Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Besatzungszeit

David Hewson: Garten der Engel

Venedig ist der Ort dramatischer Ereignisse im Herbst 1943, als die Deutschen die Macht im Norden Italiens an sich gerissen haben. Cover Folio Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Seit ich zwölf Jahre alt bin, beschäftigt mich der Krieg. Dabei steht »der Krieg« vor allem für den Zweiten Weltkrieg. Es ist ein – etwas seltsames – Vermächtnis, das mich bis an mein Lebensende beschäftigen wird, aber so etwas kann man sich nicht aussuchen. Garten der Engel von David Hewson dreht sich neben allem anderen auch um ein ungewolltes Vermächtnis, auf ganz verschiedenen Ebenen: persönlich, familiär, aber auch ein wenig historiographisch.

David Hewson ist das Kunststück geglückt, dieses Vermächtnis in eine sehr spannende, ja dramatische Geschichte einzuweben; kein zufällig gewähltes Verb, spielt doch das Weben eine wichtige Rolle in der Handlung. Der Ort ist ebenfalls klug gewählt. Venedig, vom Festland abgeschnitten, eine kleine, in sich geschlossene Welt für sich; zumindest können sich das ihre Bewohner einreden.

Es ist 1943, Italien hat nach drei Jahren – äußerst glücklosen Krieges – mit den Alliierten einen Waffenstillstand geschlossen und das Bündnis mit Deutschland verlassen. Praktisch ist das Land zweigeteilt, denn die amerikanischen und englischen Truppen kommen nur sehr langsam voran, der gesamte Norden ist in deutscher Hand.

Mussolinis Faschisten haben dort unter Nazifuchtel weiterhin das Sagen, es tobt ein blutiger Partisanenkampf im Land. Für jene, die laut Nazi-Ideologie als Juden gelten, brechen schwere Zeiten an, denn jetzt geraten auch sie ins Visier der deutschen Vernichtungskrieger, die Verfolgungen werden wie im übrigen Europa verschärft, Züge voller italienischer Juden rollen Richtung Konzentrationslager.

Wenn die Welt sich verdunkelt, bleibst du dann in deinem Versteck und wartest ab, bis es wieder hell wird? Oder versuchst du selbst, eine kleine Flamme zu entzünden?

David Hewson: Garten der Engel

Das alles schwappt nach Venedig, wo sich die Deutschen eingerichtet haben und auf Mussolinis treue Schwarze Brigaden und Kollaborateure stützen. Man schlägt sich durch, auch der just von alliierten Bomben zum Waisen gemachte Paolo Uccello müht sich, das ins Straucheln geratene Familienunternehmen, eine Seidenweberei, am Leben zu erhalten.

Eine ganze Reihe von Personen gerät durch das Auftauchen zweier jüdischer Partisanenflüchtlinge in eine Lage, Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen treffen zu müssen. Hewson ist es gelungen, die meisten dieser Personen vielschichtig zu gestalten, sie mit ihren Widersprüchen und Schwächen, hanebüchenen Ideen und Ansichten aufeinander loszulassen. Eine Ausnahme bilden die eher schablonenhaften deutschen Besatzern; daran ist nichts auszusetzen, um die geht es in diesem Roman nämlich nicht in erster Linie.

Im Mittelpunkt steht zum Beispiel der Kollaborateur Luca Alberti, ein ehemaliger Polizist, der sprachkundig für die Deutschen in Venedig Ermittlungsarbeiten durchführt. Er versucht sich in der hohen Kunst des Lavierens, redet sich ein, nur das zu tun, was irgendjemand tun müsse und durch sein Handeln das eine oder andere Leben retten zu können. Alberti ist andererseits völlig illusionslos über sein Schicksal, sollte der Krieg für die Achsenmächte verlorengehen. Eine ganz wunderbar widersprüchliche Person.

Ich erledige eine Aufgabe, die irgendjemand erledigen muss.

David Hewson: Garten der Engel

Das gilt auch für viele andere Figuren, die in Garten der Engel ins Geschehen eingreifen und durch ihre Torheiten und klugen Entscheidungen einen Prozess in Gang setzen, der sich immer mehr beschleunigt und auf eine geradezu klassische Tat zuzusteuern scheint – doch Hewson hält für den Leser einige handfeste Überraschungen und Wendungen bereit; man kann das Buch irgendwann nur schwer aus den Händen legen.

Angesichts der zahlreichen, ansprechenden Personen fallen ausgerechnet die beiden Partisanen ab. Insbesondere die handlungsaktive Mika Artom hat bei mir für Stirnrunzeln gesorgt – ganz bewusst formuliere ich etwas gewunden, denn aus meiner langjährigen Beschäftigung mit diesem Krieg weiß ich, dass in dieser Zeit viele Menschen Dinge getan haben, die im Grunde undenkbar waren.

So verhält es sich vielleicht auch mit Mika, die wie ein menschlicher Katalysator für einen wesentlichen Teil der Handlungsdynamik verantwortlich ist. Wie sie geschildert wird, wäre sie – mit Vorbehalt – längst tot, umgebracht von den Deutschen, italienischen Faschisten oder aber den eigenen Leuten, für die sie aufgrund ihrer Querschlägerei eine immense Gefahr darstellt. Kurz hatte ich sogar die Befürchtung, Mika würde mir das Buch insgesamt verleiden – zum Glück unbegründet.

Hewson hat nämlich en passant mit dem Partisanenmythos ein wenig aufgeräumt. Partisanenkrieg wird oft immer noch verherrlicht, dabei handelt es sich um eine brutale, ja oft menschenverachtende asymmetrische Kriegführung, die ganz bewusst die Zivilbevölkerung in die Feuerlinie bringt. Für jeden getöteten Deutschen wird eine Handvoll Zivilisten erschossen – als abschreckende Terrormaßnahme. Auch einige handelnde Figuren fragen sich, ob das Agieren der Partisanen militärisch gerechtfertigt und moralisch gedeckt ist.

Es wird alles zu einer Geschichte. Einem Märchen. Gut und schlecht. Schwarz und Weiß. Nichts dazwischen. Dabei ist es das Dazwischen, auf das es ankommt.

David Hewson: Garten der Engel

Garten der Engel erzählt die Geschichte im Rahmen eines klassischen Sterbebett-Bekenntnisses. Fünf Teile umfasst das, was der verlöschende nonno Paolo seinem Enkel Nico mitgibt, fünf Manuskripte, die jene Ereignisse aus dem Jahr 1943 erzählen. Es ist – wie sich herausstellt – ein echtes Vermächtnis, über das Leser wie Enkel bis zum Ende nicht recht im Bilde sind. Die langsam sich anbahnende Auflösung vieler Fragen gehört wiederum zu den großen Stärken dieses ganz wunderbaren Romans.

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

David Hewson: Garten der Engel 
Aus dem Englischen von Birgit Salzmann
Folio Verlag 2023
Hardcover 394 Seiten
ISBN: 978-3-85256-876-8

George Orwell: Reise durch Ruinen

Einen unmittelbaren Eindruck von den Verhältnissen im untergehenden Nazireich erhält der Leser aus den Reportagen des englischen Schriftstellers George Orwell. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Die kurzen Texte, die in diesem schmalen Kompendium versammelt sind, haben es in sich. Neben vielen anderen Reportern, Schriftstellern und schreibenden Beobachtern machte sich auch Georg Orwell 1945 auf den Weg nach Deutschland. Der Krieg war noch nicht zuende, als er deutschen Boden betrat, voller offener Neugier – und schockiert, als er die Verwüstungen Kölns sah: Vom Ausmaß der Zerstörungen durch den Bombenkrieg war man auf den Inseln nicht informiert.

Die Unmittelbarkeit der Berichte, die Orwell für Zeitungen verfasst hat, sind ein großer Vorzug. Zwar bemüht sich der Brite um eine möglichst nüchterne Schilderung, reflektiert und analytisch, doch ist dem Ton anzumerken, wie sehr ihn die Eindrücke anfassen. Es sind nicht so sehr die Aspekte, die er in seinen Analysen richtig erkannt hat, sondern jene, bei denen er falsch lag, die ich mit großem Gewinn zur Kenntnis genommen habe. Sie geben einen Einblick in die Hoffnungen und Befürchtungen der Zeit.

Orwell war Teil jener Armeen, die Deutschland besetzten – die letzten Kriegsmonate waren ein apokalyptisches Gemetzel. In den Monaten Januar bis April starben Schätzungen zufolge mehr als eine Million deutscher Soldaten. Wer das im Hinterkopf hat, ist über den milden Tonfall mancher Berichte erstaunt: Die relative Ruhe auf dem Land, in dem das Leben weitergeht, als wäre der Krieg längst abgewickelt. Die Auflösung der Heeresgruppe C in Norditalien, als hunderttausende Landser zurück ins Reich strömten, wird genauso bildhaft geschildert wie die erschütternden Berichte über die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen.

Als Teil der Koalition der Sieger über ein Deutschland, das Europa unterworfen hat, schildert Orwell auch, wie anders sich die Franzosen im Vergleich zu den Engländern oder Amerikanern verhalten haben. Als Beispiel wählt er Stuttgart . Kritik und der Versuch, die französischen Handlungen unwillig mit der Besatzungszeit durch die Deutschen zu erklären, gehen Hand in Hand. Plünderungen, bewaffnete Auseinandersetzungen, wahllose Gefangennahme deutscher Zivilisten und mangelndes Engagement beim Aufbau einer Militärverwaltung bilden nur einen Teil der Kritikpunkte.

Dank des vorzüglichen und kenntnisreichen Nachworts von Volker Ullrich, der die Berichte ausführlich kommentiert und einordnet, zudem eine ganze Reihe weiterer interessanter Fakten und Aspekte nennt, weiß der Leser auch, was Orwell verschweigt: Es kam zu massenhaften Vergewaltigungen durch die in Stuttgart einrückenden französischen Verbände, mehr als eintausend Anzeigen wurden aufgegeben – die Dunkelziffer dürfte immens sein.

Ich kann dieses Buch nur empfehlen, denn es bietet über die unmittelbaren Eindrücke nach Kriegsende hinaus noch weitere tolle Beiträge. Orwell setzt ich zum Beispiel essayistisch mit der Person Hitlers auseinander, in dem er einen Monomanen sieht. Ganz besonders gelungen ist seine Besprechung eines Buches von Thomas Mann, die ein sehr schönes Beispiel für die Schreibkunst und das zugrundeliegende Verständnis George Orwells ist.

George Orwell: Reise durch Ruinen
Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff
C.H. Beck 2021
Hardcover 111 Seiten
ISBN: 978-3-406-77699-1

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter

Diese Familiengeschichte des niederländischen Autors hat es in sich, es ist eine atemlos voranschreitende Erzählung voller Wendungen und Konflikte. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

»Verhältnis« – ein wunderbares, vielschichtiges Wort. Es kann die Beziehung zwischen Menschen bezeichnen, im Plural dient es dazu, die allgemeinen Lebensumstände zu benennen, schließlich steckt noch das Verhalten darin, das mehr oder weniger dazu beiträgt, die Verhältnisse zu beeinflussen und umgekehrt. Außerdem wird es oft mit einer außerehelichen Liebschaft gleichgesetzt.

All das findet sich in diesem Buch von Alexander Münninghoff. Die Verhältnisse sind auf allen Ebenen verwickelt, verworren, atemberaubend wechselhaft und von der ersten bis zur letzten Seite spannend und vor allem dynamisch. Der Stammhalter hält den Leser bei der Stange, es ist ein Pageturner ohne Action, man kann sich nur schwer lösen.

»Schwarz und bedrohlich glänzend, auf der einen Seite ein schwarz-weiß-rotes Emblem und auf der anderen zwei grellweiße Blitze.«

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter

Ich werde erst gar nicht den Versuch unternehmen, so etwas wie eine inhaltliche Zusammenfassung zu bieten – das bliebe in allen denkbaren Fällen unzulänglich.

Schwerpunkt und Kern ist der Zweite Weltkrieg, denn dieses epochale Gemetzel auf dem europäischen Kontinent hat für die Familie des Autors dramatische Folgen. Sie ist im Baltikum, in Riga ansässig, dort reich geworden und Teil der gehobenen Gesellschaft. Deutsche, Schweden und Niederländer bilden die wirtschaftliche (und politische) Elite, die Letten sind das Fußvolk – wenn man die gesellschaftlichen Verhältnisse stark vergröbert zeichnet.

Dank des Hitler-Stalin-Paktes geraten die baltischen Staaten unter den Einfluss der brutalen Sowjetmacht, die 1940 mit militärischen und polizeilichen Mitteln die Eigenstaatlichkeit der baltischen Länder beendet und jeden, der nicht in ihr politisch-ideologisches Konzept passt, tötet, inhaftiert oder verschleppt. Eine traumatische Erfahrung, bis in unsere Tage wirkt das Echo in den wieder selbstständigen Staaten nach.

Für die Familie des Autors geht die Katastrophe glimpflich aus. Der »Alte Herr« Joannes, also der Großvater von Alexander (Bully), ist weit über die Landesgrenzen hinaus bestens vernetzt, wodurch er drei Tage vor dem Angriff der Wehrmacht auf Polen davon aus Berlin erfährt. Da er auch von Hitlers und Stalins Teufelspakt weiß, kann er Schlimmeres verhindern und die Seinen sowie einen Teil des Vermögens in Sicherheit bringen. Die Niederlande, aus der er ursprünglich ausgewandert ist, wird zur neuen (alten) Heimat auserkoren.

Sehr zum Verdruss von Frans: Der Sohn von Joannes und Vater von Alexander hasst die Niederlande, in die ihn der »Alte Herr« mit brachialen Methoden hineinzwingen will. Das geht gründlich schief, Frans wendet sich Deutschland zu, tritt der Waffen-SS bei, nimmt am Feldzug im Osten teil, wird mehrfach verwundet und ausgezeichnet und überlebt, weil er trotz seiner tief empfundenen Kameradschaft und Treue im Herbst 1944 schließlich desertiert.

»Das wahre Gesicht des Krieges, wie es sich mir in der halbdunklen Diele vor der Treppe in Hans’ Elternhaus zeigte, macht kopflos.«

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter

Sein Vater laviert zwischen den Fronten. Die SS-Mitgliedschaft seines Sohnes und dessen Kampf an der Ostfront nutzt er während der Besatzungszeit für gute Beziehungen zu den Deutschen, während er gleichzeitig mit dem britischen Geheimdienst und Widerständlern Kontakte unterhält, ja selbst tätig wird; das Geschäft läuft derweil trotz des Krieges weiter – nach dem Krieg nutzt er die schwarzuniformierte Vergangenheit Frans’, um diesen unter Druck zu setzen.

Damit ist nur eine von vielen, einander überlagernden, miteinander verwickelten und nicht enden wollenden Konfliktlinien in dieser Familie genannt, wenn auch eine wesentliche: Die Auseinandersetzung zwischen dem erfolgreichen und völlig skrupellosen bzw. gefühlskalt-egoistisch agierenden Tycoons und seinem Sohn um die gewünschte und passende Identität.

Während Frans durch seine Kollaboration in Schwierigkeiten gerät, wird Enkel Alexander zum Stammhalter erwählt und auf rabiate Weise in Position gebracht. Unnötig zu sagen, dass auch am Ende alles mehr oder weniger scheitert, die hochfliegenden Pläne zerschellen an den Verhältnissen im eingangs genannten Sinne. Es wird geliebt, gehasst, fremdgegangen, geprasst, in großer Not gelebt, geflohen, betrogen und intrigiert – ein turbulenter Strudel an Ereignissen, denen der Leser folgen darf.

»Bei uns wurde ein Deutsch der Höflichkeit und Sanftmut gesprochen, eine Sprache, von der man sich gut vorstellen kann, dass sie sich auch für tiefschürfende Gedanken und Poesie eignet, nicht nur für Kriegshetze und Propagandagedröhn. In meiner Erinnerung ist die deutsche Sprache, die auch meine erste war, ein zärtliches Säuseln, ein leises Flüstern, denn es kam ja aus dem Mund meiner Mutter.«

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter

Münninghoff zeichnet auch das Bild einer untergegangenen Welt. Eigentlich müsste man Welten sagen, denn der Zweite Weltkrieg hat davon eine ganze Reihe in den Abgrund gestürzt, aus dem sie nie wieder hervorkommen werden. Neben vielem anderen unterscheidet auch das einen Familienroman wie Der Stammhalter von TV-Serien-Schund, denn wie vor 1939 die unwiederbringlichen, heute unvorstellbaren europäischen Verflechtungen aussahen, wird hier auf wunderbare Weise erlebbar. Außerdem gilt für beinahe alle und alles in diesem Buch: »Doch es wurde nichts mehr gut.«

[Rezensionsexemplar]

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
C.H. Beck-Verlag 2023
Taschenbuch 334 Seiten
ISBN: 978-3-406-79624-1

Stefan Hertmans: Der Aufgang

Eine großartige literarische Annäherung an den flämischen Kollaborateur Willem Verhulst und sein Leben. Ganz nebenbei mein erstes Buch eines in Belgien lebenden Autors. Cover Diogenes, Bild mit Canva erstellt.

Man stelle sich den Kauf eines Hauses vor, die Besichtigung in Gegenwart des Notars, dem das Anwesen gehört; während man von Raum zu Raum schreitet, werden die Erinnerungen an jene geschildert, die dort einmal gewohnt haben – eine Hitler-Büste auf dem Kaminsims? »Was für Leute haben denn hier gewohnt?« Die Frage beantwortet – Jahre später – ein Buch: ein Kollaborateur und Angehöriger der Waffen-SS.

So führt Autor Stefan Hertmans den Leser in seinen Roman Der Aufgang, um diesem Mann nachzuspüren: Willem Verhulst, eine schillernde Figur, in dem sich das Drama ganz Belgiens spiegelt. Früh auf einem Auge erblindet, was ihn zum Außenseiter macht, zugleich aber vor einem Fronteinsatz während des Ersten Weltkrieges bewahrt; in den Kriegsjahren beginnt seine Liaison mit Deutschland, die bis zum Ende seines Lebens im Jahr 1975 prägend sein wird.

Belgier, könnte ich schreiben, und hätte damit durchaus recht. Formal gesehen war Willem Verhulst Staatsbürger des kleinen Landes, das etwas arg zu kurz kommt, wenn die beiden großen Kriege verhandelt werden, mit denen Deutschland Europa überzogen hat. Frankreich, England, Russland, die Sowjetunion, die USA – aber Belgien? Oft kaum mehr als ein randständiges Durchmarschland in beiden Kriegen.

Schon im Ersten Weltkrieg machen sich Charakteristika des Zweiten bemerkbar: Zwangsarbeit, Gewalttaten gegenüber der Zivilbevölkerung, Kollaboration; und nach der Niederlage des Kaiserreiches Verfolgung und Flucht der Kollaborateure. Einer davon ist Willem Verhulst, der sich selbst eben nicht als Belgier, sondern als Flame sieht und auf ein großgermanisches Reich unter deutscher Führung hofft. Schon vor 1918, wohlgemerkt.

Immer seltener hält er mit seinen Sympathien für ein großgermanisches Reich unter deutscher Führung hinterm Berg.

Stefan Hertmans: Der Aufgang

Nach dem Krieg folgt die Flucht in die Niederlande mit seiner todkranken, verheirateten Geliebten Elsa;  dort lernt er Mientje kennen, die er nach dem Tod Elsas ehelicht und betrügt. Ein notorischer Fremdgänger, der jedoch nicht nur seine Liebschaften, sondern auch seine politischen Ansichten und Aktivitäten vor seiner Frau geheimzuhalten sucht.

Oft steht der Leser gemeinsam mit Mientje vor verschlossener Tür, hinter der widersprüchliche Dinge verhandelt werden. Mal ist es ein jüdisches Ehepaar, das um Hilfe bittet; Willem kennt offenkundig die Frau näher, man ahnt, warum. Mal sind es Wehrmachtsoffiziere, mit denen sich Willem beim Einmarsch der Wehrmacht bespricht, seine Reisen ins Reich, seine Kontakte, Sympathien.

Hertmans nutzt diesen Kniff, um Dinge, die er nicht wissen kann, offenzulassen. Wie Willems Frau braucht der Leser ohnehin keine Details, denn aus den Taten des Kollaborateurs lässt sich genug herauslesen. Mientje ist sein Widerpart, was die politischen Ansichten anbelangt; die kluge, religiöse, pazifistisch eingestellte Frau, die wissbegierig und offen ist, kämpft gegen alles an, was sie an Willems Kollaboration erinnert.

Zuhause untersagt sie ihm das Tragen der Uniform; wirft einen SS-Dolch, den Willem ihrem gemeinsamen Sohn schenkt, mit dem auf der Klinge eingravierten Schriftzug, »Meine Ehre heißt Treue«, in das benachbarte Gewässer; verbrennt deutsche Zeitungen; hält gegenüber allen uniformierten Gästen und dem mit einer Hitler-Büste geschmückten Salon Distanz und nennt diesen Raum treffend »Totenzimmer«. Ändern kann sie damit selbstverständlich wenig.

Diese unschuldige Formulierung ist nur ein dünnes Vlies, das kaum das rohe Fleisch darunter verdeckt.

Stefan Hertmans: Der Aufgang

Der Aufgang ist kein Roman im eigentlichen Sinne; er vereint fiktionale, berichtende, essayistische Elemente, angereichert mit Bildern ist er auch die Geschichte einer Spurensuche. Hertmans spricht mit den Angehörigen Willems, den Kindern, liest, was an Akten, Briefen, Tagebüchern und Büchern überliefert ist und reflektiert. Bemerkenswert ist, wie die Kindern bis ins hohe Alter Formulierungen verwenden, wenn es um die Karriere ihres Vaters geht, die seine (Un-)Taten verharmlosen.

Ab 1943 dreht der Wind. Willem ist Angriffen, Pöbleien, Spott und Drohungen ausgesetzt; zugleich steht er seitens der Deutschen unter massivem Druck, erleidet Nervenzusammenbrüche, schluckt Pervitin und ist noch diensteifriger. Trotz allem Engagements spürt er die Herablassung seitens der Besatzer, die in ihm und den Flamen letztlich doch nur zweitklassige »Westgermanen« sehen.

Ausgrenzung ist eine Wurzel für Willems Kollaboration, die Herablassung durch die französischsprechenden Bevölkerungsteile Belgiens, das Gefühl, »ein ›Neger‹ im eigenen Land« zu sein. Kurioserweise führte das zum Bruch mit dem Staat Belgien, während die bittere Erkenntnis, ein Flame sei »nie mehr als ein Ersatz- oder Westgermane« seine Loyalität gegenüber Deutschland nicht bricht.

Der Siegeszug stockte bald und die Hölle näherte sich unabwendbar.

Stefan Hertmans: Der Aufgang

Im September 1944 flieht Willem mit seiner Geliebten Griet Latomme nach Deutschland; Mientje bleibt in Gent, sie und die Kinder werden von »Widerständlern«, einer Rotte gewaltbereiter Männer, heimgesucht. Da der Kollaborateur in Deutschland weilt, ein Aufenthalt, über den Griet gespenstisch geschönte »Erinnerungen« überliefert, bekommen seine Familienangehörigen die aufgestaute Wut ab; Sohn Adri stirbt beinahe.

Was folgt – nun, Geschichte ist nicht gerecht; Gefängnis läutert nicht, sondern radikalisiert, und Menschen ändern sich nur dann, wenn sie einsichtig sind und es wirklich wollen.

Der Aufgang ist ein großartiges Buch, das die widersprüchliche Vielschichtigkeit der historischen Person und ihre Verflechtung mit der Lebenswirklichkeit auch durch die Struktur der Erzählung wiedergibt. Der Autor setzt sich mit der Person Willem Verhulst, aber auch mit der Spurensuche und auf beeindruckend offen-kritische Weise mit sich selbst auseinander. Am Ende bleibt aber – bei allem Verstehen – immer deutlich, wofür Verhulst sich hat einspannen lassen: ein menschenverachtendes Gewaltregime.

Ganz persönlich hat mir Der Aufgang auch deshalb so gut gefallen, weil ich wieder einige Antworten auf die Frage erhalten habe, warum Männer (und Frauen) in fremder Uniform kämpfen. Eine positive Rezension gibt es auch bei Buch-Haltung, die etwas anders akzentuiert ist und den Versuch einer Einordnung unternimmt.

[Rezensionsexemplar]

Stefan Hertmans: Der Aufgang
Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
Diogenes 2022
Hardcover, Leinen 480 Seiten
ISBN: 978-3-257-07188-7

© 2023 Alexander Preuße

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