Schriftsteller - Buchblogger

Monat: Mai 2023

Tony Hillerman: Blinde Augen

Auch der zweite Teil der Buchreihe um die Navajo-Police ist dem Autor rundherum gelungen: ein spannender Krimi mit Mehrwert. Cover Unionsverlag, Bild mit Canva erstellt.

Man könnte es sich leicht machen und einfach sagen: superspannend! Denn das ist Blinde Augen von Tony Hillerman. Bis zur Mitte des Buches tastet sich Ermittler Joe Leaphorn durch einen Dschungel an Ereignissen, verwirrenden Informationen und seltsamen Erzählungen, was seine Aufklärungsarbeit im Falle zweier Morde behindert. Ein Muster, ein Motiv fehlt.

Das bleibt auch noch lange Zeit so, doch neben dieser Grundspannung wird die Handlung dramatisch. Es beginnt eine spektakuläre Suche, Jagd, Gegenjagd, Flucht mit haarsträubenden Wendungen und tödlichen Gefahren, denen Leaphorn von der Navajo-Police ausgesetzt ist. Stück für Stück setzen sich die Motive und Ziele rund um den Mordfall schließlich zusammen.

Auch für Leser, die vorwiegend auf Handlungsspannung aus sind, ist dieser Krimi eine tolle Lektüre, sofern sie die Geduld aufbringen, in das vielschichtige Durcheinander von Sachverhalten einzutauchen und – wie Leaphorn und das FBI – erst einmal nicht zu begreifen, worum es eigentlich geht. Je mehr sich das Bild klärt, desto mehr sitzt Leaphorn in der Klemme. Das ist großartig!

Irgendwo in diesem Dschungel aus Widersprüchen, Merkwürdigkeiten, Zufällen und unwahrscheinlichen Ereignissen musste es ein Muster geben, einen Grund, etwas, das Ursache und Wirkung erkennbar werden ließ, eine Wirkung, die von den Gesetzen der natürlichen Harmonie und der Vernunft diktiert wurde.

Tony Hillerman: Blinde Augen

Doch bieten Hillermans Romane rund um die Navajo-Police eben auch viel mehr. Die beiden Toten gehörten zu einer Gruppe oder einem Zweig / Clan der Navajo, sie hauchten ihr Leben aus, während eine dritte, überlebende Person ein Gesangsritual ausführte. Wieder ist es faszinierend, wie es dem Autor gelingt, Mythologie und Riten der indianischen Gemeinschaften mit dem Fall zu verweben, ja, diesen darauf zu gründen.

Die Person Joe Leaphorn wirkt auch deswegen so authentisch, weil sie ihre indianischen Wurzeln mit einer vernunftbasierten Weltsicht verbindet. Im Zuge seiner Ermittlungen trifft er auf die Überlebende der Morde, als diese gerade an einem Initiations-Ritus teilnimmt, der eine ganze Nacht andauert. Leaphorn reiht sich ein, ein Fremder, Polizist zudem, der aus traditioneller Gastfreundschaft offen aufgenommen wird.

Diese Szene entfaltet beim Leser eine große Wärme, denn sie ist kein bloßes Echo der weithin bekannten »Indianer«-Klischees. Leaphorn empfindet plötzlich einen »wilden Stolz auf sein Volk und die Feier«, denn sie ist auch ein Zeichen der Gleichstellung von Mann und Frau hinsichtlich der Bewahrung des »Navajo Way« bei den Diné. Und dieser Weg zielt auf die »Harmonie mit der Zeit« – eine wesentliche Voraussetzung, um in einer sich wandelnden Welt zu überleben.

Und so passen sich die ewigen Navajo an und blieben bestehen, während die Kiowa vernichtet wurden, die Ute in hoffnungsloser Armut versanken und die Hopi sich ins Innere ihre Kivas zurückzogen.

Tony Hillerman: Blinde Augen

Hinter solchen Aussagen, die kunstvoll in den Gang der Handlung eingeflochten sind, lässt sich die ungeheure Vielfalt erahnen, die von Worten wie »Indianer« eher verborgen und übergangen werden. Doch Hillerman bleibt dabei nicht stehen, er lässt seine indianischen Figuren ganz menschlich lästern, spotten und sich lustig machen, über fremde Gemeinschaften, Weiße und in sehr spezieller Weise auch über die eigenen Leute und ihre Sonderlichkeiten.

Wirklich bemerkenswert ist, wie in diesem Roman mit Aberglaube umgegangen wird. Hexer gehören beispielsweise in die mythische Welt der Navajo, in der vernunftbasierten sind sie selbstverständlich ausgeschlossen. Hillerman nutzt jedoch einen Kniff, um das Nebeneinander von Moderne und Rückständigkeit, Wissen und religiösem (Aber-)Glauben für die Auflösung des Kriminalfalls zu verwenden.

So verschleiert das abergläubische Geraune die Wahrheit, zugleich gibt es aber jenen, die Begriffe aus dem vernebelten Graubereich übersetzen können, Hinweise auf das, was sich tatsächlich zugetragen hat. Um das Rätsel der Morde und einiger anderer Fälle zu lösen, muss Leaphorn also während seiner Suche nach der Wahrheit alles im Auge behalten; Glaube und Aberglaube dürfen nicht einfach ignoriert werden.

Zu den großen Stärken des Romans Blinde Augen gehören auch die Figuren, die ich allesamt als sehr gelungen empfand. Peu á peu erweitert sich das Arsenal, da taucht die schöne Weiße auf, eine Horde Pfadfinder ist in der Gegend, das FBI natürlich, Vorgesetzte, Zeugen und Informanten – und alles in einer Landschaft, die man im Buch zwar nicht sehen kann, die zwischen den Worten und Zeilen jedoch aufschimmert in ihrer majestätischen Pracht.

Weitere Bücher der Reihe um die Navajo-Police:
Tony Hillerman: Tanzplatz der Toten

[Rezensionsexemplar]

Tony Hillerman: Blinde Augen
Aus dem Englischen von Friedrich A. Hofschuster
Unionsverlag 2023
TB 272 Seiten
ISBN: 978-3-293-20954-1

David Hewson: Garten der Engel

Venedig ist der Ort dramatischer Ereignisse im Herbst 1943, als die Deutschen die Macht im Norden Italiens an sich gerissen haben. Cover Folio Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Seit ich zwölf Jahre alt bin, beschäftigt mich der Krieg. Dabei steht »der Krieg« vor allem für den Zweiten Weltkrieg. Es ist ein – etwas seltsames – Vermächtnis, das mich bis an mein Lebensende beschäftigen wird, aber so etwas kann man sich nicht aussuchen. Garten der Engel von David Hewson dreht sich neben allem anderen auch um ein ungewolltes Vermächtnis, auf ganz verschiedenen Ebenen: persönlich, familiär, aber auch ein wenig historiographisch.

David Hewson ist das Kunststück geglückt, dieses Vermächtnis in eine sehr spannende, ja dramatische Geschichte einzuweben; kein zufällig gewähltes Verb, spielt doch das Weben eine wichtige Rolle in der Handlung. Der Ort ist ebenfalls klug gewählt. Venedig, vom Festland abgeschnitten, eine kleine, in sich geschlossene Welt für sich; zumindest können sich das ihre Bewohner einreden.

Es ist 1943, Italien hat nach drei Jahren – äußerst glücklosen Krieges – mit den Alliierten einen Waffenstillstand geschlossen und das Bündnis mit Deutschland verlassen. Praktisch ist das Land zweigeteilt, denn die amerikanischen und englischen Truppen kommen nur sehr langsam voran, der gesamte Norden ist in deutscher Hand.

Mussolinis Faschisten haben dort unter Nazifuchtel weiterhin das Sagen, es tobt ein blutiger Partisanenkampf im Land. Für jene, die laut Nazi-Ideologie als Juden gelten, brechen schwere Zeiten an, denn jetzt geraten auch sie ins Visier der deutschen Vernichtungskrieger, die Verfolgungen werden wie im übrigen Europa verschärft, Züge voller italienischer Juden rollen Richtung Konzentrationslager.

Wenn die Welt sich verdunkelt, bleibst du dann in deinem Versteck und wartest ab, bis es wieder hell wird? Oder versuchst du selbst, eine kleine Flamme zu entzünden?

David Hewson: Garten der Engel

Das alles schwappt nach Venedig, wo sich die Deutschen eingerichtet haben und auf Mussolinis treue Schwarze Brigaden und Kollaborateure stützen. Man schlägt sich durch, auch der just von alliierten Bomben zum Waisen gemachte Paolo Uccello müht sich, das ins Straucheln geratene Familienunternehmen, eine Seidenweberei, am Leben zu erhalten.

Eine ganze Reihe von Personen gerät durch das Auftauchen zweier jüdischer Partisanenflüchtlinge in eine Lage, Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen treffen zu müssen. Hewson ist es gelungen, die meisten dieser Personen vielschichtig zu gestalten, sie mit ihren Widersprüchen und Schwächen, hanebüchenen Ideen und Ansichten aufeinander loszulassen. Eine Ausnahme bilden die eher schablonenhaften deutschen Besatzern; daran ist nichts auszusetzen, um die geht es in diesem Roman nämlich nicht in erster Linie.

Im Mittelpunkt steht zum Beispiel der Kollaborateur Luca Alberti, ein ehemaliger Polizist, der sprachkundig für die Deutschen in Venedig Ermittlungsarbeiten durchführt. Er versucht sich in der hohen Kunst des Lavierens, redet sich ein, nur das zu tun, was irgendjemand tun müsse und durch sein Handeln das eine oder andere Leben retten zu können. Alberti ist andererseits völlig illusionslos über sein Schicksal, sollte der Krieg für die Achsenmächte verlorengehen. Eine ganz wunderbar widersprüchliche Person.

Ich erledige eine Aufgabe, die irgendjemand erledigen muss.

David Hewson: Garten der Engel

Das gilt auch für viele andere Figuren, die in Garten der Engel ins Geschehen eingreifen und durch ihre Torheiten und klugen Entscheidungen einen Prozess in Gang setzen, der sich immer mehr beschleunigt und auf eine geradezu klassische Tat zuzusteuern scheint – doch Hewson hält für den Leser einige handfeste Überraschungen und Wendungen bereit; man kann das Buch irgendwann nur schwer aus den Händen legen.

Angesichts der zahlreichen, ansprechenden Personen fallen ausgerechnet die beiden Partisanen ab. Insbesondere die handlungsaktive Mika Artom hat bei mir für Stirnrunzeln gesorgt – ganz bewusst formuliere ich etwas gewunden, denn aus meiner langjährigen Beschäftigung mit diesem Krieg weiß ich, dass in dieser Zeit viele Menschen Dinge getan haben, die im Grunde undenkbar waren.

So verhält es sich vielleicht auch mit Mika, die wie ein menschlicher Katalysator für einen wesentlichen Teil der Handlungsdynamik verantwortlich ist. Wie sie geschildert wird, wäre sie – mit Vorbehalt – längst tot, umgebracht von den Deutschen, italienischen Faschisten oder aber den eigenen Leuten, für die sie aufgrund ihrer Querschlägerei eine immense Gefahr darstellt. Kurz hatte ich sogar die Befürchtung, Mika würde mir das Buch insgesamt verleiden – zum Glück unbegründet.

Hewson hat nämlich en passant mit dem Partisanenmythos ein wenig aufgeräumt. Partisanenkrieg wird oft immer noch verherrlicht, dabei handelt es sich um eine brutale, ja oft menschenverachtende asymmetrische Kriegführung, die ganz bewusst die Zivilbevölkerung in die Feuerlinie bringt. Für jeden getöteten Deutschen wird eine Handvoll Zivilisten erschossen – als abschreckende Terrormaßnahme. Auch einige handelnde Figuren fragen sich, ob das Agieren der Partisanen militärisch gerechtfertigt und moralisch gedeckt ist.

Es wird alles zu einer Geschichte. Einem Märchen. Gut und schlecht. Schwarz und Weiß. Nichts dazwischen. Dabei ist es das Dazwischen, auf das es ankommt.

David Hewson: Garten der Engel

Garten der Engel erzählt die Geschichte im Rahmen eines klassischen Sterbebett-Bekenntnisses. Fünf Teile umfasst das, was der verlöschende nonno Paolo seinem Enkel Nico mitgibt, fünf Manuskripte, die jene Ereignisse aus dem Jahr 1943 erzählen. Es ist – wie sich herausstellt – ein echtes Vermächtnis, über das Leser wie Enkel bis zum Ende nicht recht im Bilde sind. Die langsam sich anbahnende Auflösung vieler Fragen gehört wiederum zu den großen Stärken dieses ganz wunderbaren Romans.

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

David Hewson: Garten der Engel 
Aus dem Englischen von Birgit Salzmann
Folio Verlag 2023
Hardcover 394 Seiten
ISBN: 978-3-85256-876-8

George Orwell: Reise durch Ruinen

Einen unmittelbaren Eindruck von den Verhältnissen im untergehenden Nazireich erhält der Leser aus den Reportagen des englischen Schriftstellers George Orwell. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Die kurzen Texte, die in diesem schmalen Kompendium versammelt sind, haben es in sich. Neben vielen anderen Reportern, Schriftstellern und schreibenden Beobachtern machte sich auch Georg Orwell 1945 auf den Weg nach Deutschland. Der Krieg war noch nicht zuende, als er deutschen Boden betrat, voller offener Neugier – und schockiert, als er die Verwüstungen Kölns sah: Vom Ausmaß der Zerstörungen durch den Bombenkrieg war man auf den Inseln nicht informiert.

Die Unmittelbarkeit der Berichte, die Orwell für Zeitungen verfasst hat, sind ein großer Vorzug. Zwar bemüht sich der Brite um eine möglichst nüchterne Schilderung, reflektiert und analytisch, doch ist dem Ton anzumerken, wie sehr ihn die Eindrücke anfassen. Es sind nicht so sehr die Aspekte, die er in seinen Analysen richtig erkannt hat, sondern jene, bei denen er falsch lag, die ich mit großem Gewinn zur Kenntnis genommen habe. Sie geben einen Einblick in die Hoffnungen und Befürchtungen der Zeit.

Orwell war Teil jener Armeen, die Deutschland besetzten – die letzten Kriegsmonate waren ein apokalyptisches Gemetzel. In den Monaten Januar bis April starben Schätzungen zufolge mehr als eine Million deutscher Soldaten. Wer das im Hinterkopf hat, ist über den milden Tonfall mancher Berichte erstaunt: Die relative Ruhe auf dem Land, in dem das Leben weitergeht, als wäre der Krieg längst abgewickelt. Die Auflösung der Heeresgruppe C in Norditalien, als hunderttausende Landser zurück ins Reich strömten, wird genauso bildhaft geschildert wie die erschütternden Berichte über die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen.

Als Teil der Koalition der Sieger über ein Deutschland, das Europa unterworfen hat, schildert Orwell auch, wie anders sich die Franzosen im Vergleich zu den Engländern oder Amerikanern verhalten haben. Als Beispiel wählt er Stuttgart . Kritik und der Versuch, die französischen Handlungen unwillig mit der Besatzungszeit durch die Deutschen zu erklären, gehen Hand in Hand. Plünderungen, bewaffnete Auseinandersetzungen, wahllose Gefangennahme deutscher Zivilisten und mangelndes Engagement beim Aufbau einer Militärverwaltung bilden nur einen Teil der Kritikpunkte.

Dank des vorzüglichen und kenntnisreichen Nachworts von Volker Ullrich, der die Berichte ausführlich kommentiert und einordnet, zudem eine ganze Reihe weiterer interessanter Fakten und Aspekte nennt, weiß der Leser auch, was Orwell verschweigt: Es kam zu massenhaften Vergewaltigungen durch die in Stuttgart einrückenden französischen Verbände, mehr als eintausend Anzeigen wurden aufgegeben – die Dunkelziffer dürfte immens sein.

Ich kann dieses Buch nur empfehlen, denn es bietet über die unmittelbaren Eindrücke nach Kriegsende hinaus noch weitere tolle Beiträge. Orwell setzt ich zum Beispiel essayistisch mit der Person Hitlers auseinander, in dem er einen Monomanen sieht. Ganz besonders gelungen ist seine Besprechung eines Buches von Thomas Mann, die ein sehr schönes Beispiel für die Schreibkunst und das zugrundeliegende Verständnis George Orwells ist.

George Orwell: Reise durch Ruinen
Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff
C.H. Beck 2021
Hardcover 111 Seiten
ISBN: 978-3-406-77699-1

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Autor Andreas Fischer ist ein ganz besonderes Buch gelungen, kein Roman im eigentlichen Sinne, aber ein großer Wurf aus meiner Sicht. Cover eschen4verlag, Bild mit Canva erstellt.

Vier Wochen brauchte es nur, um von »Heil unserem herrlichen Führer« zu »Es ist grauenhaft.« zu gelangen. Zwei Zitate aus Feldpostbriefen, jene Schreiben, die von den Soldaten der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges an ihre Lieben daheim geschrieben wurden. Günther heißt der Urheber, der Anfang Dezember 1941 voller begeisterter Erwartung endlich Richtung Ostfront in Marsch gesetzt wird, um dort von der Kriegsrealität blitzartig ernüchtert zu werden. Zwei Tage später ist er schon tot.

Diese beiden Schreiben finden sich in der Mitte des grandiosen Buches Die Königin von Troisdorf, sie bilden das Gravitationszentrum des gesamten Themas, das Andreas Fischer aufarbeitet. Er hat sein Werk als Roman bezeichnet, tatsächlich finden sich auch fiktionale, erzählende Passagen inmitten der vielfältigen Erinnerungsimpressionen und Dokumenten wie Briefen und Postkarten; Fotos spielen im Text eine besondere Rolle, abgebildet sind keine – das geniale Cover-Motiv bleibt solitär.

Fischer lässt seine Passagen munter durch die Zeit springen, er wählt einen nüchternen, sachlichen Rahmen, indem er jeden Abschnitt mit Jahreszahl beginnt, oft gefolgt von einer Ortsangabe und einem oder mehreren kleinen Sätzen. Bei den Dokumenten geht der Autor noch einen Schritt weiter, beschreibt Papier, Form, Poststempel, Briefmarke, Schrift und gibt weitere Erläuterungen zu dem, was folgt. Schreiben als Sezieren.

1961.
Troisdorf.
Ich bin einige Wochen alt.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Diese Form ist eine brillante Entscheidung. Sie distanziert das Geschilderte und verhindert, dass Inhalt und Thema in einem überemotionalen, gefühlstriefenden Morast versinken. Der Leser wird auch genug durchgerüttelt, denn was Andreas Fischer zu berichten hat, führt in ein finsteres Tal, das er als Kind durchschreiten musste. Die Verlierer des Verwüstungskrieges haben ihre Wut an der nächsten Generation ausgelassen; und der übernächsten – unmittelbar oder mittelbar.

Der Vater des Autors ist selbst Soldat gewesen, er hat im Gegensatz zu dem zitierten Günther und dem eigenen Bruder Herbert das große Schlachten überlebt, obwohl es ihn am Ende sogar noch in den Strudel der Ardennenoffensive gerissen hat. Die Person, die abends von der Arbeit ausgelaugt am Küchentisch sitzt, raucht und säuft, den alten Ideologien, Verschwörungserzählungen und Feindbildern treu geblieben ist, lässt sich kaum in Einklang bringen mit dem, was an anderer Stelle über ihn zu lesen ist: charmant, wissbegierig, sprachgewandt, freundlich, offen. Frauentyp.

Was hat diesen krassen Wandel bewirkt? Was diese unsäglich Ehe initiiert? Vater Reinhold verhält sich höchst befremdlich und wechselhaft gegenüber Andreas, Mutter und Großmutter, die er »Hindenburg und Ludendorff« oder »Kaltmamsellen« nennt, sind ihm gegenüber von einer gleichbleibenden Kälte. Ein ungeliebtes, verachtetes, unerwünschtes Kind, einer »von seiner Sorte« reiche, heißt es. Es wirkt keineswegs übertrieben, wenn Andreas glaubt, in ihren Augen wäre er ein »Drecksack« und seine (Un-)Taten wären «Verbrechen«.

Jeder Protest, jedes Aufbegehren verhallt.
Hindenburg und Ludendorff kennen keine Gnade.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Wie kann man in einer solchen Umgebung aufwachsen? Wie überleben? Eine weitere, große Stärke des Buches liegt darin, dass es – auch dank der Form – nicht in eine rauschhafte Abrechnung oder gar einen rasenden Amoklauf des erinnerten Schmerzes abgleitet, sondern den Lichtblicken Raum gibt. Andreas hat seine Tante Hilde, und – vom haltlosen Jähzorn abgesehen – durchaus auch seinen Onkel Bruno, der ihn zwar einmal fürchterlich verprügelt, aber im Grunde auch respektiert.

Es gibt in der Kälte durchaus wärmende Momente, auch sein Vater hat einige positive Erinnerungen hinterlassen. Das väterliche Meisterstück bestand darin, seinem fünfzehn Jahre alten Sohn den Auszug in eine Art Schutzraum zu gestatten – mit seiner Hilfe baut sich dieser den Dachstuhl in jenem Haus aus, in dem das familieneigene, gut laufende Fotoatelier untergebracht ist. Dort verbringt er seine Tage, irgendwann auch die Nächte und entzieht sich dem kontrollierenden Zugriff von Oma und Mutter.

Vater Reinhold hat Andreas’ »Testament« gefunden, eine achtseitige Abrechnung, verfasst anlässlich aufkeimender Suizid-Gedanken, und aus diesem alarmierenden Fund eine bemerkenswerte Schlussfolgerung gezogen. Sie steht in Kontrast zu jenem alltäglichen Wüten, zum Beispiel als der Sohn in der Schule mit den Abgründen des Vernichtungskrieges konfrontiert wird: Reinhold leugnet die Fakten rundherum ab, diffamiert sie als alliierte Propaganda und stellt eine rechtsextreme Verschwörungserzählung dagegen.

Andreas hat das große Glück, dass er an eine vernünftige Lehrerin gerät, die ihn zunächst den Unsinn vortragen lässt, ehe sie ihm ruhig widerspricht; eine Bibliothekarin, die ihn mit der nötigen Literatur über den Holocaust versorgt, sodass er sich selbst ein Bild machen kann; einen Geistlichen, der ihm eine Erklärung dafür liefert, warum sein Vater eine Lüge der Wahrheit vorzieht. Am Ende steht eine eigene Meinung, die im Gegensatz zu dem väterlichen Nonsens steht. So geschieht Bildung, gedeihen Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit, das Pendant zum emotionalen Rettungsanker.

Der Hass meiner Oma auf mich durchzieht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach wie ein bestialischer Gestank, dessen Quelle nicht zu orten ist. Ich bin zu klein, um Überlegungen anzustellen, wo die Ursache liegen könnte. Der Gestand ist völlig normal, ganz selbstverständlich gehört er zu meiner Welt wie das Geschäft meiner Eltern, das weiße Schulgebäude und Vaters Schnapsflasche im Kühlschrank.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern sind gestört und im Grunde kaputt. Andreas Fischer stellt viele Fragen, ohne unbedingt eine Antwort zu geben oder auch nur zu versuchen. Was für ein Glück, denn so bleibt es dem Leser überlassen, selbst nach welchen zu suchen – oder auch nur zu lesen. Dankbarerweise verzichtet der Autor auch auf die Niederungen jeder Gut/Böse-Verschlichtung, die Widersprüche sind klar und bleiben unaufgelöst.

Dieses Buch ist auch ein ganz wunderbares Beispiel dafür, wie ein Inhalt seine passende Form gefunden hat. Man kann fast dankbar sein, dass der Autor keinen Verlag gefunden hat, der ihn möglicherweise genötigt hätte, seine Lese-Kost zu einem gefälligen, leicht verschlingbaren Literaturbrei zu pürieren; der Inhalt verlangt geradezu nach einer sperrigen Form. So ist Die Königin von Troisdorf ein großer, geradezu royaler Wurf.

Wer eine Zweitmeinung zu dem Roman einholen möchte, den verweise ich gern auf die sehr gelungene, ausführliche und etwas anders fokussierte Buchbesprechung auf dem generell empfehlenswerten Blog: Horatio-Bücher.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf
eschen 4 verlag 2022
Hardcover 473 Seiten
ISBN: 978-3-00070-369-0

Lesemonat April 2023

Berlin!

Zum ersten Mal habe ich eine Graphic Novel auf meiner Buch-Blog besprochen – und was für eine. Jason Lutes Berlin ist ein – ja – Bibliotheksfund. Im Vorübergehen habe ich das voluminöse Buch gesehen und mich an eine positive Rezension in der Süddeutschen Zeitung erinnert. Da sich auch Volker Kutscher enthusiastisch über das Werk äußert und mich das Thema generell anspricht, habe ich es gleich ausgeliehen. Was für ein tolles Werk!

Karten gehören zu meinem Leben, gerade auch solche mit historischem Inhalt. So habe ich mich sehr darüber gefreut, ein Leseexemplar von Christian Grataloups Die Geschichte der Welt* besprechen zu können. Trotz einiger kritischer Anmerkungen bin ich insgesamt begeistert. Es ist ein wunderbarer Schmöker, aber auch ein toller Lesebegleiter, wenn man sich einen schnellen Überblick über ein Thema verschaffen will.

Gut drei Monate habe ich an dem Opus Magnum des spanischen Schriftstellers Javier Marías gelesen. Ein Buch von 1.600 Seiten Stärke kann man wegfressen, was sich angesichts des Inhalts und des Schreibstiel von Dein Gesicht morgen verbietet, oder sich Zeit nehmen und Zeit lassen. Was für eine tolle Reise! Die werde ich sicherlich nie vergessen, zumal sich der Autor an bedeutenden Themen abarbeitet.

Zu meiner Schande muss ich geschehen, dass ich mehr über Hemingway als von ihm gelesen habe. So hat Leonardo Padura in Adiós Hemingway über seine letzten Jahre auf Cuba geschrieben, während Steffen Kopetzky in Propaganda den Leser auf den Autor in Paris 1944 treffen lässt. Nun habe ich aber nachgelegt und Der alte Mann und das Meer gelesen – eine grandiose Erzählung des Nobelpreisträgers. Sehr empfehlenswert.

Das gilt auch für Die Nickel Boys, Seebeben* und Die Detektive vom Bhoot-Basar: Die Romane von Colson Whitehead, Deepa Anappara und Djaimilia Pereira De Almeida führen den Leser in die USA, nach Indien und Portugal, wo sie mit sehr unterschiedlichen, aber schwerwiegenden sozialen und gesellschaftlichen Missständen konfrontiert werden. In allen Fällen auf eine gelungene, literarisch ansprechende Weise.

Kriegslicht ist Halbdunkel, verwischt und vernebelt. Es verbirgt Dinge, hält sie im Schatten, bis sie ins Reich des Vergessens gleiten – Michael Ondaatje hat das in seinem Roman  heraufbeschworen, er lässt den Leser lange über viele Dinge im Unklaren, während er dem Protagonisten auf seiner Suche nach Antworten folgt. Das hätte eine Besprechung verdient, aber – die Zeit! Also: Leseempfehlung; oder zum Hörbuch greifen.

Aus der Feder von Joseph Roth stammt einer der besten Romane, die ich kenne: Radetzkymarsch. Ich habe ihn mehrfach gelesen, Sprache und Wahrnehmung Roths sind unglaublich. Das Buch ragt unter seinen anderen Schriften heraus, bislang hat mir keines so gut gefallen. Das gilt auch für Die Legende vom heiligen Trinker, einer etwas skurrilen, märchenhaften Säufer-Geschichte. Der eigentliche Grund, dieses kurze Stück zu lesen, ist Volker Weidmanns wunderbarer Roman Ostende 1936, in dem auch Roth und seine selbstzerstörerische Neigung zum Alkohol eine wichtige Rolle spielen. Den will ich 2023 noch einmal lesen – dafür schmökere ich Erzählerisches wie Roths Legende.

Blog-Monat

Meine Besprechung zu dem Buch Seebeben von Djaimilia Pereira De Almeida hat im Monat April die meisten Aufrufe erhalten, knapp dahinter folgt Serhij Zhadans Himmel über Charkiw, obwohl die Kurzrezension erst dicht am Monatsende erschienen ist und hier noch aufgeführt ist.

Bei Gelegenheit ein Wort zu meiner Arbeitsweise bei den Lesemonaten: Ich nehme mir die Freiheit, nicht alle Bücher, die ich besprochen habe, zeitlich passend aufzuführen, sondern zu schieben. Zhadans Buch kommt nächsten Monat an die Reihe – gemeinsam mit mindesten einem weiteren Neuzugang in der Rubrik Ukraine. Neben thematischen Gründen will ich nicht mehr als zehn, maximal zwölf Bücher hier aufführen – wozu auch? Lesen ist kein Wettbewerb. 

Unter den Sachbüchern bekam Wolfgang Niess Buch über den Hitlerputsch 1923 die meiste Aufmerksamkeit. Überhaupt freut mich, dass meine Beiträge über Sachbücher bislang gut aufgenommen werden – zwar kommen sie mit den Top-Titeln unter den Romanen nicht ganz mit, aber damit war ohnehin nicht zu rechnen.

Bibliotheken: Ohne geht nichts

Zwei der Bücher, die in diesem Lesemonat vorgestellt werden, habe ich aus der Göttinger Stadtbibliothek ausgeliehen; in der Regel lungert zuhause rund ein halbes Dutzend entliehener Bände herum. Nicht jedes davon wird vollständig gelesen, so habe ich zwei Bücher über die deutschen Kolonien, von denen mich nur die ersten Kapitel interessieren, aus Recherche-Gründen, denn meine Abenteuerreihe berührt das Thema in einem späteren Band auch.

Aus dem gleichen Grund habe ich mir ein Kompendium über Wikinger ausgeliehen, das ich kursorisch durchschmökern werden – ebenfalls aus Recherchegründen. Gleich mehrere Bände stammen aus der Feder ukrainischer Autoren bzw. eines Deutschen, der in der Ukraine lebt. Sie haben sich mit dem Angriffs- und Vernichtungskrieg auseinandergesetzt, den Russland gegen den Nachbarn entfesselt hat.

Bibliotheken sind ein Segen. Ich hätte mir die vielen Bücher, die ich dort bereits geliehen habe, niemals leisten können. Mir stehen weder genug Geld noch Platz zur Verfügung. Außerdem ist die Bibliothek ein wunderbarer Ort, um Bücher auszuprobieren: Man nimmt sie mit nach Hause und liest darin ein wenig; gefällt es, liest man weiter, wenn nicht, wandert es zurück. Auf diese Weise habe ich schon tolle Autoren kennengelernt, die mir andernfalls entgangen wären.

Gerade für Eltern ist die Bibliothek unverzichtbar. Meine Kinder haben hunderte von Büchern gelesen bzw. vorgelesen bekommen, ein Teil davon füllt heimische Regale, die Mehrzahl stammt aus der gut sortierten Abteilung in der Stadtbibliothek. Auch hier wäre das Leseleben deutlich ärmer ausgefallen, hätte die Möglichkeit nicht bestanden. Ein kleiner Wermutstropfen: Computer und Handy setzen der Leselust irgendwann trotz allem zu.

In dem wunderbaren Roman »Die Königin von Troisdorf« von Andreas Fischer spielt die Stadtbibliothek auch eine wichtige Rolle: Sie eröffnete dem Autor, als er noch Schüler war, die Möglichkeit, über die Kriegsverbrechen und den Holocaust des Hitler-Regimes zu lesen – was angesichts der häuslichen Verschwörungserzählungen des Vaters ein Segen gewesen ist. So geht Bildung.

*[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

© 2023 Alexander Preuße

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