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Schlagwort: Balkan

Hasan Hasanović: Srebrenica überleben

Eine kurzes, sehr eindrückliches Buch über ein wichtiges Thema: Mit Srebrenica begann aus meiner Sicht das blutig 21. Jahrhundert. Cover Wallstein, Bild mit Canva erstellt.

Ein kurzes Büchlein nur, doch ein wichtiges. Srebrenica ist eine Stadt in Bosnien-Herzegowina, die stellvertretend steht für den Genozid serbischer Milizen an der muslimischen Volksgruppe des Landes. Mit Srebrenica hat das blutige 21. Jahrhundert begonnen und das von Auschwitz befeuerte »Nie Wieder« sein jähes Ende genommen. Wir haben es nur nicht gemerkt.

Hasan Hasanović hat überlebt. Sein Bericht Srebrenica überleben hebt an mit einem kurzen Abriss von Kindheitserinnerungen, geprägt von eher ärmlichen, aber durchaus glücklichen Jahren. Der Krieg, der hierzulande eher als nebulöses Hauen und Stechen fern auf dem Balkan wahrgenommen wurde, kam auf leisen Sohlen. Steigender Nationalismus, anschwellender Hass, schockierende Drohungen – plötzlich war es wichtig, ob man Serbe oder Kroate oder Muslim war.

Wie immer unter düsteren Wolken stellte sich die Frage: gehen oder bleiben? Die Entscheidung, nicht zu fliehen, setzte die Familie den Schrecken des Krieges aus. Belagerung, Bomben, Artillerie, alltägliche Todesangst, Verelendung, Hunger, Krankheiten und Tod. Es ist wichtig, die Bedeutung der Hilfe zu verstehen. Flugverbot und Schutzzone boten den Menschen die Hoffnung auf Besserung, die Verweigerung militärisch abgesicherten Schutzes führte in das Genozid.

Den meisten Menschen in Mitteleuropa war das alles schlichtweg egal. Wenn Bismarcks Spruch, der Balkan wäre nicht die Knochen eines einzigen preußischen Landsturmmannes wert, exhumiert und auf die damalige Lage umgedeutet wurde, hieß das nichts anderes, als dass die dort lebenden Menschen nichts wert wären. Daran hat sich bis in die Gegenwart viel zu wenig geändert, wie die bisweilen befremdliche Balkanpolitik der EU zeigt.

Europa und seine Führungsmächte, darunter Deutschland, haben versagt, als es darum ging, die Gewalt zu verhindern. Im Grunde ist es das, was Srebrenica überleben wertvoll macht. Die diplomatisch-ideologischen Winkelzüge, mit denen versucht wird, zu begründen, warum man auf militärische Mittel verzichtet, um Völkermord zu verhindern, haben ganz konkrete Auswirkungen vor Ort.

Wie die aussehen, erfährt der Leser aus diesem schmalen, wertvollen Buch. Europa ist eine Verpflichtung eingegangen, sich als Friedensmacht zu etablieren. Das beinhaltet eben auch, Kreaturen á la Milosevic oder Mladic mit allem entgegenzutreten, was man hat, und selbiges vorher bereitzustellen. Andernfalls wird ein „Nie wieder“ zu einer hohlen Phrase vorgeschützten Lernens aus der Geschichte.

Hasan Hasanović: Srebrenica überleben
Aus dem Englischen von Filip Radunović
Wallstein-Verlag, 2022
Hardcover 104 Seiten
ISBN: 978-3-8353-5260-5

Saša Stanišić: Herkunft

Autofiktionales aus der Feder von Saša Stanišić, preisgekrönt und lesenswert, weil es an Selbstverständlichkeiten rüttelt. Cover Luchterhand, Bild mit Canva erstellt.

Ein Roman im eigentlichen Sinne ist Herkunft nicht. Autofiktionales Erinnern wäre vielleicht ein passender Begriff für dieses preisgekrönte Werk, das 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Angesichts des für die Gegenwart wichtigen Themas und der literarischen Befähigung des Autors eine gute Entscheidung, insbesondere aber weil Stanišić die Gelegenheit nutzte, um die Verleihung des Nobelpreises an Peter Handke zu kritisieren.

Wer Herkunft liest oder hört, wird mit dem konfrontiert, was Handke mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit verschweigt, während dieser seine aus altlinkem Antiamerikanismus motivierte Serbienapologetik verbreitet. Das darf man ruhig bedenken, wenn man liest, wie Stanišić seine Herkunft ausbreitet und in manchmal bewegenden, manchmal lustigen, oft ironischen und bisweilen auch bitteren Worten von seinem Lebensweg und denen seiner Vorfahren berichtet.

Jugoslawien ist ein historisch-politisches Gespenst, wie das Römische Reich, Burgund, Indochina oder die Sowjetunion. Die jüngeren Geister haben die eigentümliche Eigenheit, für Zeitgenossen etwas sehr Reales zu sein, das ihnen etwas bedeutet, dem sie mit Stolz und Zuneigung begegnen, auch in der Erinnerung. Das Motiv kennt man, etwa aus den Romanen von Nina Haratischwili: Leicht verklärend, was für den in Deutschland sozialisierten Leser manchmal seltsam anmutet.

Doch darin liegt die Stärke von Büchern wie Herkunft. Sie lassen den tiefen, nachhaltigen und durch nichts zu kittenden Lebensbruch nachempfinden, ein hierzulande über Jahrzehnte hinweg mehr oder weniger ausgeschlossenes Szenario. Corona und der wirtschaftliche Fallout von Putins Vernichtungskrieg gegen die Ukraine haben an der behaglichen Ignoranz ein wenig gerüttelt, doch im Kern bleibt das Leben in Deutschland für die meisten das einer Gated Community, abgeschottet von den Zudringlichkeiten des Lebens.

Ein Teil davon ist der Begriff Heimat, mit dem Lumpenpatrioten so gern hausieren gehen. Diese wird bisweilen an abstruse Aspekte geknüpft, wie Blut oder zusammenphantasierte Traditionen. Stanišić sieht das anders, wenn er auf den Zufall verweist, der per Geburt oder Vertreibung für ein Zuhause sorge; und dass jener Glück habe, der “den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will.“

Nach der Lektüre von Herkunft, weiß der Leser sehr genau, wovon die Rede ist.

Saša Stanišić: Herkunft
Luchterhand 2019
Hardcover  368 Seiten
ISBN: 978-3-630-87473-9

Harold Nebenzahl: Café Berlin

Ein leicht lesbarer, niemals langweiliger, ungeheuer farbiger und unterhaltsamer Roman. Cover: Kein & Aber Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Ja, der Titel: Wie konnte ich daran vorbeigehen? Gar nicht, zum Glück, denn der Roman Café Berlin von Harold Nebenzahl ist ein wunderbar leicht zu lesender, äußerst unterhaltsamer, dabei keineswegs flacher Ausflug in eine Zeit, die so modern gewesen ist und es nicht blieb, sondern in die Finsternis einer unfassbaren Barbarei mündete.

Von der ersten Seite an wird die Erzählung an diesen beiden Enden aufgespannt, denn der Erzähler sitzt Ende 1943 in Berlin im Versteck in einer Dachkammer und wird durch eine treue Seele namens Lohmann am Leben gehalten. Aus dieser Lage berichtet er von seiner Vergangenheit – die es in sich hat. Denn Nebenzahl spannt seine Erzählung noch weiter auf.

Ich bin es leid, bin alles Leid. Mir tun die Knochen und auch die Seele weh.

Harold Nebenzahl: Café Berlin

Die Hauptfigur stammt aus Syrien. Ein Jude aus Syrien? Heute undenkbar. Wie wir aber im Roman erfahren, hatten jüdische Bewohner der Region unter den Briten und Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg dank ihrer höheren Bildung wichtige Posten in der Verwaltung inne, was zum Hass durch die Araber beitrug. Sie galten als Handlanger der Ausländer.

Eine bemerkenswerte Parallele zu der Judenfeindlichkeit in Osteuropa, denen dort im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges Kooperation mit den Unterdrückern aus der Sowjetunion vorgeworfen wurde. Im Nahen Osten endetet das Dasein als Minderheit jüdischen Glaubens in diesen Regionen, jene, die gern vom Apartheidsstaat Israel schwadronieren, sollte sich das vor Augen führen.

In Berlin ist er im Showgeschäft tätig. Er betreibt einen Club namens Kaukasus, der seinen Gästen exotisch-erotische Shows bietet, bis weit in den Krieg hinein. Zu diesem Zeitpunkt hat sich aber das Programm geändert, wie auch das Publikum, es ist ein Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung, in der Vielfalt zunächst begrüßt und dann abgelehnt wurde.

Nebenbei bekommt der Erzähler Kontakt zur SS, die nicht weiß, dass er Jude ist. Seine Tarnung als Spanier hält vergleichsweise lange, sie ermöglicht – oder sagen wir besser: zwingt ihn, sich nolens volens in Widerstandsaktionen verwicken zu lassen.

Ich vertiefte mich in das Gewirr feindseliger Frakturschriftzeichen.

Harold Nebenzahl: Café Berlin

Nebenzahl lässt seinen Helden in einer Episode eine geheime Unternehmung nach Bosnien ausführen, die nicht nur geographisch aus dem Rahmen fällt. Hier kommt tatsächlich einmal actionnahe Spannung auf, denn es geht um ein Widerstandsunternehmen in Bosnien gegen die Nazi-Pläne, eine muslimische SS-Division namens Handschar (die gab es wirklich) aufzustellen.

Es ist nur ein Nebenschauplatz in diesem weltumspannenden Gemetzel, der Protagonist ist alles mögliche, nur kein Untergrundkämpfer im eigentlichen Sinne; seine Sichtweise macht die Episode aber sehr wertvoll, denn sie unterstreicht noch einmal den blutdurchtränkten Boden, auf dem der Hass im zerfallenden Jugoslawien Anfang der 1990er Jahre blühen konnte.

Café Berlin ist vom ersten Augenblick an spannend, auch wenn die meisten Passagen des Buches fern von augenscheinlicher Action sind. Die fortlaufende Todesdrohung, der sich die Hauptperson in seinem Versteck ausgesetzt sieht, reicht völlig aus.

Lohmann hatte der Weltschmerz gepackt, eine Sonderform von teutonischer Schwermut.

Harold Nebenzahl: Café Berlin

Zwei Dinge haben mich besonders berührt. Zum einen eine Textstelle, bei der es heißt, man habe ich auf »neutralem Boden« getroffen, nämlich: »bei den Sechstagerennen, den Boxkämpfen und Fußballspielen.« Klingt gewöhnlich, ist es aber nicht – wenn man das wunderbare Buch Höhenrausch von Harald Jähner gelesen hat.

Dort erfährt man nämlich über die zarten Anfänge des Fußballs, der gesellschaftlichen Bedeutung der Sechstagerennen (und was eigentlich dahintersteckt) und vor allem die in mehrfacher Hinsicht für die gesamte Weimarer Republik bedeutsamen Boxkämpfe. Berthold Brecht hatte nicht umsonst einen Punching-Ball neben dem Schreibtisch, und er war nicht der Einzige.

Das zweite betrifft das Ende des Buches. Der Protagonist erlebt die letzte Aprilwoche 1945 in Berlin – die Rote Armee malmt durch die Stadt Richtung Reichskanzlei. Ich kenne Erzählungen über diese Tage aus einer anderen Perspektive, meinem Großvater, der in Berlin im Mai in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet ist. Es war sehr eindrücklich, das Gehörte abermals zu erfahren, gespiegelt in einer ganz anderen Sichtweise.

Wie bei allen Romanen dieser Art steht der Verlust im Zentrum. Als Leser habe ich ihn empfunden, den Verlust, den die Nazizeit für Deutschland und seine Einwohner, Europa und die Zukunft, die meine Vergangenheit und Gegenwart gewesen ist.

Harold Nebenzahl: Café Berlin
Aus dem Amerikanischen von Gertraude Krueger
Kein&Aber Taschenbuch
2019
Original 1992
415 Seiten

Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise

Das Hintergrundbild ist von Václav Sochor und heißt: Die Batterie der Toten. Es kann im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien angeschaut werden. Der Betrachter steht lange davor, ist überwältigt, erschüttert. Cover Luchterhand, Bild mit Canva erstellt.

Immer wieder Wallenstein. Und Königgrätz. Ohne »s« zwischen den beiden »g«. Der Feldherr und der Ort, an dem sich der Krieg zwischen Preußen und Österreich durch eine blutige Niederlage letzterer entschied, spielen in der Gegenwart bestenfalls die Rolle von Randerscheinungen. In diesem Roman aber geht es nicht ohne sie.

Nun fragen Sie sich vielleicht: Wo liegt eigentlich Königgrätz? Wo liegt Wallenstein könnte man auch fragen, doch das wäre gemein, denn der Begräbnisort des ermordeten Gerneralissimus ist eine Sache für sich. Beide Stätten lassen sich besuchen, so, wie es die beiden Protagonisten in Jaroslav Rudiš Roman »Winterbergs letzte Reise« tun.

Winterberg und sein Begleiter, Jan Kraus, bilden ein ungleiches Buddy-Gespann. Wie es sich gehört, ist es nolens volens aneinander gekettet, sie kommen nicht mehr von einander los und gehen den langen Weg gemeinsam. Das gleicht Wallenstein und Ferdinand, Generalissimus und Kaiser, die auch nicht voneinander losgekommen sind, wenn man Golo Manns Biographie über den Feldherrn folgen will.

Und doch wusste ich, dass Winterberg recht hatte.
Es gibt kein Entkommen.
Von seiner Geschichte.
Von meiner Geschichte.

Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise

Es gibt überhaupt kein Entkommen von Geschichte, denn die Gegenwart ist nichts anderes als Geschichte. Der Autor nimmt dabei dankenswerter Weise historische Begebenheiten aufs Korn, die in Deutschland unter einer dicken Schicht späterer geschichtlicher Ereignisse begraben sind. Der Zweite Weltkrieg, die Shoah und der Vernichtungskrieg haben wie Caterpillars alles zugeschüttet, was vorher geschah.

Damit wurde auch ein Teil mitteleuropäischer Geschichte verborgen, in einer Region, die in Deutschland allzu oft einfach ignoriert wird, wenn der Blick nach Osten wandert. Ein Schicksal, das sich die mitteleuropäischen Staaten, die hierzulande oft schon Osteuropa zugeordnet werden, mit dem Balkan teilen. Bücher wie Winterbergs letzte Reise ragen wie Hände von Verschütteten aus einer niedergegangenen Lawine und machen auf das Verborgene aufmerksam.

(…) er wollte wissen, ja, ja, warum die Deutschen die Bahnhöfe mit den Feuerhallen verbunden haben, warum die Deutschen das ganze Europa in eine einzige große Feuerhalle verwandelt haben (…)

Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise

Rudiš versteht sich darauf, seine Erzählung um Leitmotive zu stricken, sie mit einander zu verwickeln und zu verbinden, so dass sie über die gesamte Erzählung hinweg tragen. Eisenbahnen, Feuerhallen, Geschichte und der Krieg – um nur einmal einige zu nennen, wie das Zitat so schön zeigt. Dem Holocaust und dem Vernichtungskrieg entkommt man auch in diesem Buch nicht, wie auch, ist doch alles untrennbar mit der Bahn verknüpft.

Ein anderes Motiv ist besagter Wallenstein, mit dem die böhmische, tschechische und deutsche Geschichte so eng verwoben ist. Der Generalissimus ist vieles gewesen, oft wird mit ihm Grausamkeit, Eroberungssucht und – historiographisch längst widerlegt – Verrat verbunden. Doch hat er vor 1648 den einzigen tragfähigen Frieden im Dreißigjährigen Krieg erzwungen und als erster und vielleicht einziger begriffen, dass Siege auf dem Schlachtfeld keinen Frieden bringen.

Vor allem aber wollte er eine Universität gründen, die Vorbereitungen liefen bereits auf Hochtouren, als er von kaiserlichen Häschern ins Totenreich verfrachtet wurde. Mich bewegt bis heute eine Frage: Die Universität Havard wurde 1636 gegründet, ihr Einfluss ist unschätzbar. Was hätte es für Zentraleuropa bedeutet, wenn Wallensteins Projekt verwirklicht worden wäre?

Rudiš nutzt Wallenstein als Projektionsfläche für Assoziationen, zum Beispiel für den Tod des Vaters Winterbergs durch Sudetendeutsche Nazis, so genannte »Henlein-Trottel«.

Ja, ja, er war im Ratskeller plötzlich von allen verlassen, so wie Wallenstein in Eger von allen verlassen war.

Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise

Dabei macht es der Autor dem Leser keineswegs leicht. Es sind keine glatten Marmorböden, über die man schreitet; es geht durch den Schlamm und Matsch diesiger Wintertage, man stapft über Schlachtfelder und durchmisst Orte, deren Gegenwart für Winterberg bereits vergangen ist. Das ist Europa, keine Wohlfühlpromenade.

Die beiden Protagonisten haben manchen Strauß miteinander auszufechten, wie es sich für gute Buddy-Stories gehört. Der Autor lässt den Leser das enervierende Reden Winterbergs mitempfinden, er setzt zum Beispiel auf gnadenlose Wiederholungen, die jedoch im Laufe des Buches immer mehr verschwinden, je näher sich die beiden Gefährten auf ihrer Reise kommen.

Winterberg ist alt, zu Beginn des Romans mehr tot als lebendig, ehe ihn ein einzelner, zufällig dahingesagter Satz aus dem Munde seines Begleiters aus dem Totenreich ins Leben zurückholt und auf die letzte große Reise schickt. Sein Leitmedium ist ein Baedeker-Reiseführer aus der Vorkriegszeit – 1913 erschienen. Das ist ein genialer Griff, wenn auch viele Leser möglicherweise mit den von Winterberg vorgetragenen Passagen wenig anfangen können.

So entsteht eine Reise durch die Geschichte im eigentlichen Sinne, die Komposition ist so ungewöhnlich wie wirkungsvoll. Die meisten Regionen, die Winterberg und Kraus durchfahren, waren lange durch Grenzen klar getrennt. Die EU hat das Rad der Zeit wieder zurückgedreht, denn diese Gebiete gehörten einst bereits zu einem einzigen Staat: Österreich-Ungarn.

Es dämmerte immer mehr und wir waren in Tschechien.
In Österreich, wie Winterberg sagte.
In Böhmen.
Winterberg freute sich und mir war schlecht.

Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise

In allem steckt mehr als eine Warnung. Offene Grenzen, ein politisches Gebilde, das viele Völker beherbergte und am Ende in einer riesigen Katastrophe zerbrach, die trotz ihrer historisch horrenden Verluste nur das Präludium zu einer noch viel furchtbareren sein sollte – das war Österreich-Ungarn. Vieles, das als sicher gilt, würde vielleicht einfacher zerbrechen als man glaubt, die Krisen um die Flüchtlinge, Corona und den Neo-Imperialismus haben gezeigt, dass die Wölfe noch immer lauern.

Was mir besonders eindrücklich in Erinnerung bleiben wird, ist die Erkenntnis, dass unweit meines eigenen Lebensmittelpunktes das eigentliche Zentrum Europas lag und liegt, verborgen im Nebel des Krieges wie ein unentdecktes Land. Dabei müsste man eigentlich nur mit der Bahn fahren, ein viel weniger gefährliches Unternehmen als die Atlantiküberquerung in einer Karacke oder Karavelle.

Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise
Luchterhand 2019
Hardcover 544 Seiten
ISBN: 978-3-630-87595-8

Arturo Pérez-Reverte: Der Schlachtenmaler

Ein brillanter Roman, leider nur noch antiquarisch erhältlich. Cover btb, Bild mit Canva erstellt.

Wenn sich der Leser dem Ende dieses Romans nähert, jene finalen Twists nicht mehr fern sind, die den Schleier endgültig lüften , weiß man bereits, dass Arturo Pérez-Reverte mit seinem Der Schlachtenmaler ein ganz besonderes Buch gelungen ist. Es hängt nach. Wie jedes gute Buch.

Dabei hätte es vom Grundansatz auch ein einfaches sein können, auf pure Spannung ausgerichtetet. Verrät doch schon der Klappentext , dass die Hauptfigur, der ehemalige Kriegsfotograf Faulques, in einem einsamen Turm ein großes Wandgemälde erschafft und von einem zunächst Fremden ganz offen mit dem Tode bedroht wird.

Klingt zunächst nach einem Psycho-Thriller.

Tatsächlich bleibt die Todesdrohung während der gesamten Erzählung präsent, wie ein Generalbass untermalt sie die Handlung, ohne sie zu überlagern. Faulques ist Jahrzehnte als Beobachter in die Kriegsgebiete der Welt gereist und hat mit seinen Fotos Preise und einigen Ruhm errungen.

Das Gemälde an der Wand des Turms hat wenig überraschend den Krieg zum Thema. Der ehemalige Fotograf greift nach der Aufgabe seiner Tätigkeit eine Leidenschaft aus seiner Zeit vor dem Fotografendasein auf und bricht zugleich mit seinem Beruf. Und er distanziert sich von seinen Fotos, denn das Wandgemälde zeigt den Krieg in einer ahistorischen Gleichzeitigkeit: ein groteskes Monster entsteht.

Das Medium Bild – gemalt oder fotografiert – stellt das zentrale Symbol des Romans dar. Wieder und wieder wird über Bilder gesprochen oder reflektiert, wer mag, kann im Internet die Werke selbst betrachten, versuchen, die Empfindungen und Gedanken nachzuvollziehen. Manchmal entfalten die Beschreibungen und die Reflexionen der Hauptfigur ein besonderes Maß an Authentizität.

… dass er in den vielen selbst erlebten Kriegen nie jemanden gesehen hatte, der mit einem derart tadellos sauberen Hosenknieteil und Hemd im Kampf starb.

ARturo Pérez-REverte: Der Schlachtenmaler
Das berühmte Bild des Kriegsfotografen Robert Capa.
Der Augenblick des Todes im Spanischen Bürgerkrieg am 5. September 1936.

Faulques weiß , dass Capa zu einer anderen, fast unschuldigen Zeit gehört, denn in der Gegenwart haben Bilder viel von ihrem ursprünglichen Wert verloren. Bilder, auch die bewegten, sind Teil des Krieges, Teil der Propaganda geworden, die jeden mit Waffen ausgefochtenen Konflikt umweht wie der Leichengeruch.

Doch das Buch geht in seinem Kern darüber weit hinaus. Die entscheidende Frage lautet: Kann man in einem Krieg unbeteiligt bleiben, ein bloßer Beobachter, neutraler Fotograf – oder aber ist man nicht automatisch Teil der Kampfhandlungen und trägt Verantwortung, ja lädt sogar Schuld auf sich?

Die zentrale Frage wird kurioserweise im Buch anhand der Physik ins Feld geführt und diskutiert. Mich hat schon immer die so genannte Unschärferelation von Heisenberg (dem deutschen Physiker, nicht Walter White) fasziniert. Grob gesagt kann man ab einer bestimmten Größe bzw. »Kleine« eines Teilchens dessen Position bzw. Geschwindigkeit nicht mehr bestimmen, ohne diese selbst zu beeinflussen.

Je genauer man versucht zu  messen, desto größer wird die Störung. In diesem Sinne verändert der Beobachter die Wirklichkeit. Wenn man will, erschafft er sie tatäschlich, wie ein Bekannter dem Schlachtenmaler erläutert und daraus eine weitreichende Schlussfolgerung zieht:

Es sei ein grundlegendes Element der Quantenmechanik, dass der Mensch die Wirklichkeit schaffe, wenn er sie beobachte. […] Der Mensch sei […] beides zugleich: sowohl Opfer als auch Schuldiger.

ARturo Pérez-REverte: Der Schlachtenmaler

Verhält es sich mit der Kriegsfotografie auch so? Greift jemand, der nur fotografiert, direkt ins Geschehen ein, beeinflusst die Handelnde und wird Partei? Der Roman gibt darauf unterschiedliche, kontroverse Antworten, die den Leser aus seiner Komfortzone scheuchen. Denn das vorgeblich neutrale Beobachten, Nichthandeln, Zögern kann ebenfalls beeinflussen – mit fatalen Folgen.

Der Ausgangspunkt der Handlung, die Todesdrohung gegenüber dem Schlachtenmaler, ist mit dieser Frage verknüpft. Faulques hat auf während des Balkankrieges das Foto eines kroatischen Kämpfers geschossen: Ivo Markovic, der nolens volens in die Kampfhandlungen hineingezogen wurde.

Die Aufnahme wurde prämiert und hat nicht nur ihren Urheber, sondern auch ihr Motiv bekannt gemacht, was für den Kroaten und seine Angehörigen tragische Konsequenzen hat. Das Foto ist auf seine Weise Teil des Krieges geworden. Markovics Absicht, Faulques zu töten, erscheint auf Anhieb wie ein Racheakt – doch das würde viel zu kurz greifen. Seine Absicht geht darüber hinaus:

›Sie sollen verstehen‹, sagte der Kroate. ›Manche Antworten haben Sie ebenso nötig wie ich.‹

ARturo Pérez-REverte: Der Schlachtenmaler

Auch der Leser braucht Antworten. Der Balkankrieg ist bedauerlicherweise schon wieder in Vergessenheit geraten. Europa hat seinerzeit darin versagt, diese unfassbar brutalen Kampfhandlungen einzudämmen und die Zivilisten im Stich gelassen, und sich auf bequeme »Neutralität« zurückgezogen. Ein Muster, das in den folgenden Jahren andernorts immer wieder auftrat: Russlands Kriege gegen Georgien und die Ukraine, sowie der Bürgerkrieg in Syrien.

Die Grausamkeiten auf dem Balkan waren ein Echo des Gemetzels während des Zweiten Weltkrieges. Bis in die Gegenwart hinein hallen weitere Echos. Als Peter Handke den Literaturnobelpreis erhalten hat, ist darauf mit zum Teil massiver Kritik reagiert worden. Sasa Stanisic hat dem Preisträger vorgeworfen, die serbische Verantwortung für die Bluttaten während des Bürgerkrieges in seinen Texten zu verharmlosen, zu verschweigen, ja zu lügen.

Ich tue es auch deswegen, weil ich das Glück hatte, dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt.

Saša Stanišić anlässlich der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2019

Pérez schweigt nicht. Im Gegenteil.

Die Erzählung entfernt sich kaum von dem Turm, in dem der Schlachtenmaler tätig ist. Hier treffen sich Faulques und Markovic und führen ihre Gespräche. Das Bild, das auf der Innenseite des Gebäudes entsteht, ist oft Quelle der Inspiration für die Gespräche zwischen beiden Männern, es löst Assoziationen aus, die in weite Gedankenschleifen der Hauptfigur münden. 

In diesen Ausflügen in die Vergangenheit tritt eine weitere Person in die Erzählung ein: Olvido, eine Kollegin des Schlachtenmalers, seine verstorbene Geliebte. Olvido ist eine Ableitung vom spanischen Verb olividar, das »ich vergesse« heißt oder eben »das Vergessen«. Wie die Gedankenschleifen zeigen, kann Faulques keineswegs vergessen, ebensowenig Markovic. Eine Folge des Krieges, der selbst die Davongekommenen lebenslang in ihren Erinnerungen heimsucht, ja: gefangenhält.

Olivdo hat als Modell gearbeitet, stand also als Objekt vor der Kamera und hat aus dieser Erfahrung ein eigenes Verhaltensmuster beim Fotografieren entwickelt, das hier nicht verraten wird, weil es zu den Antworten gehört, die der Leser aus diesem Buch erhält. Wenn man so will: ein Gegenentwurf zu Social Media. Sie ist Faulques voraus, hat vor ihm begriffen, was dieser erst durch die Konfrontation mit Makovic durchschaut.

Pérez-Reverte führt seinen Roman erfreulich konsequent zu einem Ende, das zumindest aus meiner Sicht sehr zufriedenstellend ist und ein langes Echo hat

Arturo Pérez-Reverte: Der Schlachtenmaler
btb 2009
TB 288 Seiten
ISBN: 978-3442739356

© 2023 Alexander Preuße

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