Schriftsteller - Buchblogger

Monat: September 2023 (Seite 1 von 2)

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Ein großer Roman aus Slowenien, hervorragend erzählt. Cover Zsolnay-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Das große Elend. So nennt es die Mutter des Protagonisten Danijel, wenn in der heimischen Küche Zusammenkünfte des Ehegatten mit anderen ehemaligen »Teilnehmern am Volksbefreiungskampf«, also Partisanen, abgleiten. Es wird gesoffen, gesungen, gestritten, gebrüllt, Alkohol verschüttet und ab und zu landet ein Glas an der Wand, ehe man sich wieder versöhnt.

Manchmal muss Danijel mitten in der Nacht aufstehen und das Gegröle musikalisch untermalen. Seine Mutter verlässt daher mit ihm oft vorsorglich das Haus und schlüpft an solchen Abenden bei Verwandten unter, um dem großen »Elend« zu entgehen. Ist das nicht möglich, sitzen Mutter und Sohn in ihren Zimmern und hoffen, dass es beim gewöhnlichen »Elend« bleibt.

Allein das Wort »Elend« wird zu einem Abgrund, denn Drago Jančar entzieht auf diese schlichte Weise dem Nachkriegsdasein ehemaliger Widerständler alles Heroische. Der Vater von Danijel hat Gestapohaft und Lagerhaft überlebt, doch was bleibt davon? Der Held führt sich in der jugoslawischen Gegenwart in einer Weise auf, die Ekel und Fremdscham heraufbeschwören, er nimmt sich Freiheiten in einer noch immer begrenzt freien Gesellschaft.

Die Hilflosigkeit des Einzelnen, dem Schatten entgegenzutreten, den der Zweite-Weltkrieg auf die Gegenwart der späten 1950er Jahre in Slowenien wirft, sowie die Flucht in phrasenhafte Großsprecherei und Alkohol, ist ein Marsch in die persönliche Selbstzerstörung. Politisch, gesellschaftlich hält sich der Fortschritt in Grenzen, ja, es gibt sogar Parallelen der Gegenwart zur Nazi-Zeit. Der Ledermantel markiert die Grenze der Verbesserungen, eine Geheimpolizei brauchten beide Regimes.

Wenn du einen dieser Typen im langen Ledermantel siehst, weißt du, der ist von der Gestapo, auch wenn er in Zivil ist. Du machst einen großen Bogen um ihn, damit er dich nicht irgendwas fragt. Aber auch heute gehen welche in Ledermänteln herum, das sind die von der Ozna, mit denen hast du besser auch nichts zu tun.

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Das Zitat zeigt schön, wie Jančar Ereignisse, Personen, Zusammenhänge einander gegenüberstellt und weder kommentierend noch belehrend für sich selbst sprechen lässt. Dabei hilft ihm die Perspektive Danijels, der aus einer naiven, manchmal altklugen Sicht erzählt; ein bekanntes, wirkungsmächtiges Vorgehen, in diesem Falle angereichert mit einigen originellen Stilmitteln.

Das »große Elend« eskaliert eines Abends, als ein Teilnehmer der Zusammenkunft die sowjetische Nationalhymne anstimmt. In (»Marschall«) Titos Jugoslawien war man auf Distanz und eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der UdSSR bedacht. Danijels Vater, vom Schlaganfall getroffen und beeinträchtigt, schwankt ins Schlafzimmer und holt eine Pistole (alle Ehemaligen haben noch ihre Waffen). Er feuert sie ab, wie um einen Eindringling zu vertreiben. Die Kugel fährt in die Decke.

Der Schuss bleibt nicht folgenlos, die Miliz kommt und nimmt die Waffe mit. Danijels Vater ist empört, man behandele ihn wie einen Kriminellen. Ob man dafür (gegen die Deutschen als Partisan) gekämpft habe, dass einem die Miliz die Waffen wegnähme? Der Waffenschein sei auch weg, Danijels Vater »sei Invalide, und jetzt obendrein noch ohne Pistole.« Der Kampf gegen die Unfreiheit dient als Begründung dafür, sich Freiheiten herauszunehmen.

Er dreht lange die Tasse in den Händen herum und schaut in den dunklen Schlick des Kaffeesatzes. Wie die Hellseherinnen, die in den Schlieren auf dem Boden das Schicksal eines Menschen sehen. Welches Schicksal wird er ohne Waffe haben? Wie wird er sich vor Feinden und Leuten schützen, die in seine Wohnung kommen, um die sowjetische Hymne abzusingen?

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Das Ganze mündet in einen grotesken Tagtraum, in dem Danijel sich vorstellt, wie sich sein Vater beschwert und der Herr Jugoslawiens, Marschall Tito, alles wieder geraderückt. Höchstpersönlich, wie ein guter König im Märchen. Lustig ist das nicht, sondern bedrückend und deprimierend mitanzusehen, wie erbärmlich Heroen des Widerstands im Nachkriegsalltag eines angeblichen sozialistischen Paradieses vegetieren.

Das andere, jenseitige Paradies des kirchlichen Christentums bildet den Kontrapunkt zu der herrschenden Ideologie, Sie wird von Danijels Vater schärfstens angefeindet und bekämpft, obwohl die eigene Frau eine fleißige Kirchgängerin ist. Ihr Sohn nimmt am Unterricht bei »Vater Aloisius« teil, wo er auf rüde, herrische Weise mit einer anderen, absoluten Wahrheit konfrontiert wird.

Eine Hilfe ist ihm das nicht, im Gegenteil. Die Kirche in Gestalt des dogmatischen Geistlichen und der frömmelnden Mutter zwingt Danijel in gruselige Situationen. In der Schule wird er von einer linientreuen Lehrerin als »Verräter« gegenüber seinem Land und seinem heldenhaften Vater regelrecht vorgeführt, beim Abendmahl, im Beichtstuhl und dem geistlichen Unterricht sind abweichende Gedanken und Fragen lästig, während das Ritual peinlich eingehalten werden muss, sonst drohen hochnotpeinliche Erlebnisse.

Beide Formen der Weltverschlichtung, die absolute Wahrheit für sich in Anspruch nehmen und komplexe Wirklichkeiten auf hohle Formeln reduzieren, werden im Verlauf der Handlung entzaubert; dank der großen, gelassenen Erzählweise in Drago Jančars Als die Welt entstand auf eine unaufdringliche Weise, die dem Leser das Denken überlässt. Widersprüche gibt es genug.

Die Welt entsteht, indem die bestehende zerbricht, ihre Gewissheiten, die Klarheit weichen der Unschärfe; sie fühlen sich wie Lügen an.

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Da wäre Danijels Freund, dessen Vater im Krieg zur Wehrmacht eingezogen wurde und der ein Bein verloren hat, dafür aus Deutschland eine Rente bezieht, was den väterlichen Volksbefreiungskämpfer empört. Oder Professor Fabjan, der Deutsch an einer Schule unterrichtet hat, während Slowenien besetzt und Teil von Hitlers »Großdeutschland« war, aber russische Literatur schätzt, während seine Tätigkeit wie ein Brandmal nachwirkt.

Zwischen den beiden großen Mühlsteinen, dem sozialistischen und christlichen, ist Danijel eingeklemmt, eine Stütze sind sie ihm nicht, als er mit den menschlichen Widersprüchen konfrontiert wird. Als die Welt entstand erzählt, wie die Hauptfigur ihre Kindheit verlässt, das scheinbar sichere Fundament der Wahrheit gegen die Widersprüchlichkeit eintauscht und so die ersten Schritte in Richtung Erwachsenenleben macht.

Dabei geht es von Anfang an keineswegs um nur um Politik oder Gesellschaft. Die Welt entsteht für Danijel auch durch eine Dreiecksgeschichte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Diese Liebesgeschichte endet tragisch, wie man schon den ersten Seiten entnehmen kann, auf den bereits vorausgenommen wird, dass es »heftig« werde und die Ereignisse den Junge regelrecht überrollt hätten. »Es« steht für die »große Geschichte des Lebens«, die Liebe.

[Rezensionsexemplar]

Drago Jančar: Als die Welt entstand
Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler
Paul Zsolnay Verlag 2023
Gebunden 276 Seiten
ISBN: 978-3-552-07358-6

Benedict Jacka: Der Magier von London

Auch der dritte Teil der Buchreihe ist ein schöner Schmöker. Bild Blanvalet, Cover mit Canva erstellt.

Unsterblichkeit. Im dritten Teil der Abenteuer um den Magier Alex Verus touchiert die Handlung dieses Phänomen. Mehr wird nicht verraten, über dem Was, Wie und Warum lasse ich den Schleier ungelüftet, aber diesen Hinweis möchte ich voranstellen: Zu allen Zeiten dürften die Menschen vom Gedanken an die Unsterblichkeit fasziniert gewesen sein. Was wären wir bereit zu tun, wenn das Überwinden der Sterblichkeit in greifbare Nähe rücken würde?

Kurioserweise hat J.R.R. Tolkien die Sterblichkeit als Geschenk Illuvaters an die Menschen bezeichnet – was für ein atemberaubender Gedanke! In Der Magier von London geht es in Bezug auf das Motiv eher klassisch zu, der Roman ist wie die beiden ersten Teile der Buchreihe sehr dynamisch, angereichert mit mehr oder weniger magisch aufgeladener Action und einem wirklich sehr gelungenen Ende.

Die Hauptfigur, Alex Verus, ist selbstverständlich weiter ganz der alte, hat sich aber ein wenig weiterentwickelt. Wesentlich dafür ist seine Mitstreiterin Luna, seit diesem Band Lehrling. Sie kämpft mit ihrer neuen Rolle genauso wie mit der Beherrschung ihres Fluchs anderen Wirrungen. Beides sorgt für hübsche Wendungen in der Handlung.

Zugleich hat Jacka glücklicherweise darauf verzichtet, nach jedem Band den literarischen Reset-Knopf zu drücken – die Ereignisse aus den ersten Teilen wirken nach und bestimmen das Verhältnis von Verus zu den Magiern und Institutionen seiner Welt. Die wird dankenswerterweise auch noch ein Stück weiter, denn neue Bekanntschaften und Begegnungen sorgen dafür, dass sich die Interaktionen und Beziehungen nicht nur in ausgetretenen Pfaden bewegen.

Ganz besonders gelungen finde ich diesen Roman, dass er entlang der Auflösung eines recht komplexen, zunächst undurchschaubaren Rätsels erzählt wird, das dank verschiedener Parteien mit gleichlaufenden und gegensätzlichen Zielen ebenso verschlossen wie verwirrend ist. Stück für Stück kommen Verus und seine Mitstreiter bei der Auflösung voran und geraten in haarsträubende Gefahren.

Ein ganz wunderbarer Schmöker, der viel Vorfreude auf den nächsten Band weckt.

Weitere Teile der Reihe um Alex Verus, die ich besprochen habe:
Das Labyrinth von London
Das Ritual von London.

Benedict Jacka: Der Magier von London
Aus dem Englischen von Michelle Gyo
Blanvalet 2019
Taschenbuch 416 Seiten
ISBN: 978-3-7341-6234-3

Florent Silloray: Capa

Eine gelungene Graphic-Novel über den weltberühmten Kriegsfotografen, man erkennt seine Bilder wieder, aus einer anderen Perspektive. Cover Kenesbeck-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Seit dem herausragenden Roman Der Schlachtenmaler von Arturo Peréz-Reverte bin ich für das Thema Kriegsfotographie sensibilisiert. Robert Capa, bürgerlich Endre Friedmann, geboren 1913 in Budapest, war wohl einer der bekanntesten Könner seines Fachs. Die Graphic-Biography von Florent Silloray zeichnet das Leben des Kriegsfotographen überwiegend linear nach, einzelne Rückblenden sind eingestreut.

Was für ein Lebensweg! Die Bilderzählung setzt 1936 ein, als Robert Capa von seiner Freundin Gerda erfunden wird, um das Leben in bitterer Armut durch einen Trick zu beenden: Endres soll vorgeben, er wäre ein amerikanischer Fotograf, Gerda mimt dessen Agentin. Damit soll es gelingen, die Tarife anzuheben, die Fotograph Endres bislang fordern kann.

Das Unternehmen klappt – zeitweise – und bringt wichtige Kontakte, Aufträge und Perspektiven. Im gleichen Jahr geht es nach Barcelona, hinein in den Spanischen Bürgerkrieg, den ersten der folgenden 18 Jahre, die Endres / Capa noch bleiben. Denn 1954 wird er bereits sterben, in Indochina, dicht an der Front, im Kampfeinsatz mit einer französischen Einheit, bei dem er auf eine Mine tritt.

Die Zeit dazwischen mit ihren globalen Kriegshandlungen erlebt der Leser dieser Graphic-Biography recht atemlos, dank der verknappten, unpathetischen, ereignisorientierten Darstellung. Es gibt Auszeiten, vor allem in Hollywood, als Capa heimlich mit dem Weltstar Ingrid Bergmann liiert ist, aber auch später in Frankreich, als es ihm gelungen ist, eine Fotoagentur zu gründen, um die individuelle Abhängigkeit des Kreativen von den Zeitungen zu brechen.

Die Schattenseiten dieses Mannes bleiben nicht verschwiegen. Alkohol, Kartenspiel mit hohen Spielschulden; sein Dämon in Gestalt des tragischen Schicksals Gerdas, das ihm eine Bindungshemmung hinterlässt. Silloray breitet das vor den Augen des Lesers ebenso aus, wie die grauenhaften Erfahrungen, die Capa 1944 in der Normandie macht.

Natürlich ist sein berühmtes Bild vom sterbenden Milizionär auf dem Schlachtfeld des Spanischen Bürgerkrieges zu sehen – aber aus einer ganz anderen Perspektive, die den Fotographen bei seinem Schnappschuss zeigt. Nicht nur das ist großartig, denn auf eine ganz besonders gelungene Weise fängt Silloray das Leben dieses Mannes ein, der eben auch ein Migrant war, wurzel- und staatenlos.

Florent Silloray: Capa
Knesebeck 2017
Hardcover 90 Seiten
ISBN: 978-3-95728-067-1

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Ein rasanter, spannender, wendungsreicher Roman, unter dessen Oberfläche eine Menge mehr schlummert, wie das großartige Nachwort offenbart. Cover Elsinor-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Die Nacht der kranken Hunde von A.D.G. spielt in der französischen Provinz, die Hauptakteure glänzen nicht gerade durch urbane Weltläufigkeit, um es einmal zurückhaltend zu formulieren. Rückständig würden die Städter sie halten, klagt der Erzähler, wie rückständig sie tatsächlich sind, zeigt ausgerechnet jener Satz, der das Vor-Urteil entkräften soll: Man wisse, dass Hippies junge Leute seien, „mit Rauschgift, die ihre Frauen verleihen, ganz gleich an wen.“

Auf diese direkte Weise gelingt es dem Autor, die Personen zu charakterisieren, mit denen es der Leser auf den nächsten 170 Seiten vornehmlich zu tun bekommt. Die Dörfler sind eben nicht wie jene dickköpfigen, aber harmlosen Streithähne in jenem allbekannten gallischen Dorf, sie sind oft auf eine verletzend offene Weise boshaft, unanständig, schweinisch mit ihren schamlosen, sexualisierten Witzen und trinken zweifellos zu viel und zu oft Alkohol.

Zumindest während der erzählten Zeit verbringen sie sehr viel mehr Stunden in ihrer Stammkneipe als bei der Arbeit, von der bemerkenswert wenig die Rede ist. Ihre Ehefrauen sind kaum mehr als Heimchen, die durch die von Gardinen behüteten Fenster nach draußen spähen, wenn etwas geschieht; dennoch ihren Männern erlauben müssen, wenn sie trinken gehen wollen. Die Sozialstruktur ist auf eine deprimierende Weise erdrückend rückständig und ein dumpfer Gegenentwurf bürgerlicher Spießigkeit.

Eine Ärztin – wir wussten zwar, dass es so etwas gibt, hatten aber noch nie eine gesehen. Und wir waren überrascht, dass ein so schönes und so junges Mädchen Ärztin sein sollte. Um es genau zu sagen: Viel Vertrauen hatten wir nicht.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Der Autor hebt das negative Bild in gewisser Weise wieder auf, wenn die Dörfler auf die Hippies treffen, mit diesen über das Problem sprechen, das sie mit ihnen haben: Die langhaarigen Frauenverleiher haben sich auf einem Stück Land niedergelassen, ohne die Erlaubnis dafür eingeholt zu haben. Ausgerechnet auf einer Parzelle, deren Besitzrecht umstritten ist, was zu einem Leitmotiv der gesamten Handlung führt, denn einer der vorgeblichen Besitzer hat ein besonderes Interesse an diesem Flecken Erde.

Das Zusammentreffen der rückständigen Landeier und der Hippies nimmt einen völlig unerwarteten Verlauf, womit der Autor sein Händchen dafür beweist, den Leser mit seinen eigenen Vorurteilen in die Falle zu locken. Das Aufeinandertreffen verspricht geradezu ostentativ eine blutige, überschäumende Konfrontation mit tödlichem Ausgang, doch wird es nicht eingelöst, weil sich die Dörfler auf eine ziemlich schräge Weise auf die Hippies einlassen, mit ihnen am Feuer sitzen, trinken (Whiskey wie der Bürgermeister) und irgendwann sogar singen. Diese Steilvorlage lässt sich A.D.G. nicht entgehen, und wählt boshafterweise „We shall overcome“ – davon kann im weiteren Verlauf der Handlung wahrlich keine Rede sein.

Leute, die so trinken wie der Bürgermeister, waren vielleicht doch nicht völlig verworfen.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Ich fasse mich bewusst kurz, denn der Die Nacht der kranken Hunde ist ein rasant erzählter Roman, der auf erklärende, reflektierende Passagen verzichtet; stattdessen wird die Handlung vorangetrieben, die sich immer weiter zuspitzt und von einer ganzen Reihe heftiger Wendungen geprägt ist. Das vorwegzunehmen wäre gegenüber möglichen Lesern unfair, wenngleich der Roman durchaus zum mehrfachen Lesen einlädt, denn wie viele Noir-Krimis enthält auch dieser unter seiner Oberfläche sehr viel mehr.

Dieser ersten Wendung folgen noch etliche weitere, blutige, denn der Tod einer Dorfbewohnerin ruft weitere Parteien auf den Plan, die ebenso unredliche wie ungesetzliche Absichten verfolgen. Die Gegensätze  verlaufen dabei nicht so, wie es die Gruppenzugehörigkeit vermuten ließe. Das einsetzende Verwirrspiel wird durch die unklaren Fronten und Interessen noch verschärft, natürlich mischt auch die Polizei noch mit, die jedoch vom Autor nicht gerade als elitäre Heldentruppe vergeführt wird.

Tatsächlich spürt der Leser mit dem Auftreten der Uniformierten und den Reaktionen der Dorfbewohner ein beträchtliches Maß an Anarchie, mit dem diese Geschichte unterlegt ist und die sich im Erzähltempo und -duktus niederschlägt. Die Polizisten sind nicht die hellsten Leuchten und lassen sich von den Einheimischen mit hanebüchenen (Fehl-) Informationen aufs Glatteis führen und von den eigenen Absichten ablenken.

Die Männer des Dorfes wollen die Angelegenheit selbst regeln, ein nahezu klassisches Motiv auch aus anderen Genres, etwa dem Western, wo das Misstrauen und die Missbilligung gegenüber dem Staat und seinen Institutionen auf gleiche Weise transportiert wird. Die Herren des Ortes verfügen über Waffen, einige entstammen noch den heroischen Zeiten der Résistance, die auch gleich als Begründung für das eigenmächtige Handeln herhalten darf. Der Autor treibt dieses Spiel bis an den Rand einer Groteske

Obwohl schon Frühling war, würden wir bestimmt Feuer im Kamin anzünden. Um die hässlichen Bilder zu verscheuchen.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Die Erzählform trägt zu Befremdung ihren Teil bei. Lange bleibt unklar, um wen es sich beim Erzähler handelt, ja, ob es überhaupt einen gibt. „Wir“ wird gleich am Anfang des zweiten Absatzes als Erzählhaltung eingeführt, da es sich nicht um die Gollum-Version („Wir sind immer allein“) handelt, könnte es auch eine Art kollektives Bewusstsein sein, das spricht. Auch das nutzt A.D.G. zu einem fulminanten Twist gegen Ende des Romans, der den Leser nach all den ohnehin haarsträubenden Wendungen noch einmal verblüfft blinzeln lässt.

Wie bei allen Teilen der ganz wunderbaren Reihe um Klassiker der Spannungsliteratur beim Elsinor-Verlag rundet ein ganz großartiges Nachwort von Martin Compart den Band ab. Bei der Lektüre wird deutlich, dass unter der sehr handlungslastigen Erzählung eine ganze Menge Mehr-Sinn schlummert, denn es handelt sich bei Die Nacht der kranken Hunde um einen besonderen Noir-Roman.

Der natürliche Lebensraum des Noir-Personals ist das urbane Milieu, A.D.G. versetzt seine Protagonisten aufs Land. Ein Country-Noir also, über den Compart eine Menge zu erzählen weiß. So viel und so gut, dass man diesen sehr unterhaltsamen Roman gleich nochmals lesen will oder eben einen aus der Feder eines der andere Autoren, die im Nachwort genannt werden.
[Rezensionsexemplar]

Ebenfalls in der Reihe erschienen & besprochen:
Fearing, Kenneth: Die große Uhr.
Buchan, John: Der Übermensch.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde
Elsinor Verlag 2023
TB 194 Seiten
ISBN 978-3-942788-73-1

Tobias Rüther: Herrndorf

Trotz des tragischen Schicksals, das den Autor ereilte, lacht man oft und laut bei der Lektüre dieser sehr gelungenen Biographie, dank Herrndorfs bissigem Witz. Cover Rowohlt, Bild mit Canva erstellt.

Der Komet kommt, man weiß es von Anbeginn an; trotzdem breiten sich nach seinem Einschlag Schockwellen aus, durch Buch und Leser; ein Echo bloß jener Erschütterung, die Wolfgang Herrndorf angesichts seiner Diagnose erfasst haben muss. Bestürzend der Gedanke, dass es vielleicht dieses fürchterlichen Schicksalsschlages bedurfte, um Tschick und Sand und Arbeit und Struktur und Bilder deiner großen Liebe überhaupt zu schreiben.

Vorher, über viele Jahre hinweg, die irgendwie ins Ungefähre verliefen, waren es sehr wenige, wenn auch aus meiner Sicht sehr lesenswerte Bücher: In Plüschgewittern etwa, das in vielerlei Hinsicht typisch für Herrndorf ist; aber auch Diesseits des Van-Allen-Gürtels und Die Rosenbaum-Doktrin. Aber als Herrndorf die Diagnose erhalten hat und nach Hause geht, fasst er Entschlüsse, darunter den fundamentalen, zunächst seinen Jugendroman zu vollenden, der – bittere Ironie – zu einem durchschlagenden Erfolg auf dem Buchmarkt werden sollte.

Selbstverständlich ist das nicht, wenn man gerade erfahren hat, dass sich in seinem Kopf eine unheilbare, tödliche Krankheit eingenistet hat; ebensowenig selbstverständlich, dass es mit dem Schreiben wirklich geklappt hat; wie fragil die Situation in den ersten Tagen nach der Diagnose gewesen ist, schildert auch Daniel Rüther in Herrndorf auf beklemmende Weise; die entsprechenden Passagen in Arbeit und Struktur sind für mich bei der Lektüre kaum erträglich und zugleich von atemberaubender Intensität gewesen. Diese Seiten »ziehen einem den Stecker«.

Die Arbeit, sagt Carola Wimmer, »war der Abwehrzauber gegen die Todesangst«

Tobias Rüther: Herrndorf

Doch alles wäre nichts gewesen, hätte Wolfgang Herrndorf nicht jene Kraft aufgebracht, sich erfolgreich gegen die Todesangst zu wehren. Man sollte diese Teile des Buches mit weichen Augen lesen, um zu verstehen, was dem Autor in dieser fürchterlichen Situation gelungen ist: in größter Todesnot einen Roman wie Tschick zu schreiben, leicht, lebensbejahend, gut lesbar.

Und danach Sand, mein Lieblingsroman von Herrndorf, überhaupt einer der besten Romane, die ich gelesen habe. Natürlich waren die Zeitgenossen verblüfft über die tiefe Kluft, die sich zwischen dem Jugend- und Wüstenroman auftut. Beide flossen aus einer Feder und gehören doch ganz verschiedenen Welten an; leicht lesbar sind beide, fesselnd auch, doch ist Sand auf seine kompromisslose Weise für den Leser ein Marsch durch einen Dornwald.

Wie unterschiedlich man den Roman lesen kann, zeigt Rüther anhand von einigen Beispielen auf; hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, die sehr spezielle, komplizierte Erzählstruktur, die verwundene Rätselshaftigkeit und das Versteckspiel des Textes, in den Herrndorf Fäden aus dem Nichts in die Handlung eingewirkt hat, um diese lose flatternd zurückzulassen, erlauben vielfältige Zugänge. 

Aber was nützen schon Pläne: Was der Mensch wird in der Welt – das ist eine Erkenntnis, die Herrndorf wieder und wieder wiederholt, auch später – , das wird er sowieso nicht dank seiner Planung oder seines Willens.

Tobias Rüther: Herrndorf

Der Weg zu dem Kometen-Moment ist verblüffend. Herrndorf war als Kind erkennbar hochbegabt, vielfältig talentiert hat er sich der Malerei zugewandt und das Fach nach Abitur und Zivildienst in Nürnberg studiert. In der dortigen Atmosphäre hat er Schiffbruch erlitten, sein Stil hatte für die gewöhnlichen Studenten und Lehrkräfte etwas Anachronistisches, sein Auftreten galt machem als (zu) wenig »künstlerisch«.

Mit seiner Professorin liegt er über Kreuz und doch schafft es Herrndorf nicht, sich zu lösen; ein Wesensmerkmal, das sich auch auf anderen Feldern wiederfindet, etwa der nicht enden wollenden, unerfüllten und schmerzhaften Liebe zu einer Mitschülerin, die auch Jahre nach dem Abitur nicht erlischt und in Herrndorfs Kunst Spuren hinterlässt. Umgekehrt verweigert sich Herrndorf beharrlich dem gewöhnlichen Gang der Dinge, etwa Ausstellungen seiner Bilder; dieses Muster durchbricht er bei seiner Schreiberei glücklicherweise.

Pläne sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind. Nach dem bitter erkämpften Abschluss stößt Herrndorfs Arbeit plötzlich auf begeisterte Zustimmung, er illustriert, karikiert für Titanic und Eulenspiegel und gestaltet Umschläge von Büchern, kreiert brillante Bilder für einen Kalender zu Helmut Kohl und schafft Illustrationen für ein Buch über den ewig phrasendreschenden Fußballmoderator Heribert Fassbender.

Malen ist für mich, wie Zahnarzt ohne Betäubung. Ich KANN das nicht mehr.

Tobias Rüther: Herrndorf

Irgendwann lässt Wolfang Herrndorf das Malen sein. Warum er das so lange betrieben hat, obwohl das Zitat eine tiefgreifender Abneigung gegen diese Tätigkeit offenbart, bleibt letztlich rätselhaft; immerhin ist es ein Muster, es fällt ihm schwer, Dinge aufzugeben; wie bitter das später gewesen sein muss, wenn er krankheitsbedingt Dinge aufgeben muss, etwa nicht mehr Fußball- oder Eishockeyspielen kann.

Zu den vielfältigen Facetten des Lebens von Wolfgang Herrndorf gehört seine Tätigkeit als Schöffe und seine kurze Zugehörigkeit zur Autorennationalmannschaft, vor allem aber sein Daueraufenthalt im Internet – noch vor Facebook, Twitter und Instagram. Ein Forum bzw. auserlesenes Unterforum ist seine Welt, bis zum Ende; Arbeit und Struktur war dementsprechend zunächst auch kein Buchprojekt, sondern ein – leicht zeitversetztes – Echtzeit-Tagebuch im Netz.

Trotz des tragischen Schicksals, des Kometen, ist die Biographie von Tobias Rüther keine Trauerveranstaltung, dafür sorgen schon die vielen Zitate aus dem Werk Herrndorfs. Man lacht. Oft. Laut. Herrndorf hatte ein Händchen für Witz, nicht nur bei seinen Beiträgen für einschlägige Magazine, Kalender und Bücher, sondern auch in E-Mails und Forumsbeiträgen. Jene zweieinhalb Seiten »Arbeitstitel« für seinen Wüstenroman etwa, sortiert nach Kategorien: »Supermarktkassenbestseller«, »Hochkultur« oder »Seventies«, sind teilweise unglaublich komisch.

Es gehört zu den großen Stärken der Biographie, die solitäre Leistung Herrndorfs ohne falsche Bescheidenheit und in einer dem Autor zugewandten Weise, aber nüchtern herauszustellen; dazu gehört auch, die gekünstelt-mäkelige Bedenkenträgerei von Denis Scheck  bzw. effektheischend-aasige Bimmelei Juli Zehs nicht zu verschweigen. Selbstverständlich hat Herrndorf alle Preise verdient, denn man kann wie Rüther die Meinung vertreten: Herrndorf war »der größte deutschsprachige Schriftsteller seiner Generation.«

[Rezensionsexemplar]

Tobias Rüther: Herrndorf
Rowohlt Berlin 2023
Gebunden 384 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0082-3

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