, der Hermann Oberth angehört, erfährt die Urkatastrophe des Ersten Weltkrieges am eigenen Leib. Der Bruder stirbt an der Front, und die Idee wird geboren, Kriege mit Hilfe einer Super-Raketen-Waffe unmöglich zu machen. Die Naivität ist ein Grund dafür, warum Oberth an den charismatischen Wernher von Braun gerät, und beide den Weg in die Finsternis beschreiten, an deren Ende eine Vergeltungswaffe steht. Während Millionen während des Gemetzels in den Tod gehen, endet Oberths Leben nicht, im Nachkriegsdeutschland und den Sieger-USA hinterlässt er Spuren.

Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas

Die Erzählung gehört zu den Texten, die ich am häufigsten (wieder-)gelesen habe. Je älter ich werde, desto besser gefällt sie mir. Erzählerisch ist es ein großes Werk, die Wechsel in der Dynamik, durch die Kleist die Aufmerksamkeit seiner Leser auf bestimmte Dinge richtet und von anderen fernhält, gehört für mich zu ganz großer Kunst. Früher habe ich mehr den Zorn verspürt und – Kohlhaas zwischenzeitliche Demut – nicht recht nachvollziehen können. Jetzt finde ich gerade diese Passagen, in denen Kleinigkeiten oder Zufälle (im Sinne von Max Frisch) dafür sorgen, dass alles in einem gewaltigen Desaster endet, zu den spannendsten. Der Einzelne im Mahlstrom der Macht. Zermalmt.

Leonardo Padura: Labyrinth der Masken

Ich mag keine Krimis, aber Bücher, die so tun als wären sie Krimis und in dieser populären Kulisse ganz andere Dinge erzählen. So ist das in den meisten Werken des cubanischen Autors Leonardo Padura, ganz besonders auch in diesem. Der Leser kann dem Abgründigen nicht entkommen, denn Padura zerbricht mit stilistischen Mitteln den Lesefluss. Er lässt ganz gezielt die Gesprächspartner des Ermittlers ungewöhnlich ausführlich erzählen, wo in diesem Genre gewöhnlich Dialoge die Last der Handlung tragen. Bei der Suche nach einem Mörder wird das sozialistische System bloßgestellt, seine menschenverachtende Homophobie und die Folgen für die Betroffenen, die zum Schweigen gebracht und gebrochen werden.

Ausführliche Buchvorstellung: Labyrinth der Masken

Phillip P. Peterson: Vakuum

Ein Roman über das Nichts? Schlimmer noch, doch das wird jetzt nicht verraten. Zwar ist von Beginn an klar, dass etwas äußerst Gefährliches droht, eine totale Katastrophe, aber was und wie entfaltet sich auf eine schön konzipierte und spannende Weise, die ich nicht spoilern möchte. Ungewöhnlich ist der Roman wegen der Grenzüberschreitungen im Genre. Ja, Science Fiction, aber eben auch eine Art Dystopie, angereichert mit einer zweiten, im Umfang kleineren, aber für die gesamte Geschichte hochwichtigen und interessanten Erzähllinie auf eine anderen Zeitebene. Etwas verdruckst ausgedrückt, man möge es mir verzeihen – aber ich möchte das wirklich nicht verraten. Die Ereignisse sieht Peterson teilweise etwas optimistischer als ich es für den Fall tun würde; wunderbar, denn das gibt Stoff, über die reine Unterhaltung hinaus etwas nachzudenken. Wer sich nur unterhalten möchte – das kann auch das “Nichts”.

Ausführliche Buchvorstellung: Vakuum

Alida Bremer: Träume und Kulissen

Man könnte den Roman für einen Krimi in wundervoller Mittelmeer-Atmosphäre halten. Ja, es gibt einen Toten, die blaue Adria, Mahlzeiten, die von den Zutaten definitiv das Attribut “mediterran” verdienen, einen Polizisten, der sich auf die Spur begibt und mit allerlei Menschen dieser Stadt namens Split in einem Landstrich namens Dalmatien spricht, die tatsächlich ein wunderliches Durcheinander an Herkommen und Dasein bildet. Doch 1936 tobt bereits der Abessinienkrieg (wetten, Sie wissen davon nichts!), Deutschland rüstet und bricht den Versailler Vertrag, in der Ukraine sind Millionen verhungert (auch damals gab es Verharmloser), Juden werden im Nazi-Reich gepeinigt, politische Flüchtlinge sind in der Stadt, Schlepper machen mit ihnen Geld und Nationalisten, Faschisten und andere Extremisten laufen sich warm. Ja, das Unheil, von dem wir Nachgeborene wissen, lässt Idyll und Leser frösteln.

Ausführliche Buchvorstellung: Träume und Kulissen

Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise

Dieser Roman hat den Prix Goncourt erhalten, ein Literaturpreis, der mich bislang nur ein einziges Mal enttäuscht hat (Leïla Slimani: Dann schlaf auch du). Es sagt eine Menge, dass auch dieser Roman trotz der Enttäuschung absolut lesenswert ist. Wie bei – fast – allen Preisträgern ist die Sprache herausragend! So viele wunderbare Sprachbilder, ein Fest treffender Ausdrücke. Und der Inhalt? Paul, der Ich-Erzähler, sitzt im Gefängnis, anders als bei Grass´ Blechtrommel kann er nicht in Ruhe schreiben, sein Zellgenosse ist ein mörderischer Rocker, die Zustände in der winzigen Zelle und dem Gefängnis sind erbärmlich. In langen Schleifen wird der Werdegang Pauls, seine ungewöhnliche Herkunft und sein Leben geschildert, auf eine spektakuläre Weise unscheinbar und dennoch mit einiger Wucht auf üble soziale Schieflagen zielend. Und das ist eine der zentralen Zielrichtungen des Romans – eine beißende Kritik an den unmenschlichen Auswüchsen des Kapitalismus.

Ausführliche Buchvorstellung: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise.

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