Schriftsteller - Buchblogger

Monat: März 2023 (Seite 1 von 2)

Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler

Manchmal kann ein Einzelner den Gang der Weltgeschichte verändern, Johann Georg Elser ist nur ganz knapp daran gescheitert. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Wie kann man über einen Menschen schreiben, der so verschwiegen war, wie Johann Georg Elser? Der Attentäter, der Hitler hätte bereits 1939 töten und den Gang der Weltgeschichte auf dramatische Weise ändern können, hat faktisch nichts Schriftliches hinterlassen. Wolfgang Benz wählt in seinem Buch Allein gegen Hitler den Weg, die historische Person in ihre Zeit einzubetten, die Äußerungen über Elser einzuordnen und seine Handlungen für ihn sprechen zu lassen.

Auf den ersten Blick könnte man Elser für ein Musterbeispiel des »Einsamen Wolfes« halten, ein klischeehaftes Bild, das ein ganz besonders ausgeprägtes Gefährdungspotenzial andeutet. Angesichts des nur um Haaresbreite gescheiterten Attentats scheint das nicht falsch zu sein. Auf den zweiten Blick entspricht die historische Person diesem Klischee aber nicht, wie sein Sozialleben in Vereinen, seine Musikalität, und auch die Liaisons mit Frauen belegen.

Die Quellenlage zu Elser ist extrem dürftig – gemessen an der historischen Zeit, in der Historiker eher mit einem Zuviel an Material zu kämpfen haben, und damit auch im Vergleich zu anderen Widerständlern, wie den Geschwistern Scholl oder Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Diese haben im Gegensatz zu Elser die Abgründe des Hitler-Regimes sehr viel später erkannt, dafür mehr von ihren Beweggründen überliefert.

Was Georg Elser zum Widerstand getrieben hatte, sein Aufbäumen gegen den Verlust aller Freiheit und Selbstbestimmung des mündigen Menschen, gegen die nationalsozialistische Usurpation der Gesellschaft hatte den Höhepunkt im Lagerdasein.

Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler

Das beleuchtet einen ganz wichtigen – und für manchen vielleicht auch unheimlichen – Wesenszug von Elser, der tatsächlich ganz allein daranging, Adolf Hitler zu töten, bevor dieser die Welt vollständig in den blutigen Abgrund eines Zivilisationsbruchs stürzen konnte. Natürlich waren auch die anderen Widerständler in gewisser Hinsicht isoliert, sie hatten aber einen Kreis um sich, der einen gewissen Austausch ermöglichte. Elser blieb das verwehrt.

Man sollte sich vor Augen führen, was das für Elser bedeutete, wenn er etwa von Zweifeln geplagt wurde oder mit Hindernissen zu kämpfen hatte. Er hat sich diesen Herausforderungen allein stellen müssen und bewältigt. Benz unterstreicht dankenswerterweise, dass Elsers Vorgehen im Gegensatz zu dem der Militärs einwandfrei funktionierte: technisch, vom Timing, aber auch hinsichtlich der Sprengwirkung. Nur ein Zusammenspiel von Zufällen ließ das Attentat scheitern.

Natürlich tritt dem Leser kein Superheld entgegen, sondern eine vielschichtige und widersprüchliche Person. Benz beleuchtet die Grenzen Elsers, etwa sein für den Eigenschutz verheerendes Verhalten direkt vor und nach dem Attentat. Da seine Bombe über einen Zeitzünder wirkte, hätte er vorher fliehen oder sich verbergen, untertauchen können. Stattdessen ist Elser noch kurz zuvor in den Bürgerbräukeller zurückgekehrt, um sich zu vergewissern, dass die Apparatur auch funktionierte.

Das hat sie. Elsers Fluchtversuch endete hingegen in den Fängen der Behörden. Was dann geschah, ist einerseits erwartbar gewesen, andererseits in gewisser Hinsicht kurios und für die Herrschaft Hitlers bezeichnend; ja, ich würde sogar soweit gehen, dass sich darin bereits Spuren für den Untergang des gesamten NS-Systems und des von ihm durchdrungenen Reiches erkennen lassen. Elsers Tat ist entlarvend für die (Selbst-)Lügen des Hitlerismus gewesen.

Sein Attentat hat auch deswegen funktioniert, weil die Sicherheitsvorkehrungen infolge ideologischer Verblendung und Inkompetenz unzureichend gewesen sind. Im Nachgang wurden diese zwar verschärft, gleichzeitig aber die sachlich korrekten Ermittlungen zugunsten des NS-Weltbildes einem grotesken Phantom angepasst; ein Handlungsmuster, das bereits beim Reichstagsbrand 1933 eine Rolle spielte und für Deutschland bis 1945 prägend blieb.

Er sah früher als andere, besser gebildete und sonst besser situierte die Folge nationalsozialistischer Gewaltpolitik voraus, und er zog Konsequenzen aus dem, was er mit scharfem Verstand beobachtete und unbestechlich analysierte.

Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler

Bedrückend, irritierend und lehrreich ist das Kapitel über die Zeit nach 1945. Die irrwitzigen Berichte über Johann Georg Elser, vorgebracht von Mithäftlingen wie Martin Niemöller oder dem englischen Agenten Best, die ihn gleichwohl niemals sprachen und bestenfalls zufällig sahen, sind atemberaubend. Das gilt auch für die schwurbelnden, raunenden Legenden, die seitens ehemaliger SS-Leute verbreitet wurden, aber auch für die abweisende Reaktion seines Umfeldes, auf Versuche, Elser als Person historiographisch oder journalistisch nachzuspüren.

Nach Elsers Tat sind Millionen Menschen gestorben, die bei Hitlers Tod vielleicht nicht hätten sterben müssen. Der Attentäter ist im Gegensatz zu Stauffenberg nach dem Krieg verkannt, verleumdet oder ignoriert worden. Möglicherweise ist seine mündige Tat manchem Nachgeborenen unangehörig gewesen, sicherlich hat die Propaganda der Nazis nachgewirkt. Es ist kein Zufall, dass Elsers Verhaftungsfoto die am meisten verbreitete Darstellung des Attentäters war, auf dem er einem aufgegriffenen Landstreicher glich.

Johann Georg Elser eignete sich nicht zum Helden, sein Aufbegehren passte nicht zum Nachkriegsdeutschland; erst spät ist er zur Lichtgestalt aufgestiegen. Dazu habe verschiedene Bücher und Filme beigetragen, etwa die Verfilmung durch und mit Klaus Maria Brandauer, der sich eine Reihe von Freiheiten gestattet hat, im Kern aber die Tat Elsers endlich in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt und einen angemessenen Platz zugewiesen hat, wie Wolfgang Benz in seinem Buch aufzeigt.

»Zu Recht sehen die Nachgeborenen Georg Elser […] als besonders authentischen Widerstandskämpfer«, heißt es da am Ende, wenn die Person Elsers aus dem Schatten der Vergangenheit geholt wurde, soweit das angesichts der Grundlagen möglich ist. Daher wünscht man diesem Buch viele interessierte, kluge und nachdenkliche Leser.

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler
Leben und Tat des Johann Georg Elser
C.H. Beck 2023
Gebunden 224 Seiten
ISBN: 978-3406800610

John Buchan: Der Übermensch

Ein Klassiker im Wortsinne. Spannend. Atmosphärisch. Originell. Cover Elsinor, Bild mit Canva erstellt.

Zum Zeitpunkt dieser Buchbesprechung ist John Buchans Roman Der Übermensch einhundertzehn Jahre alt, beinahe so betagt wie Bilbo Beutlin zu Beginn von Der Herr der Ringe. Ein staunenswerter Schatz für Thriller-Leser, die schnell von der Atmosphäre und der spannenden Geschichte erfasst und bis zu ihrem Ende nicht mehr losgelassen werden. Man entdeckt so viel Vertrautes aus aktuellen Polit- und Spionagethrillern!

Selbstverständlich schlägt sich die Entstehungszeit in vielfältiger Weise in der Handlung nieder. Da wäre die Hauptperson, Edward Leithen, ein Angehöriger der britischen Oberschicht, die er in gewisser Hinsicht fast klischeehaft personifiziert. In seinem natürlichen Habitat London ist er als Anwalt und Parlamentarier tätig, sehr gut vernetzt, nicht nur durch die Mitgliedschaft in einem Club.

Eine Männerwelt, die einiges an Staub angesetzt hat; Frauen spielen in diesem Roman fast gar keine Rolle, von Ethel als züchtige Ehefrau eines Freundes abgesehen, die ihre Klugheit in Leithens Augen dadurch unter Beweis stellt, dass sie tut, was er ihr sagt. Dieser Roman besitzt aber auch wegen seines Alters eine Menge Charme, was nicht zuletzt an der – leicht gestelzten – Schilderung der Stadt liegt, aber auch an originellen Grenzüberschreitungen.

Die Aussicht auf eine Reise stieg bei ihm immer zu Kopfe wie Wein.

John Buchan: Der Übermensch

Die Hauptfigur gehört den Konservativen an, sein bester Freund Tommy ist Labour-Abgeordneter; auch ein wichtiger Unterstützer Leithens bei seinen Abenteuern, ein gewisser Chapman, gehört zur Labour-Fraktion. Der Ich-Erzähler macht sich über die Zweiwelten-Beziehung beider Parteien lustig: Öffentlich beharke man sich wie die Kesselflicker, privat pflege man freundschaftliche Beziehungen.

Leithens Freund Tommy  gerät in die Bredouille und bringt durch seinen leichtfertigen Aktivismus das Unheil und damit die Handlung in Gang. Ein Freund von ihm, Pitt-Heron, hat London und England geradezu fluchtartig verlassen, er scheint mit ebenso anrüchigen wie gefährlichen Kreisen kooperiert zu haben, die ihm nach Leib und Leben trachten.

Es entspinnt sich ein Spiel, das den Leser augenblicklich in Bann zieht. Leithen bleibt in London, während der Action-Teil des Romans in der Ferne, Russland, Buchara, stattfindet;  Hauptfigur und Leser werden nur durch kurze Nachrichten, etwa Telegramme, über den Fortgang der Jagd bruchstückhaft informiert. Leithen versucht, die Entwicklung durch logische Überlegungen zu konstruieren und sein eigenes Vorgehen darauf abzustimmen.

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie einen ungewöhnlichen Namen nur einmal zu hören brauchen, uns Sie werden ihm dann eine Zeitlang immer wieder begegnen?

John Buchan: Der Übermensch

Auf den ersten Blick sind es Zufälle, die Leithen voranbringen. Begegnungen, Beziehungen, Gespräche und die Rückschlüsse, die von der Hauptfigur gezogen werden – in Wirklichkeit fallen sie dem Spurensucher wegen seiner Hatz nach Zusammenhängen zu. Nur die Begegnung mit dem Erzbösewicht geschieht durch ein mittlerweile klassisches Motiv aus der Welt des Zufalls: Eine Automobilpanne zwingt Leithen zur Übernachtung in einem Landhaus.

Buchan gibt dem Widersacher, der als solcher offen agiert und gar nicht erst enttarnt werden muss, eine Stimme und die Möglichkeit, Leithen und Leser sein Weltbild (und damit die Ursache der ganzen Probleme) vorzuführen. Dabei geht der Autor geschickter vor, als viele moderne Thriller-Autoren oder Bond-Verfilmer, die den »Was bin ich doch genial«-Monolog vor der Showdown-Acitionszene deplatzieren.

Der Herr einer ziemlich nebulösen Geheimorganisation namens »Kraftwerk« (The Power-House, wie der englische Originaltitel lautet) lässt sich gegenüber seinem Gast in einer schaurig-gemütlichen Kaminzimmer-Düsternis darüber aus, dass man sich der Illusion hingäbe, die Zivilisation sei geschützt; diese Schein-Ordnung basiere aber auf Mittelmäßigkeit, einer Regierung voller zweitrangiger Figuren. Ein entschlossenes Genie werde das System umstoßen.

Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie brüchig diese Zivilisation eigentlich ist, auf die wir alle so stolz sind?

John Buchan: Der Übermensch

Damit bekommt der Gegner Leithens eine monströse Gestalt, weil er ebensolche Ziele verfolgt. Die Handlung touchiert ein wesentliches Motiv, das in variierender Form mehr oder weniger alle Politthriller bis in die Gegenwart berühren: Der dünne, verletzliche Firnis der Zivilisation, die 1913 natürlich ein etwas anderes Gesicht hat als 2023.

Nach dieser Begegnung nimmt der Roman Fahrt auf. Das sommerlich-leichtfüßige London wird für den Protagonisten zu einem Ort der Bedrohung, denn das »Kraftwerk«  ist ein kampfkräftiger, skrupelloser und mächtiger Gegner. Genretypisch gerät der Held in lebensbedrohliche Situationen, wird auf eine wunderbar dramatische Weise durch Londons Straßen gehetzt, während er versucht, seinen Häschern zu entkommen.

Der Übermensch von John Buchan ist sehr lesenswert für alle, die Polit- und Spionage-Thriller mögen. Natürlich atmet der Erzählstil noch das 19. Jahrhundert, für mich war es aber angenehm, einen klassisch erzählten Roman zu lesen. Nach dem Ende wartet noch ein ausführliches Nachwort von Martin Compart, das sehr informativ ist und den Leser die Bedeutung des Romans für das Genre vor Augen führt.

John Buchan: Der Übermensch
aus dem Englischen von Jakob Vandenberg
Elsinor Verlag 2022
Broschiert 160 Seiten
ISBN: 978-3-942788-67-0

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

John Ironmonger: Der Wal und das Ende der Welt

Eine Enttäuschung war dieser Roman; immerhin gut vorgelesen von Johann von Bülow. Cover Fischerverlag, Bild mit Canva erstellt.

Ganz am Ende habe ich mich doch geärgert, die Lektüre nicht abgebrochen zu haben. Wenn der Inhalt längst in christlich-kirchlichem Heilsschwulst versunken ist, greift der Autor noch zu einem Twist, der den Leser noch einmal so richtig überraschen soll – wie ein Drache sonntägliche Waldspaziergänger im Oberharz. Effekthascherei, zwar im Verlauf des Romans angedeutet, aber grässlich.

Vielleicht wäre es besser gewesen, Joe, die Hauptfigur des Romans Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger wäre zu Beginn doch ertrunken oder von dem Wal verschluckt worden, der ihn aber leider gerettet hat. Die Geschichte wird recht langweilig erzählt, ausgewalzt in einer ich-drehenden Selbstgefälligkeit und einem von vielen Redundanzen geprägten Stil.

Was den Leser bzw. Hörer (neben dem sehr guten Vortrag durch Johann Bülow) am Leben hält, ist die Bedrohung der Welt durch eine heraufziehende Gefahr und die Idee, jemand könnte mittels eines Computerprogramms Vorhersagen treffen, wie die Menschen darauf reagieren würden, wenn die Zivilisation zusammenbricht.

Es ist durchaus begrüßenswert, wenn sich jemand gewöhnlich düster-dystopisch abgehandelten Themen mit Optimismus widmet, aber spätestens beim Eintritt der Katastrophe wird es wild. Ein biblisches Märchen, bedauerlicherweise gefährlich verharmlosend, denn was Ironmonger schreibt, ist ähnlich realistisch wie das Wandeln über Wasser.

Wir wissen aus Erfahrung längst, wie sich Menschen verhalten, regionale Katastrophen gibt es genug. Die Anständigen krepieren und das wäre auch das Schicksal von Joe und seinen Dörflern gewesen. Mord, Vergewaltigung, Versklavung, Kannibalismus, Tribalismus – man kann an zusammenbrechenden Ordnungen ausreichend studieren, was geschehen würde. Und ja – davon sind wohl Großstädte nur drei Mahlzeiten entfernt.

John Ironmonger: Der Wal und das Ende der Welt
aus dem Englischen von Maria Poets und Tobias Schnettler
Fischer Taschenbuch 2020
TB 512 Seiten
ISBN: 978-3-596-70419-4

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Ein wunderbarer Roman mit handfester Ermittlerarbeit im Kyjiw des Jahres 1919. Cover Diogenes, Bild mit Canva erstellt.

Der Bürgerkrieg zwischen den Roten und Weißen im Gefolge der Oktober (November)-Revolution 1918 bildet den Auftakt für zwei äußerst blutige Jahrzehnte in der Sowjetunion. Erst nach Stalins Tod Anfang der 1950er Jahre ist der Blutzoll im geographisch größten Land der Erde, das politisch, gesellschaftlich, technologisch und in vielen anderen Bereichen immer noch weit vom Westen entfernt ist, geringer geworden.

Buchstäblich mitten hineingeworfen in den Strudel aus Gewalt wird der Leser des Romans Samson und Nadjeschda von Andrej Kurkow. Die Hauptfigur verliert seinen Vater durch den Säbelhieb eines Kosaken und sein Ohr. Eine dramatische Szene, direkt am Anfang, die jedoch keine falschen Erwartungen wecken sollte: Action und explizit geschilderte Gewalt halten sich über weite Strecken der erzählten Geschehnisse in Grenzen.

In diesen Zeiten ist manchmal auch nicht klar, wo das Gute ist und wo das Böse.

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Stattdessen erzählt Kurkow seine Geschichte in einem eher plüschig wirkenden Tonfall. Gesetzt und gediegen wirken Sprache und Handlungsweise Samsons, in gewisser Weise Teil des kleinen, vorrevolutionären Bürgertums. Er taumelt. Der Krieg hat die Gesellschaft ohnehin erschüttert, Revolution, Bürgerkrieg und Gesetzlosigkeit haben der Sicherheit den Garaus gemacht. Alles wirkt improvisiert, chaotisch, viele Zeitgenossen führen Tätigkeiten aus, für die sie gar nicht qualifiziert sind.

Die Konfrontation mit dem Tod seines Vaters und der eigenen Verstümmelung vertiefen die Orientierungslosigkeit des Protagonisten. Kurkow lässt ihn einige Zeit durch Kyjiw irren, bei seinem Versuch, in der sich rasant verändernden Welt Fuß zu fassen. Die neue Macht in der ukrainischen Großstadt macht sich recht bald durch zwei Rotarmisten bemerkbar.

Die beiden Soldaten kundschaften Samsons Wohnung aus, indem sie vorgeben, Nähmaschinen zu suchen, um sie zu requirieren; etwas später quartieren sie sich unter Vorlage eines obskuren Dokuments bei ihm ein, besetzen ein Zimmer und verwenden die Bleibe, um ihre Beute abzustellen. Die Rotarmisten nutzen nämlich die halbanarchischen Zustände als Gelegenheit, um sich zu bereichern.

Samson wird nach einigem Vorlauf und mehr durch Zufall Teil der neuen Macht, indem er der Miliz beitritt und Teil der Ordnung wird. Das ist fast ein wenig komisch, denn von polizeilichen Ermittlungen versteht er überhaupt gar nichts; trotzdem findet er sich plötzlich bewaffnet, mit entsprechenden Papieren und Kleidung ausgestattet auf der Seite der Bolschewisten wieder – ohne selbst einer zu sein.

»Ordnungen gibt es verschiedene.« Der Arzt biss sich auf die Lippen. »Es gibt die bolschewistische Ordnung, es gibt die anarchische von diesem Machno, und es gibt die weiße, denikinsche. Sie stehen alle auf keinem Papier und ändern sich wie das Wetter in England.«

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Merkwürdig indifferent bleibt die Haltung Samsons, die am ehesten mit dem Drang nach bürgerlicher Anständigkeit beschreibbar wäre. Nadjeschda, die erst nach einer geraumen Zeit und dann auch noch im Rahmen heiratsvermittlerischer Aktivitäten der Hausmeisterwitwe in Samsung Heim auftritt, ist ganz anders: Sie verkörpert jenen zukunftsoptimistischen Sowjetbürger, der sich ebenso entschlossen wie naiv in den Dienst der Sache stellt. Nadjeschda, obschon im Titel genannt, bleibt recht blass und passiv, was ein wenig schade ist.

Die Lage ist aber während der gesamten Handlung begleitet von dem Eindruck einer nahen Bedrohung. Immer wieder ist von den Weißen und ihren Generälen die Rede, es gibt Aufstände, an deren Niederschlagung auch die Miliz teilnehmen soll. Militär und Polizei sind ohnehin eng miteinander verwoben, oft begleiten Rotarmisten Samson bei seinen Ermittlungen, umgekehrt muss er an nächtlichen Patrouillen teilnehmen.

Der Protagonist bleibt von einem Kampfeinsatz verschont, angesichts der Erbarmungslosigkeit, die im Buch nur genannt, nicht explizit beschrieben wird, für Samson ein ein großes Glück. Brutal geht es aber auch in den Straßen Kyjiws zu, als Gefangene aus den Kellern des Polizeigebäudes ausbrechen. Ein Toter liegt lange auf der Fahrbahn vor dem Gebäude des Miliz; Samson wird von seinem Kollegen davon abgehalten, einem Fliehenden in den Rücken zu schießen.

Samson, den Nagant im Anschlag, versuchte schnell zu entscheiden, in welchen der sich entfernenden Rücken er schießen sollte. »Lass das«, hielt ihn Wassyl auf. »Was bringt dir das?«

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Unterdessen entwickelt sich tatsächlich ein Kriminalfall, eng verwoben mit dem politischen Durcheinander. Ohne die nötige Schulung, gar nicht zu reden von Ausrüstung und Erfahrung, macht Samson sich daran, den Mörder eines seiner Kollegen aufzuspüren. Dabei nutzt der findige Ermittler-Frischling aber auf intelligente Weise seine bzw. Nadjeschdas Möglichkeiten, die im statistischen Büro arbeitet und an einem Zensus beteiligt war – ein Ansatz für Samson, seinen Fall voranzubringen, der auf eine Weise schön aufgelöst wird.

Samson und Nadjeschda ist kein klassischer Krimi, wie deutlich geworden sein dürfte. Die Ermittler-Tätigkeit des Helden ist einem Zufall geschuldet, von dem Versuch, sich zu orientieren, in der aus den Fugen geratenen Welt einen Platz zu finden und anständig zu bleiben. Eigentlich ist das zum Scheitern verurteilt und man darf gespannt sein, wie lange es Kurkow gelingt, seinen Helden unbescholten durch das blutige Chaos zu lavieren.

Ach, ja: das Ohr. Samson bewahrt sein Ohr auf, denn es leistet ihm als abgetrennter Körper weiterhin gute Dienste, weil es ihn hören lässt, was im Umfeld des alleinstehenden Organs geschieht. Eine skurrile, alle Realitäten verspottende Idee, die aber gerade im Rahmen des sowjetischen Realismus einen gehörigen Charme hat. Möglicherweise ist das Ohr Kurkows zwinkerndes Auge in Bezug auf die historische Bodenständigkeit seines Romans.

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda
aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing
Diognes 2022
Hardcover Leinen 368 Seiten
ISBN: 978-3-257-07207-5

Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang

Das Desaster in Indochina und die unzulänglichen Versuche der französischen Politik, damit umzugehen, stehen im Fokus des Romans. Cover Matthes&Seitz, Bild mit Canva erstellt.

Schon auf der ersten Seite des Romans Ein ehrenhafter Abgang begibt sich der Leser auf eine Reise nach Indochina. Es ist Mitte 1928, der Erste Weltkrieg liegt zehn Jahre zurück, der Zweite zeichnet sich noch nicht ab und jenes Gebilde namens Indochina ist eine französische Kolonie. Éric Vuillard lässt keinen Zweifel daran, dass es sich nicht um eine gewöhnliche Reise handelt, denn die Einheimischen gelten als bloße Befehlsempfänger.

Die Reise geht in den Norden, genauer gesagt zu einer Kautschukplantage, denn die Reisenden sind Gewerbeaufseher. Sie sollen nach dem Rechten sehen und was sie vor Augen bekommen, ist alles, aber nicht recht. Die Vietnamesen werden auf brutale, unmenschliche Weise ausgebeutet. Sofern sie versuchen, ihrem elenden Dasein zu entfliehen, bezeichnet man sie als Deserteure; fürchterliche Strafen folgen, schon das Wort »Justizbalken« lässt den Leser frösteln.

Die Gewerbeaufseher geben sich bürgerlich anständig im Sinne einer spezifischen Gewissenhaftigkeit. Auf ihre Veranlassung werden verschlossene Türen geöffnet, auch wenn der Schlüssel angeblich fehlt, doch nach Drohungen plötzlich wundersam auftaucht. Lügen und menschliches Elend werden aufgedeckt, in Gestalt geprügelter, halb verhungerter Vietnamesen. Doch die Anständigkeit der Gewerbeaufseher versickert folgenlos.

[…] und wie gehabt weiß der Plantagendirektor nichts und wie gehabt wirkt er ausnehmend betroffen […] und wie gehabt äußert der Direktor sein tiefes Bedauern und wie gehabt werden die Misshandlungen als Ausnahmen, als Fehlverhalten eines Aufsehers oder Sadismus eines Untergebenen dargestellt.

Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang

Der Grund der Reise war eine »Selbstmordepidemie«, denn die Vietnamesen erweisen sich als anders, als von den Verfechtern einer auf monotoner Effizienz beruhenden Arbeitsökonomie behauptet: Sie lassen sich nicht »dressieren« haben keine »unterlegene Mentalität« und ertragen den Stumpfsinn ihrer Arbeit nicht. Sie versuchen ihre Haut durch Flucht zu retten oder wählen den Freitod. Später werden sie für den Vîeth Mînh kämpfen. Siegen.

Éric Vuillards Ein ehrenhafter Abgang ist in einer Erzählhaltung verfasst, die am besten mit lakonischer Rage umschrieben ist, man merkt die Empörung, die den Autor – wie in seinen anderen Büchern – antreibt. Er montiert Informationen, stellt sie wirkmächtig einander gegenüber: Den enthüllten Misshandlungen folgen »weder Reform noch Verurteilung«, während die Firma Michelin in jenem Jahr dreiundneunzig Millionen Franc Gewinn meldet. Rekord.

Um die Menschen geht es dem Autor, die Opfer dessen, was der französische Autor Alexis Jenni als »Koloniale Fäulnis« bezeichnet hat: Rassismus. Unterdrückung. Misshandlung. Tod. Man wusste davon, man hätte etwas ändern können, unterließ es aber. Auch als die militärische Niederlage im Indochina-Krieg sichtbar wurde, ergingen sich die französischen Eliten in abwiegelnden und den Realitäten spottenden Absurditäten.

Der Krieg ist praktisch verloren. Das Einzige, was man sich noch erhoffen kann, ist ein ehrenhafter Abgang.

Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang

Den Anfang vom Ende bildete die vernichtende Niederlage von Cao Bang im Herbst 1950. Wie bei allen historischen Ereignissen, Personen, Handlungen usw. erklärt Vuillard fast nichts. Der Leser nimmt sein Unwissen hin oder informiert sich auf eigene Faust. Für ein deutsches Lesepublikum, das mit den personellen Details der vierten oder fünften Republik, geschweige denn mit deren biographischen Verstrickungen, sowie den vielfältigen Andeutungen in diesem Buch nicht vertraut ist, könnte die Lektüre kleinteilig und zäh werden. Die assoziierende Erzählweise in diesen Passagen erleichtert das Verständnis nicht gerade.

Doch muss man diesen Weg nicht gehen, denn die Stoßrichtung der Darstellung liegt auf der Hand. Cao Bang hat den nicht nur mit zurückgelassener Ausrüstung für eine komplette Division versorgt, die Schlacht hat auch offen zutage treten lassen, wie hoffnungslos gefährdet die französische Herrschaft in Indochina war. Vor diesem Hintergrund erscheint die ausführlich geschilderte politische Debatte in Frankreich gespenstisch.

Statt offen über die Frage zu debattieren, wie man aus der Misere wieder herauskommt und ob Waffenstillstandsverhandlungen mit dem auf der Siegesstraße marschierenden Vîeth Mînh zu einem Ausweg führen würden, wird eine politische Parlaments-Komödie aufgeführt, die jeden Gedanken an Verhandlungen auf infame Weise mit der Kapitulation von 1940 und der Kollaboration des Vichys-Regimes mit den Nazis gleichsetzt.

»Er hat Angst, dass ihm ein Sieg durch die Lappen geht. So treiben die Menschen in gigantische Katstrophen.«

Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang

Es ist ein Anliegen Vuillards, die Geschehnisse von einer speziellen Warte aus darzustellen. Oft wird er drastisch, sarkastisch oder offen boshaft, wenn er die Protagonisten charakterisiert und die Handlungsweisen der Verantwortlichen schildert. Er versucht zu entlarven. Führende Politiker und Militärs wussten, wie die Lage war, und haben dennoch nicht die nötigen Konsequenzen gezogen, um eine Schande zu vermeiden und einen »ehrenvollen Abgang« aus Indochina zu erzwingen.

Daraus wurde nichts. Dreieinhalb Jahre später, im Herbst 1953, begann das Drama um Dîen Bîen Phu, ein militärisches Desaster der französischen Streitkräfte, das im Frühjahr 1954 nach monatelangem Kampf beendet wurde und  Frankreichs Niederlage besiegelte. Neben Franzosen und den vielen in der Fremdenlegion dienenden Europäern haben in dieser Kesselschlacht zahllose Einheimische und Soldaten aus den französischen Kolonialgebieten ihr Leben gelassen.

Den Toten stellt der Autor die klug agierenden französischen Wirtschaftsunternehmen entgegen, die ihre Investments in Indochina frühzeitig fallenließen, dafür ordentlich an den Belieferungen der Truppen verdienten. Überhaupt arbeitet sich der Autor an der Wirtschaft und ihren Interessen ab, er stellt die provozierende Frage, für wen die Soldaten vor Ort die blutigen Schlachten wirklich fochten: für Frankreich oder für Aktiengesellschaften.

Auf einem Berg von Leichen errangen die Vietnamesen schließlich nach einem weiteren, schier endlosen und äußerst blutigen Krieg den Sieg auch über die Amerikaner. Der Rückzug aus Saigon, 21 Jahre nach dem Fall der Festung von Dîen Bîen Phu, war alles, nur kein ehrenvoller Abgang. Das ist weder den USA noch Frankreich gelungen.

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang
aus dem Französischen von Nicola Denis
Matthes & Seitz 2023
HC 136 Seiten
978-3-7518-0908-5

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