Schriftsteller - Buchblogger

Monat: Oktober 2022 (Seite 1 von 2)

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Ein großer Roman des kubanischen Schriftstellers, der eines der zentralen Themen unserer Zeit berührt: Migration. Cover: Unionsverlag. Bild: Canva.

Dieser Roman ist wie ein Paket, kunstvoll verschnürt, verklebt und darunter viele Schichten, Kartons und Kästchen. Das alles öffnet sich Seite für Seite vor den Augen des Lesers. Ein Enthüllungsroman, der manchmal wirkt, wie ein Krimi ohne Detektiv oder Kommissar, und dabei viele Themen unserer Zeit berührt. Im Mittelpunkt steht eines der ganz großen: Migration.

Der Klappentext von Wie Staub im Wind gibt die Marschrichtung für die Leser vor, indem er auf »Geheimnisse« verweist, die nach langen Jahren ans Licht kämen. Trotz eines Toten, verschiedener Fluchten und einer zerbrechenden Freundesgruppe handelt es sich jedoch nicht um einen Krimi, statt Kommissar und Polizeiarbeit folgt man einem vielfach gewundenen Weg einer Handvoll von Kubanern.

Durch die wirklich bemerkenswerte Struktur des Romans, seine ineinander verschlungene Multiperspektivität und zeitliche Vielschichtigkeit, kann Padura Ursache und Wirkung, Schuld und Folgen wunderbar gegeneinander stellen und den Leser direkt erleben lassen, was die Figuren viele Jahre mit sich herumtragen. Insofern weckt das Wort »Geheimnis« vielleicht Erwartungen, die enttäuscht werden, denn Handlungsspannung ist rar.

Die wichtigsten Personen sind Teil eines »Clans«, eines Freundeskreises, der zersprengt wird. Die Gruppe gehört anfangs eindeutig zur »sozialistischen«, kubanischen Gesellschaft, die jedoch trotz ihres geographisch und politisch insularen Charakters fest verwoben ist mit der globalen Entwicklung. Der Mauerfall von Berlin wirkte dort wie der Einschlag eines Kometen, der Schockwellen ausgelöst und keineswegs überall Begeisterung ausgelöst hat.

»Schau doch, was in Berlin passiert ist. Wir haben geglaubt, den Deutschen dort ginge es gar nicht so schlecht. Weißt du, dass sie nicht bloß die Mauer eingerissen haben? Sie haben auch die Stasiarchive gestürmt, und jetzt kann jeder nachlesen, von wem er bespitzelt und verpfiffen wurde.«

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Auf Kuba wurde Fidel Castros Herrschaft nicht gebrochen. Da die Insel aber nach dem Fall der Sowjetunion allein im Weltgeschehen bestehen musste, gelang das nur auf Kosten gewaltiger Entbehrungen für die Bevölkerung und unter Einsatz repressiver Mittel. Die Kubaner gehören in gewisser Hinsicht zu den Verlierern, ja: Opfern des Mauerfalls.

Selbstverständlich ist Wie Staub im Wind eine scharfe Kritik an den politischen Verhältnissen auf der Insel, die – ideologisch betoniert – für die Bevölkerung Jahre an Elend und Leid mit sich brachten. Hunger, schlechte medizinische Versorgung, grassierende Korruption, wirtschaftliche Stagnation, Verfall, Auswanderungs- und Fluchtwellen – alles wird anhand der Lebensläufe der Protagonisten hautnah erfahrbar.

Warum verließ jemand sein Heimatland, ohne es zu verlassen?

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Und doch geht Padura gleich mehrere Schritte weiter, manchmal mit haarsträubend direkten Äußerungen seiner Figuren, die aufgrund ihrer Schroffheit zum Nachdenken veranlassen. Es sei zu einfach, alles auf den Kommunismus zu schieben, meint eine von ihnen, denn die Menschen blieben unabhängig vom System immer die gleichen. Die Kubaner seien der größte Fluch des verfluchten Kuba.

Jene, die es schaffen, das Land zu verlassen, werden keineswegs automatisch zu glücklichen Menschen; Flüchtlinge stehen unter Druck und sind ungleich. Wenn sich etwa ein Kubaner in Florida bewusst wird, dass er im Gegensatz zu einem Flüchtling aus Haiti Glück gehabt hat, weil er aus Kuba kommt, wird deutlich, dass auch das Elend Hierarchie kennt.

Anderes kommt bekannt vor, ähnelt jenem, das etwa Deniz Ohnde oder Nina Haratischwili in ihren Büchern schildern. Der Flüchtling, der in seinem neuen Heimatland wirtschaftlich Fuß fasst, die Sprache sehr gut bis perfekt beherrscht, heiratet und so augenscheinlich ein Musterbeispiel von Integration sein sollte, ist und bleibt fremd (und wird so wahrgenommen), trotz seiner geradezu absurden Mühen.

»Katalanischer als die Katalanen sein und die eigene schäbige Herkunft vor sich selbst verstecken. Sich bei alledem niemals eingestehen, dass er nie ein echter Katalane sein würde, weder für sich selbst noch für die radikalen Rebellen, mit denen Montse verkehrte.«

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Diese Dinge sind nicht nur in Deutschland so, sie betreffen nicht nur die Einwanderer mit türkischen oder russischen Wurzeln hierzulande, sondern beschreiben ein globales Phänomen der Migration. Vielleicht ein guter Anlass, die Debatten um diese Frage aus der deutschtümelnden Sonderwegs-Befangenheit zu lösen.

Padura stellt gleich am Anfang Fragen, die möglicherweise Beifall von der falschen Seite auslösen könnten, wenn diese denn solche Romane läsen. Warum jemand sein Heimatland überhaupt verlasse, ohne es zu verlassen? An seinem neuen Lebensort, Florida, ausschließlich die Gesellschaft von Kubanern, kubanische Kultur, Sprache usw. suche, in einer Art Parallelgesellschaft lebe, wie das Phänomen in Deutschland genannt wird.

So kamen sie letztlich nie endgültig im Exil an, blieben für immer auf der Flucht. Sie nährten sich von gehätschelten Erinnerungen und träumten das süße Trugbild einer Rückkehr, sei es tot oder lebendig. […] Wer hierher floh, wollte Flüchtling bleiben.

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Ganz ähnliches kann man bei Haratischwili nachlesen. Faszinierend, dass etwas, das als typisch deutsch (und Versagen) wahrgenommen wird, im angeblichen Melting Pot USA ebenfalls anzutreffen ist. Und die Frage, früh im Roman gestellt, bekommt eine ganze Reihe von sehr unterschiedlichen Antworten, die allesamt menschlich sind und damit zwingend unbefriedigend.

Apropos unbefriedigend: Zu den wenigen Kritikpunkten an Wie Staub im Wind gehört ausgerechnet der »Clan«. Die Gruppe, die an mehreren Stellen als verschworener Haufen bezeichnet wird, habe ich dem Autor nicht wirklich abgenommen. Eigentlich sind die Fliehkräfte von Anbeginn an klar, ebenso die Bruchlinien, während das Verbindende seltsam unscharf bleibt. Das ist angesichts der großen Stärken des Romans aber zu verschmerzen.

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind
aus dem kubanischen Spanisch von Peter Kultzen
Unionsverlag 2022
Hardcover 528 Seiten
ISBN 978-3-293-00579-2

Keine Frage der Ehre: Kämpfen bis in den Tod?

»Wir kämpfen bis in den Tod!«

Alexander Preuße: Piratenbrüder – Eine neue Welt

Das Zitat entstammt dem ersten Band meiner Abenteuerreihe um Joshua und Jeremiah. Es ist ein dramatischer Moment, der sich über viele Seiten langsam zugespitzt hat und zu einer heftigen Auseinandersetzung um eine existenzielle Frage führt: Soll man kämpfen oder nicht?

Wie das Drama ausgeht, werde ich hier selbstverständlich verschweigen, es geht mir um etwas anderes.

Schreiben ist ein unbewusster Prozess. Die Gestaltung einer Szene plane ich nie voraus, ich verfolge kein Ziel, schon gar kein programmatisches, um irgendetwas darzulegen oder Leser von meiner Sichtweise zu überzeugen. Das heißt aber nicht, dass Textstellen so etwas enthalten können, im Gegenteil: Unbewusst kann viel Haltung, Meinung und Standpunkt einfließen.

Die Textstelle hat im Rahmen der Korrekturen eine Auseinandersetzung darüber ausgelöst, ob das Verhalten zweier Personen so überspitzt, übertrieben geschildert wird, dass sie lächerlich und unpassend wirken. Darüber war ich einigermaßen verblüfft, denn mir erschien deren Auftreten einfach folgerichtig.

Ich habe aber in einem zweiten Schritt verstanden, dass in dieser Textstelle etwas schlummert, was ich unbewusst hineingeschrieben habe. Die beiden Figuren stehen stellvertretend für eine korrumpierte Form dessen, was man militärische Ehre nennt. Die Textstelle bietet also einen unterschwelligen Hinweis auf meine Haltung dazu.

Korrumpierte Ehre

Am 27. Mai 1941 starben rund zweitausend deutsche Matrosen. Das Schlachtschiff Bismarck wurden von schweren Einheiten der britischen Flotte versenkt, von den Überlebenden konnten einige gerettet werden. Neben den britischen Schiffen nahmen auch ein deutsches U-Boot und ein Hochseetrawler Schiffbrüchige auf.

Der Kapitän des Schlachtschiffes Bismarck, Ernst Lindemann, starb ebenfalls an diesem Tag. Der Militärhistoriker Holger Afflerbach schreibt in einem Artikel der Viertelsjahreshefte für Zeitgeschichte, er habe militärisch salutiert, als er mit seinem Stahlkoloss in den Fluten des Atlantik versank.

Was für ein Bild! Der Kapitän eines Kriegsschiffs lässt selbiges in einer völlig aussichtslosen Situation kämpfend untergehen, reißt damit mehrere tausend Matrosen in den Tod und stirbt selbst in einer heroischen Pose, die auf Nachgeborene eher lächerlich wirkt. Ist ein solches Verhalten wirklich militärische Ehre oder ein spätpubertärer Fiebertraum?

Kämpfen ohne Alternative

Manchmal gibt es keine Alternative. Wenn das Strecken der Waffen einem Selbstmord gleichkommt oder die zu verteidigende Bevölkerung damit einem schrecklichen Schicksal ausgeliefert wird. Sicher – der Kampf geht verloren und damit ist das Schicksal unabwendbar, wenn nicht ein kleines Wunder geschieht; aber dennoch macht man es dem Gegner nicht leicht.

Der Aufstand des Warschauer Ghettos oder ein Jahr später von ganz Warschau gegen die Nazis wäre ein Beispiel. Ein anderes wäre die Verteidigung der Armenier auf dem Berg des Musa Dagh gegen die Türken, die ihnen nach dem Leben trachteten; ihnen kamen in letzter Minute alliierte Schiffe zur Hilfe und retteten die Hoffnungslosen, die den Genozid an ihren Landsleuten überlebten.

Tod trotz Alternative

Im Falle der Bismarck liegt die Sache anders. Hier war das Schicksal des Schiffes besiegelt und der Kapitän sowie seine Offiziere wussten das ganz genau. Sie hatten – anders als die Juden im Ghetto, die Polen in ihrer zertrümmerten Stadt oder die Armenier auf dem Musa Dagh – eine Alternative: Kapitulation.

Kapitän Lindemann hätte seine Männer dem Feind übergeben und vielleicht noch das Schiff versenken können. Wäre das ehrlos gewesen? Er selbst hätte ja an Bord bleiben können, um damit heroisch zu versinken.

Er hat sich anders entschieden. In meinen Augen ein Verbrechen. Nicht ganz untypisch für autoritäre und diktatorische Systeme, bzw. solche, die der Krieg peu á peu in diese Richtung abgleiten lässt. Die Faustregel lautet: Diktaturen scheren sich nicht um Menschenverluste, Demokratien können sich das nicht leisten.

Die beiden Figuren in meinem Roman sind ein Echo dieses aus meiner Sicht korrumpierten Ehrbegriffs. Das mag lächerlich wirken, übertrieben und vielleicht ein wenig unangenehm für den Leser – aber das ist auch gut so.

Hernan Diaz: Treue

Nicht überzeugend: Hernan Diaz – Treue. Bild mit Canva erstellt, Cover Hanser Berlin.

Eigentlich hat der Roman alle Zutaten, die ihn zu einem für mich interessanten und guten machen könnten. Beeindruckend ist die großartige Sprache, die stilistisch und strukturell gekonnt voneinander abgegrenzten Perspektiven, die Treue von Hernan Diaz ein hohes literarisches Niveau verleihen und für überraschende Wendungen sorgen, schließlich auch die Konstellation und Zeitumstände.

Trotzdem konnte mich der Roman nicht überzeugen. Schon im ersten Teil habe ich mich vom Inhalt immer stärker distanziert und die Erzählung ab einem gewissen Punkt ohne sonderliche Bindung verfolgt. Der wesentliche Grund liegt in der Person des Erfolgsmenschen Rask, der für mein Empfinden kaum mehr als eine Märchenfigur, ein Einhorn ist. Es handelt sich mehr um die Ausgestaltung eines pubertären Fiebertraum börsianischer Höhenflüge als um eine ernstzunehmende Erfolgsgeschichte.

Die fehlende Glaubwürdigkeit für die zentrale Figur hat dem Roman das Fundament entzogen. Was mir auch missfallen hat, ist der Hang zur Dämonisierung von Finanzgeschäften aller Art, die mit dem Roman mittelbar betrieben wird, drittens wirkten manche Passagen etwas arg souffléartig erzählt: zu viel heiße Luft. Das hat mir schon manchen us-amerikanischen Lesestoff vermiest. Die »überraschende« Wendung am Ende habe ich nur noch als albern empfunden.

Da es sich bei meinem um einen sehr individuellen Zugang zu dem Roman handelt, möchte ich der Fairness halber auf deutlich positivere Rückmeldungen verweisen, wie zum Beispiel auf dem Blog Buch-Haltung von Marius Müller.

Hernan Diaz: Treue
aus dem Englischen von Hannes Meyer
416 Seiten
Hanser Berlin
ISBN 978-3-446-27375-7

Karen Duve: Sisi

Schon in Fräulein Nettes kurzer Sommer hat Karen Duve gezeigt, wie sie mit historischen Figuren umgeht. Das war ein Grund für die Lektüre. Cover: Galiani-Berlin. Bild: Canva.

Natürlich habe ich die Filme gesehen, schließlich bin ich Enkel und als solcher dazu verdammt gewesen, manchen Abend vor dem TV zu verbringen; einmal lief auch »Sisi«. Und nein: Ich kann mich nicht erinnern, nicht einmal einzelne Bilder sind hängengeblieben, geschweige denn, etwas von der Handlung. Mit Fug und Recht darf behauptet werden: nicht mein Genre. Kaiserin Elisabeth von Österreich ist mir herzlich egal.

Trotzdem dieser Roman mit dem Titel Sisi. Das liegt vor allem an der Autorin. Duves Schreiben ist wie geschaffen für einen Stoff á la Sisi, was ich schon bei Fraulein Nettes kurzer Sommer erleben durfte. Was allzu leicht in schmierig, schwülstiges, hymnisch-verklärtes Gesülze abgleiten könnte, geht sie mit knarziger Nüchternheit, Distanz und präziser Beobachtung an. Norddeutsche Sachlichkeit trifft Habsburger Schmäh.

Ganz wunderbar boshaft wirken sehr geschickt zusammengestellte Passagen des Romans. Duve enthüllt anlässlich einer Parforcejagd dem Leser allgemeine gesellschaftliche Phänomene, in diesem Fall die absurd-männlichen Attitüden britischer Edelleute, die in Ermangelung militärischer Aufopferungsoptionen den Reitsport wie einen Seiltanz ohne Netz praktizierten.

»Härte, Mut und Todesverachtung. Die Offiziere überschütten das Kriegsministerium mit Ersuchen nach Versetzung in den aktiven Dienst und sie meinen das vollkommen ernst. Aber es gibt nicht genug blutige Feldzüge für alle im Empire, also setzt man seine körperliche Unversehrtheit in den Vorräumen der Offiziersmessen aufs Spiel oder in den Rauchsalons der Familiensitze, wo man nach dem Diner miteinander rangelt. Bärenkämpfe nennt sich das, wenn man seinen besten Freunden die Nasen blutig schlägt und ihnen die Rippen bricht.«

Karen Duve: Sisi

Die Parforcejagden bezeichnet Duve im Roman auch als »Schlachtfeld«, sie werden mit hohem Tempo und ins Absurde gesteigertem Risiko geritten. Kleinigkeiten wie ein Kaninchenloch, ein unsichtbarer Draht oder die Ungeschicktheit eines anderen Reiters reichen, um eine Katastrophe heraufzubeschwören: Stürze mit schwerwiegenden Folgen.

»[…], man bricht sich den Rücken oder gleich das Genick. Jeder weiß das. Das House of Lords ist voller Rollstühle, alles Jagdunfälle. In den vornehmen Sanatorien vegetieren die Jagdreiter mit irreparablen Hirnschäden vor sich hin.«

Karen Duve: Sisi

Elisabeth von Österreich, »Sisi«, kann auf diesem ersatzweisen Feld der Ehre nicht nur mitmischen, sie ist eine dermaßen herausragende Reiterin, dass nur ganz wenige mit ihr mitzuhalten vermögen. Mutig, entschlossen und selbstbewusst stürzt sich die Kaiserin in das lebensgefährliche Abenteuer, fegt mit der Jagd dahin, stürzt, rappelt sich wieder hoch, reitet weiter. Wie alle anderen ist sie am Ende völlig ausgepumpt, dreckig und glücklich.

Diese lange Einführung sei verziehen, aber Duve hat ihren Roman nicht ohne Grund mit dem Reitvergnügen Sisis in England begonnen, denn dort lässt sich diese ganz spezielle Seite der historischen Persönlichkeit ganz wunderbar entfalten. Es ist Glück. Freiheit, ohne Kopfschmerz und Melancholie, ohne Launen und Schläge für die Bediensteten.

Im Falle einer Kaiserin absehbar nur eine Episode. In scharfem Kontrast steht das Leben am Hof, das Zeremoniell, die Ehe mit dem untadeligen und unerträglichen Kaiser dazu. Umgekehrt hat auch Elisabeth von Österreich ihre abgründigen Schattenseiten, das Verhältnis zu ihrer ältesten Tochter etwa oder die Neigung, ihren Geschwistern jeden Wunsch – auf Kosten anderer – zu erfüllen.

Die Autorin verzichtet gänzlich darauf, offen zu kommentieren oder zu urteilen; zwischen den Zeilen kommt genug Haltung zum Vorschein. Mit kühlem Scharfblick schildert Duve das Leben in Wien und den anderen Aufenthaltsorten Elisabeths; dem Hofleben und seinen tückischen Gewässern wird immer mehr Raum eingeräumt. Manchmal wird es handfest sarkastisch.

»Die Damen sind verwirrt. Wenn man schon einmal sechszehn uradelige Vorfahren vorweisen kann, will man sich ja eigentlich nicht mit der Tochter einer bürgerlichen Schauspielerin abgeben. Mit Dünkel hat das gar nichts zu tun.«

Karen Duve: Sisi

Früher hätte man von einem Sittengemälde gesprochen, und die Sitten am Hofe, empfindet die Kaiserin wie einen Sarkophag, in dem sie sich fühlt, als wäre sie lebendig begraben. Ihre Ausbrüche werden im sittlichen-moralischen Rahmen der Zeit zu Skandalen aufgebauscht, es wird getratscht, geflüstert und gelästert, dass sich die Balken biegen – an dieser unseligen Neigung hat sich in der Moderne nichts geändert.

Das Titelbild ist übrigens großartig. Auf den ersten flüchtigen Blick zeigt es zwei steigende Pferde, eine ungeheuer dynamische und kraftvolle Bewegung, voller Leben, Wildheit und Freiheitsdrang. Doch sind es keine gewöhnlichen Pferde, sondern dressierte, die – man erkennt auf den zweiten Blick den Herrn mit der Peitsche im Hintergrund – nur auf Befehl agieren, gegen ihren Willen.

Karen Duve: Sisi
416 Seiten
Galiani-Berlin 2022
Hardcover
ISBN: 978-3-86971-210-9

Uwe Wittstock: Februar 33

Ein großartiges Buch über den Februar 1933 mit dem Schwerpunkt auf Deutschlands Schriftsteller. Nicht alle mussten fliehen, für manche bedeutete die Nazizeit einen Karrieresprung. Foto: Canva. Cover: C.H. Beck

Frappierend, wie ähnlich die Gegenwart der in diesem Buch geschilderten Vergangenheit scheint. Wenn etwa von den Zuständen in der Preußischen Dichterakademie die Rede ist, der Heinrich Mann vorsitzt, glaubt man das aktuelle Zeitgeschehen zu spüren. Die ideologische Spaltung geht wie ein Riss durch die Gesellschaft und spiegelt sich in den unversöhnlichen Lagern der Akademie.

Natürlich ist die Lage heute anders. Nicht unbedingt besser, denn die so genannten Sozialen Medien verschärfen die Situation, sie sind digitale Katalysatoren der Spaltung. Ihr Geschäftsmodell basiert auf der Emotion, denn die weckt Aufmerksamkeit, jenen Rohstoff, den sie benötigen, um Geld zu verdienen. Hass und Wut sind wunderbare Emotionen – in diesem Sinne, denn sie fördern einen unheilvollen Kreislauf, in dem sich die Kontrahenten gegenseitig aufschaukeln.

Insofern ist auch nur konsequent, dass die Unternehmen, sofern sie ihre Geschöpfe überhaupt noch beherrschen, jenen Schattengewächsen des Internets, den Trollen und Bots nicht wirklich Einhalt gebieten. Warum auch? Sie binden Aufmerksamkeit und verleiten dazu, Zeit auf der Plattform zu verbringen. Der Nebeneffekt: Ernsthafte, gelassene und gewinnbringende Diskurse sind fast unmöglich.

Wenn der Satz, Hitlers Verbrechen seien unvorstellbar, einen Sinn hat, dann gilt er zuallererst für seine Zeitgenossen.

Uwe Wittstock: Februar 33

Von der Spaltung profitierten die Nationalsozialisten, vor rund einem Jahrhundert unter fleißiger Mithilfe Stalins. Ausgerechnet, mag man denken, doch der Stalinismus ist einer der Steigbügelhalter des Aufstieg Hitlers zur Macht gewesen. Er hat den deutschen Kommunisten die Rolle der Totalverweigerung aufgezwungen, statt einer Frontbildung gegen die Nazis.

Als Wittstocks großartiges Buch einsetzt, liegt das Kind, die Weimarer Republik, bereits im Brunnen. Hindenburg, jene bis heute verharmloste reaktionäre Schreckensgestalt in der Politik, hat dem irrwitzigen Taktieren realitätsblinder Deutschnationaler um von Papen nachgegeben, und Hitler zum Reichskanzler ernannt.

Vermutlich gehört es zur Natur eines Zivilisationsbruchs, schwer vorstellbar zu sein.

Uwe Wittstock: Februar 33

Zu den großen Momenten des Buches zählt die Gegenüberstellung einer Hitler-Wahlkampfrede und Thomas Manns Vortrag über Wagner. Die Rede des frisch gekürten Reichskanzlers wird wunderbar seziert und als hohles, sprachlich groteskes Propagandagebell bloßgestellt, während Manns tiefe Zuneigung zu Wagners Werk nicht nur auf hohem Niveau herausgestellt und begründet wird, sondern gleichzeitg ein frontaler Angriff auf die völkische Wagnertümelei der Nazis ist.

Wittstock belässt es glücklicherweise nicht dabei, sondern stellt Manns eigene Widersprüchlichkeit klar heraus. Dessen schauderhafte Ansichten bis 1922, als er schließlich den Weg zur Demokratie fand und von seinem Überlegenheitsdünkel der deutschen Kultur abließ, zeigt er wie das immer noch begrenzte politische Verständnis des Großschriftstellers.

Besonders bedrückend ist das Gefühl der Ohnmacht und Orientierungslosigkeit, das viele der Protagonisten nach der Machtübertragung an Adolf Hitler befallen hat. Wie ein derartiges Ereignis die Lebensentwürfe, Planungen und Hoffnungen von einem Tag auf den anderen vernichten kann und was das konkret für die Menschen bedeutet, ist schwer erträglich.

Nur diesen Monat brauchte es, um einen Rechtsstaat in eine Gewaltherrschaft ohne Skrupel zu verwandeln. Das große Töten begann erst später.

Uwe Wittstock: Februar 33

Das gilt besonders für den letzten Abschnitt des Buches, wenn Wittstock sich den so genannten »wilden« Konzentrationslagern und Gefängnissen unter der Regie der SA widmet. Für diese Schreckensorte gab es keinerlei Regulierung, die Gefangenen wurden über Wochen fürchterlich misshandelt und hungerten zu Tode. Wir reden hier von Berlin im Jahr 1933, nicht den Bloodlands nach 1941.

Das Ungeheuerliche an diesen Zuständen ist, dass sie faktisch übergangslos nach dem Ende der Weimarer Republik begannen. Die unmenschliche Verrohung der SA war längst vollzogen, als zumindest nach außen hin noch ein Rechtsstaat existierte. Für viele war das jedoch nicht mehr als eine billige Kulisse, die in ungeheurer Geschwindigkeit niedergerissen wurde. Das Buch ließ mich zurück in der Hoffnung, dass der Staat, in dem ich lebe, mehr Widerstandskraft zu bieten hat.

Uwe Wittstock: Februar 33. Der Winter der Literatur.
C.H.Beck
Hardcover
288 Seiten
ISBN: 978-3-406-77693-9

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