Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Aufklärung

Göttinger Literaturherbst 2023 – Nachlese

Fünf Bücher kann ich ohne Bedenken empfehlen, eines interessiert mich nicht und eines war eine Enttäuschung. Ein wenig Festspielatmosphäre, tolle Veranstaltungsorte, gute Lesungen mit interessanten Autoren und überwiegend guten Gesprächspartnern.

Der Applaus klingt noch im Ohr: Gerade erst habe ich die Veranstaltung mit Bonnie Garmus verlassen, die mit ihrem Roman Eine Frage der Chemie einen Bestseller gelandet hat. Das Buch kenne ich nicht und werde es auch nicht lesen, mich hat vor allem interessiert, wie eine Lesung verläuft, wie die Kommunikation funktioniert, Moderatorin und Vorleserin ihre Aufgabe lösen und das Publikum reagiert. Das war sehr aufschlussreich.

Ich bin zu insgesamt acht Veranstaltungen gegangen, was den Festival-Charakter des Göttinger Literaturherbst in Spurenelementen erlebbar machte. Das gilt besonders für den Freitagabend vorletzte Woche, als ich zunächst Daniel Kehlmann für Lichtspiel und direkt im Anschluss Andrej Kurkow mit Samson und das gestohlene Herz erleben durfte. Zwei Lesungen direkt nacheinander – geht das? Ja, ganz prima sogar.

Zweimal bin ich unvorbereitet zu einer Lesung aufgebrochen, im Falle von Ralf Rothmann an seinem Buch Die Therorie des Regens durchaus interessiert, was sich nach der Lesung jedoch erledigt hatte. Einen Roman werde ich von dem Autor sicher lesen, Im Frühling sterben steht schon im Regal bereit. Die Lesung war dennoch alles andere als eine Enttäuschung, Gespräch und Vortrag haben unterhalten, es gab kluge Fragen seitens des Gesprächspartners und aus dem Publikum.

Das ist ein gutes Stichwort, denn bei der Lesung von Andrej Kurkow wirkte der Gesprächspartner – nun, sagen wir: indisponiert. Das Gespräch versandete im Nebel des Ungewissen – glücklicherweise hatte das Publikum Fragen, die wie ein kommunikativer Rettungsring wirkten. Die Nachfragen erlaubten dem sehr sympathischen und gut Deutsch sprechenden Autor viel zu erzählen – auch zu anderen Romanen, von denen ich mir gleich einen gekauft habe. Graue Bienen, die wenigen Worte, die Kurkow darüber verloren hat, klangen sehr interessant.

Leichtigkeit heißt nicht oberflächlich

Leichtigkeit prägen Kurkows Samson-Romane wie auch Kehlmanns Lichtspiel, in Steffen Schroeders Planck – oder wie das Licht seine Leichtigkeit verlor, ist das Wort sogar Teil des Titels. Ganz besonders trifft es auch auf den Roman Aufklärung von Angela Steidele zu, wenngleich der Titel auf sperrige Kost schließen lässt. Mehrfach wurde thematisiert, wie die Schriftsteller ganz planmäßig versucht haben, die Lesbarkeit durch Elemente der Leichtigkeit zu erhöhen.

Aber Leichtigkeit ist nicht mit oberflächlich zu verwechseln! Leider habe ich bei mehreren Besprechungen und Rückmeldungen zu einigen Romanen schon merken müssen, dass zu leichtfertig, vielleicht auch zu flüchtig gelesen wurde. Das ist schade, denn die Leichtigkeit gibt dem Leser den nötigen Raum, um über die schweren Dinge der Handlung nachzudenken – das gilt für dieses Quartett, das ich nachdrücklich zur Lektüre empfehlen möchte.

Das gilt auch für den Brocken von einem Buch namens Der Frühling der Revolution von Christopher Clark. Der Historiker beleuchtet die Revolution von 1848/49 aus einer gesamteuropäischen Sicht, was eine Menge neuer Sichtweisen und Erkenntnisse öffnet, darunter einige hochspannende, die Revolutionsträumer wie eine kalte Dusche ernüchtern sollte. Sklavenbefreiung – eine gute Sache, aber mehr als ein Teufel steckt im Detail, zum Beispiel, wenn die Sklavenhalter gar keine Weißen sind, sondern Schwarze bzw. Angehörige einer Mischbevölkerung.

Eine Enttäuschung gab es auch: Felicitas Moklers Vortrag über das hochspannende Thema Kosmologie schöpfte wie ihr Buch nicht aus, was möglich wäre. Kurioserweise fehlt es an sprachlicher Präzision, didaktisch ansprechender Struktur und thematischer Verflechtung. Ich lese ihr Buch trotzdem, denn für meine Intention ist es durchaus geeignet: Ausloten, wo die Grenzen meines Verstehens sind.

Alles in allem bin ich sehr zufrieden und hoffe auf ein ähnlich gutes Programm im kommenden Jahr.

Göttinger Literaturherbst 2023

Meine glorreichen Sieben – das sind die Veranstaltungen des Göttinger Literaturherbstes 2023, auf die ich mich am meisten freue. Das Programm ist in diesem Jahr großartig, vielleicht schaue ich mir noch die eine oder andere Sache zusätzlich an, denn – von der ewig-hässlichen Stadthalle (brrr) einmal abgesehen – gibt es viele sehr schöne, atmosphärische Veranstaltungsräume.

Heute beginnt für mich der Göttinger Literaturherbst 2023 mit einer zweifellos großartigen Veranstaltung: Der Historiker Christopher Clark spricht über die Revolution von 1848/49 in Europa – womit das Thema aus seinen nationalen Brutkästen geholt wird. Clark hat ein voluminöses Buch zu dem Thema verfasst, das Frühling der Revolution betitelt ist. Wie in seinen berühmten und diskutierten Die Schlafwandler wird der Leser mit neuen Perspektiven konfrontiert, los geht es mit der Revolution in – nein, nicht Paris – Palermo (nach einem Vorspiel in der Schweiz).

Es ist das einzige historische Sachbuch meines persönlichen Programms, das – wie man sieht – vier Romane, ein historisches und ein naturwissenschaftliches Sachbuch sowie ein Kompendium mit einem sehr persönlichen Zugang zum Thema Schreiben umfasst.

Thematisch geht es historisch-politisch zu. Aufklärung von Angela Steidele ist zum Glück kein Buch über die Abgründe des Sexualkundeunterrichts, sondern führt den Leser ins 18. Jahrhundert, ein Historischer Roman, auf den ich mich sehr freue (danke noch einmal an Marius Müller von Buch-Haltung für die schöne Besprechung).

Andrej Kurkow lässt seine Helden Samson und Nadjeschda durch die blutigen Wirren des »Bürgerkriegs« im Gefolge des Ersten Weltkrieges in Kyjiw (Kiew), Ukraine, taumeln. Dabei ist es ihm in seinem ersten Teil gelungen, die Gewalt anklingen zu lassen, ohne in Voyeurismus zu verfallen; stattdessen wählt er einen plüschigen Ton, was die Ereignisse nicht weniger grausam, aber erträglicher gestaltet. Auf den zweiten Teil bin ich sehr gespannt – den werde ich allerdings erst im Anschluss lesen können.

Der Roman Lichtspiel von Daniel Kehlmann lässt den Leser am bewegten Leben des Regisseurs W.G. Pabst und zahlreichen anderen Zeitgenossen teilhaben. Schon das erste Viertel des Romans zeigt, was Kehlmann gelungen ist: Er hat eine leicht lesbare (laut Wolfgang Herrndorf eine unterschätzte literarische Qualität) und wirksame sowie angemessene Erzählform gefunden, ohne ins Seichte abzugleiten. 

Das lässt sich auch über Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor von Steffen Schroeder sagen, der den Leser in die Zeit führt, zu der das Hitlerreich in den Todeskampf eintrat und sich seine Monstrosität nach dem gescheiterten Attentat Stauffenbergs nur noch durch einen Sieg der alliierten Truppen beenden ließ. Plancks Sohn ist ihm Mahlwerk der Gestapo und SS gefangen, der Tonfall der Erzählung bleibt dabei in einer gewissen Weise lakonisch, sarkastisch, boshaft-heiter.

Bei Lichtspiel und Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor wird ganz nebenbei immer auch deutlich, was Deutschland bzw. die deutschsprachige Welt der 1920er Jahre verloren hat, als das braune Pack die Macht übertragen bekam. Ich weigere mich jedoch, diese Romane als »wichtig« zu bezeichnen, weil sie »uns« etwas für unsere eigene Zeit zu sagen hätten oder eine Warnung bereithielten. »Wir« haben »uns« noch nie davon beeindrucken lassen.

Ralf Rothmann hat mit seiner Theorie des Regens ein Kompendium seiner Notizen aus vielen Jahrzehnten zusammengestellt. Hier werde ich ganz ohne vorherige Lektüre an der Veranstaltung teilnehmen, von Rothmann habe ich noch kein einziges Wort gelesen. Ich bin voller Neugier, auf das Gespräch und darauf, wie es ist, völlig unbedarft zuzuhören.

Schließlich noch eine Form des wissenschaftlichen Eskapismus. Felicitas Mokler hat ein Buch veröffentlich, dessen Titel für sich selbst spricht: Die Evolution des Universums: Vom Urknall bis in die Ewigkeit. Als alter Science Fiction-Leser und Teleskop-Sternegucker (es ist kalt in klaren Herbst- und Winternächten) lasse ich mich gern auf den neuesten Stand der Kosmologie bringen. Wobei – verstehen werde ich sicherlich nicht alles, doch darum geht es gar nicht. Die eigenen Grenzen des Verständnisses kennenzulernen, ist meines Erachtens oft genauso wertvoll, wie das Verstehen selbst.

Jürgen Kaube: Hegels Welt

Ein perfektes Buch für einen Zaungast der Philosophie. Cover Rowohlt, Bild mit Canva erstellt.

In der Philosophie bin ich nur Zaungast. Für mich ist das Buch Hegels Welt von Jürgen Kaube perfekt geeignet, um mich an und über meine Grenzen des Verständnisses hinauszuführen, gleichzeitig einen umfassenden Einblick in Zeit und Welt des Gelehrten zu erhalten. 

Hegel lebte in einer Zeit tiefgreifender Umwälzungen. Die Aufklärung sorgte für beträchtliche Unruhe, ehe die Französische Revolution ganz Europa in Aufruhr versetzte. Hegel hat das nicht vor Ort in Frankreich, wie manch anderer flammender Geist, sondern aus der Ferne verfolgt. Ebenfalls die Entartung dieser Revolution zum jakobinischen Terror und ihre Häutungen hin zur Alleinherrschaft Napoleon Bonapartes.

Dessen Kriegszüge führten auch nach Deutschland, mitten hinein in Hegels Welt, der realen wie gedanklichen. Davon erfährt man viel, auch welchen Einfluss beides auf den Denker und seine Anhänger und Gegnerausübte; aber auch hier gilt, was eingangs bereits gesagt wurde: Ich bin bei den ausführlich geschilderten philosophischen Gedankengängen an meine Verstehensgrenzen gestoßen.

Besonders interessant war für mich der berufliche und private Weg Hegels. Das akademische Leben zu dieser Zeit unterschied sich dramatisch von dem der Gegenwart, daher sind die Ähnlichkeiten bemerkenswert, etwa wie sich erste Netzwerke bildeten, die zur gegenseitigen Unterstützung fungierten. Bis er einen bezahlten Posten zu erhielt, musste Hegel als Hauslehrer und Schulmeister arbeiten, als Leser erhält man auf diesem Wege erhellende Einblicke in die Lebensumstände dieser Zeit.

Wirklich überrascht hat mich, wie Hegel über Schule nachgedacht hat. Sein Ansatz und der seiner Gegner stehen sich bis in die Gegenwart gegenüber, zumindest im Grundsätzlichen. Autor Jürgen Kaube schildert ausführlich, wie Hegel sich schulisches Lernen vorstellt – man kann das auf die Gegenwart übertragen und zum Beispiel anhand der Frage, ob Latein oder lieber Informatik bzw. Wirtschaft Schulfach sein sollte, durchdeklinieren.

Ein tiefer Schatten liegt über Hegels Sicht von und Handeln gegenüber Frauen, insbesondere seiner Schwester. Schaudernd möchte man sich angesichts des Unheils abwenden, dem diese – auch dank ihres gedankenlos agierenden Bruders – ausgesetzt war. Das aber gehört genauso zu „Hegels Welt“ wie jene Gedanken und Werke sowie das akademische Wirken des Philosophen und findet zum Glück angemessene Beachtung in diesem vorzüglichen Sachbuch.

Jürgen Kaube: Hegels Welt
Rowohlt Berlin 2020
Gebunden 592 Seiten
ISBN: 978-3-87134-805-1

© 2023 Alexander Preuße

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