Ein tolles Thema mit einer großartigen Perspektive und vielen interessanten Figuren; leider überwiegen am Ende doch die Schwächen dieser historischen Dystopie. Cover Heyne-Verlag, Bild mit Canva erstellt.
Das Genre lese ich selten, aber gern: eine historische Dystopie, in der das so genannte »Dritte Reich« den Zweiten Weltkrieg nicht verloren hat. Diese Formulierung ist mit Bedacht gewählt, denn Hitler wollte zwar Krieg, aber nicht unbedingt einen Sieg im Sinne eines neuen Friedens. In seinen Wahnvorstellungen sollte der Deutsche im Osten an einer stetig fechtenden Front sich stählen (sehr verkürzt dargestellt).
Der Roman von C.J. Sansom, der hierzulande unter dem Titel Feindesland vermarktet wird (im Original ein treffenderes Dominion), greift das Motiv ebenso auf wie etwa der brillante Thriller Vaterland von Robert Harris. Die Ostfront ist statt eines Stahlbads zu einer schwärenden Wunde des Reiches geworden, das zwar ganz Europa besiegt, mit England einen Frieden geschlossen und sein rassistisches Vernichtungsprogramm fast ganz durchgeführt hat, aber unter dem Dauerkrieg ächzt.
Mit dem Reich darbt auch ganz Europa, beste Voraussetzungen für das Aufkeimen von Widerstand, zumindest in der Welt, die C.J. Sansom erdacht hat. Auch in England gärt es, Botschafter Erwin Rommel wird anlässlich eines Gedenktages attackiert. Das ist der Ausgangspunkt für eine im Kern spannende und abenteuerliche Geschichte, die bevölkert ist mit vielen sehr interessanten Figuren.
Diese tummeln sich in einem England, das seine eigenen rechten Vorstellungen ebenso verwirklicht hat und in der Ideenwelt eines eigenständigen, mit Nazi-Deutschland verbündeten Großbritannien lebt: Das Empire gibt es Anfang der 1950er Jahre noch, diese Konstruktion ist ein verdeckter Kommentar zu den wirtschaftlichen Ideen eines auf den eigenen Herrschaftsbereich (Dominion!) beschränkten Landes auch in der Brexit-Gegenwart.
Diese Perspektive ist gut gewählt und bietet einen Ausblick auf eine düstere Welt, in der sich die USA dem Isolationismus verpflichtet, Japan in China in einem endlosen Krieg verbissen hat und England seine Kolonien brutal ausbeutet. Auch die durchaus vielschichtigen politischen und diplomatischen Manöver, die Teil des aktiven, d.h. auf das Geschehen einwirkenden Kulissen zählen, sind ein klarer Pluspunkt, sie verleihen dem Roman einen großen Mehrwert. Vor allem aber wird die unfassbare Monstrosität sicht- und fühlbar, die sich hinter bürokratischen Wortschleiern á la „Generalplan Ost“ verbirgt.
Weniger gelungen sind viele Kurzschlüsse in der Thriller-Handlung, allzu oft begreifen Figuren aller Seiten plötzlich etwas auf sehr kurzem Wege, wenn es gerade in den Handlungsverlauf passt; das mindert die Glaubwürdigkeit beträchtlich. Der Dynamik hätten eine konsequente Straffung gutgetan, viele Dialoge sind zu lang, redundant oder einfach unnötig. Manchmal flirren die Konturen der Figuren, wenn sie plötzlich aus der Rolle fallen oder in unangemessene Rührseligkeit ausbrechen – schade, denn die Persönlichkeiten sind grundsätzlich ansprechend.
Leider werden die Schattenseiten des Romans im Verlauf immer dichter, bis es zum Showdown kommt, schleppt sich die Handlung einige Zeit dahin wie ein Fußkranker, ehe der Leser ein groteskes Spektakel und ein fürchterlich naives Ende in Form eines Epilogs präsentiert bekommt. Das ist sehr schade, denn anfangs ist Feindesland ein großer Lesespaß, denn die Welt, die starr und dunkel zu sein scheint, gerät ganz erheblich ins Wanken.
Adolf Hitler ist schwerkrank, seine Umgebung scharrt mit den Füßen, den Machtkampf um die Nachfolge notfalls in einem selbstvernichtenden Bürgerkrieg auszufechten, eng verbunden mit der umstrittenen Frage, wie die Politik fortgeführt werden soll. Und über allem baumelt ein Alptraum namens Atombombe und eröffent eine vorzügliche Aussicht auf eine globale Selbstvernichtung.
C. J. Sansom: Feindesland Aus dem Englischen von Christine Naegele Heyne Verlag 2020 Taschenbuch 768 Seiten ISBN: 978-3-453-43942-9
Ein historischer Roman der ganz besonderen Art, frei von jeglichem Action- und Romance-Gedöns, aber spannend vom ersten bis zum letzten Augenblick, einschließlich der Passagen, in denen sich eine Romanze entfaltet. Cover Paul Zsolnay Verlag, Bild mit Canva erstellt.
Das Cover, nein das Cover ist nicht so eines. Es kündigt nicht eines jener Bücher an, die mit einer Frau im Vordergrund, halb oder ganz abgewandt und damit zumeist einer helleren Zukunft entgegenblickend die Regale unter dem Label »Historische Romane« füllen. Wild (wie die bewegte See), ja, romantisch auch, aber nicht in abgeschmacktem Sinne; dramatisch, auf jeden Fall, wenn auch ohne die genreübliche Action. Spannend: von ersten bis zum letzten Augenblick.
Die Hauptfigur von Die Korrektur der Vergangenheit ist ohnehin keine Frau, sondern ein gewisser John Lacroix, der sich in den Spanienfeldzug des Jahres 1808/09 gestürzt hat und von diesem an Körper und Geist zerschunden wieder ausgespien wurde. Sein Weg zurück aus der Dunkelheit im Vorraum des Todes zurück ans Licht, das von Erinnerungen und Scham verdüsterten Licht des Lebens.
Unter den Händen von Nell, der Haushälterin, kann Lacroix genesen, doch die inneren Verwüstungen trägt er mit sich herum; sie lassen ihn gar an Selbstmord denken. Um welche es sich handelt, erfahren wir nicht von ihm, jedenfalls nicht am Anfang. Der britische Feldzug in Spanien endete mit einem katastrophalen Rückzug, mehr als die kargen Äußerungen, über die man auch flüchtig hinweglesen könnte, gibt es nicht.
Man ahnt jedoch eine Menge. Der Offizier einer Kavallerieeinheit kommt in einem völlig abgerissenen Zustand zurück. Seine Ausrüstung, seine Waffen, die meiste Kleidung und seine Stiefel sind verschwunden, statt seiner Truhe und Taschen führt er nur einen billigen Tornister mit sich. Immerhin lebt er, sein Gehör hat gelitten, was während der gesamten Handlung immer wieder geschickt eingeflochten wird, um das Motiv des Verstehens durchzuspielen.
Der Krieg ist jedoch nicht vorbei, England schickt wieder Streitkräfte nach Spanien, plötzlich sieht sich Lacroix mit der Aussicht konfrontiert, noch einmal in die Hölle zurückkehren zu müssen. Er beschließt, seinen aktiven Dienst zu beenden und nach Norden zu fahren – mit einem Wort: Er desertiert (mehr oder weniger).
Dass auch Soldaten dagewesen wären, Rückkehrer aus Spanien, die einfach auf der Straße lagen ohne Augen und Beine.
Andrew Miller: Die Korrektur der Vergangenheit
Es hätte für Lacroix also auch schlimmer kommen können – die Versuchung, das zu sagen, liegt nahe; was dieser Krieg zwischen englischen und französischen Truppen sowie spanischen Einheiten und Freischärlern, ausgefochten auf spanischem Boden für Lacroix mit sich brachte, erfährt der Leser aus einer anderen Perspektive. Die Wechsel der Erzählsicht, von Ort und Zeit und Personen, gehören zu den herausragenden Stärken von Autor Andrew Miller.
Die so entstehenden Auslassungen, offenen Fragen, Vermutungen und leeren Stellen lassen das drängende Bedürfnis nach Antworten, Erhellung, Aufklärung entstehen – bis zum Ende des Romans und darüber hinaus. So erfährt der Leser, dass Lacroix mit einem Geschehnis in Verbindung gebracht wird, das man getrost als Kriegsverbrechen bezeichnen kann.
Ob und inwieweit das in seiner Verantwortung lag bzw. die Aussagen, die darüber in einer großartigen Passage vorgetragen und zusammengestellt werden, überhaupt eine Anschuldigung, gar nicht zu reden von einem Prozess oder Verurteilung ausreichen würden, bleibt anfangs völlig offen. Es ist aber Krieg und dessen totaler Charakter lässt in der Regel alles Recht verbleichen, wenn nicht gar verschwinden.
Im Parallelogramm der Kräfte steht England gegen Frankreich und damit gegen einen übermächtigen Feind, der gerade Preußen und Österreich militärisch zermalmt hat. England braucht Spanien und die »Spanier wollen einen Schuldigen« für ein Vorkommnis während des Feldzuges, woraus sich eine hübsche, wenn auch etwas konstruierte geopolitische Notwendigkeit für eine abseits des Rechts durchzuführende Bestrafungsaktion ergibt.
›Ich bin der Krieg. Ja? Und heute ist der Krieg zu Ihnen gekommen. Er ist direkt in Ihr Haus gekommen und hat sie niedergeschlagen.‹
Andrew Miller: Die Korrektur der Vergangenheit
Der Krieg macht nicht jeden so fertig wie Lacroix, manche werden mit ihm und seinen Zudringlichkeiten fertig, werden ein Teil von ihm und machen diesen zu einem Teil von sich. Den Krieg tragen sie im Tornister ihrer Persönlichkeit, wenn sie in die Heimat zurückkehren. In diesem Fall mit einem heiklen Auftrag, bei dessen Ausführung der Beauftragte namens Calley bedenkenlos zu Gewalt greift. Das Zitat trifft das ganz wunderbar und liefert die kalte Rechtfertigung durch Selbstdistanzierung – es wäre »Der Krieg« – gleich mit.
Der politisch motivierte Auftrag erfordert wegen der nötigen Abwesenheit von Recht und Öffentlichkeit die Anwesenheit eines Zeugen, so bildet sich ein Buddy-Paar, der Engländer Calley und der Spanier Medina, die sich auf den Weg nach Großbritannien machen und ihrer Zielperson nachspüren, die bestraft werden soll. Auf dem Weg quer durch das Land werden sie – wie auch der Leser – Zeuge der unaufhörlich voranschreitenden Industrialisierung der Insel.
In beklemmenden Szenen wird geschildert, wie es innerhalb der Mauern dieser Gebäude, »groß wie eine Kaserne, in dem Arbeit vonstattenging, die die Lohnsklaverei der Massen war«. Diese Welt des »Fortschritts« entpuppt sich als menschenverachtende Stätte der Ausbeutung mit brutalsten Mitteln; Calley, »der Krieg«, hat als Kind dort seine Prägung erhalten; die Armee hat diese Anlagen verschärft, ihn zu einem erbarmungslosen und dank der in Aussicht gestellten Belohnung zielstrebigen Jäger gemacht.
Empfand Calley wie er selbst? Dass sie Narren auf einem Narrengang waren?
Andrew Miller: Die Korrektur der Vergangenheit
Sein Partner ist anders, Medina ist das Unbehagen oft anzumerken. Er denkt viel über seinen englischen Partner und ihren Auftrag nach, stellt ihn in Frage und malt sich immer wieder aus, wie er dieser Jagd, die er als »Narrengang« empfindet, entkommen könnte.
Die Verfolgung ist trotz mangelnder Action hochspannend gestaltet, die beiden Parteien wählen ganz unterschiedliche Routen. Miller gestattet seinem Helden und seinen beiden Häschern eine vorzeitige Begegnung, denn die drei Personen befinden sich einmal zufällig am gleichen Ort – sie erkennen sich dank sorgsam gestalteter Umstände nicht.
Das ist einmal hochspannend, außerdem nutzt der Autor es für eine kleine Erzählfinte: Lacroix findet auf dem Tisch in seinem Gastzimmer, das er immer mal wieder mit einem anderen Gast teilen muss, das Wort »NADA«, auf Spanisch heißt das »Nichts«. Er kann sich darauf keinen Reim machen, der Leser schon, einen ziemlich umfassenden sogar, angesichts dessen, was er bis dahin schon weiß.
Für Lacroix hingegen hat das Wort »NADA« in diesem Moment eine ganz andere Bedeutung im Sinne einer bedeutungsschwangeren Zeichens: Er hat im Norden neue Menschen kennengelernt, darunter Emily, die ein Augenleiden hat, das sie erblinden lässt. Eine durchaus gefährliche Operation könnte Abhilfe schaffen oder schwerwiegende Folgen haben.
Natürlich kommt er, der Augenblick, das sich das »NADA« in »ALGO« verwandelt, die Stunde der Wahrheit. Mehr aber werde ich hier nicht verraten, denn Die Korrektur der Vergangenheit ist bei allem anderen auch wegen der lange offengehaltenen Leerstellen ein ungeheurer Lesespaß und Genuss. Ein Fest mit einem hochdramatischen Showdown und einem Schlusskapitel, dessen Sinn sich erst mit Blick auf den Originaltitel (Now We Shall Be Entirely Free) erschließt.
Hilary Mantel kann in ihrem Lob, »Millers Schreiben sei eine Quelle des Staunens und der Freude«, nur nachdrücklich zugestimmt werden.
[Rezensionsexemplar]
Andrew Miller: Die Korrektur der Vergangenheit Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl Paul Zsolnay Verlag 2023 Gebunden 480 Seiten ISBN: 978-3-552-07338-8
Auch der dritte Teil der Buchreihe ist ein schöner Schmöker. Bild Blanvalet, Cover mit Canva erstellt.
Unsterblichkeit. Im dritten Teil der Abenteuer um den Magier Alex Verus touchiert die Handlung dieses Phänomen. Mehr wird nicht verraten, über dem Was, Wie und Warum lasse ich den Schleier ungelüftet, aber diesen Hinweis möchte ich voranstellen: Zu allen Zeiten dürften die Menschen vom Gedanken an die Unsterblichkeit fasziniert gewesen sein. Was wären wir bereit zu tun, wenn das Überwinden der Sterblichkeit in greifbare Nähe rücken würde?
Kurioserweise hat J.R.R. Tolkien die Sterblichkeit als Geschenk Illuvatersan die Menschen bezeichnet – was für ein atemberaubender Gedanke! In Der Magier von London geht es in Bezug auf das Motiv eher klassisch zu, der Roman ist wie die beiden ersten Teile der Buchreihe sehr dynamisch, angereichert mit mehr oder weniger magisch aufgeladener Action und einem wirklich sehr gelungenen Ende.
Die Hauptfigur, Alex Verus, ist selbstverständlich weiter ganz der alte, hat sich aber ein wenig weiterentwickelt. Wesentlich dafür ist seine Mitstreiterin Luna, seit diesem Band Lehrling. Sie kämpft mit ihrer neuen Rolle genauso wie mit der Beherrschung ihres Fluchs anderen Wirrungen. Beides sorgt für hübsche Wendungen in der Handlung.
Zugleich hat Jacka glücklicherweise darauf verzichtet, nach jedem Band den literarischen Reset-Knopf zu drücken – die Ereignisse aus den ersten Teilen wirken nach und bestimmen das Verhältnis von Verus zu den Magiern und Institutionen seiner Welt. Die wird dankenswerterweise auch noch ein Stück weiter, denn neue Bekanntschaften und Begegnungen sorgen dafür, dass sich die Interaktionen und Beziehungen nicht nur in ausgetretenen Pfaden bewegen.
Ganz besonders gelungen finde ich diesen Roman, dass er entlang der Auflösung eines recht komplexen, zunächst undurchschaubaren Rätsels erzählt wird, das dank verschiedener Parteien mit gleichlaufenden und gegensätzlichen Zielen ebenso verschlossen wie verwirrend ist. Stück für Stück kommen Verus und seine Mitstreiter bei der Auflösung voran und geraten in haarsträubende Gefahren.
Ein ganz wunderbarer Schmöker, der viel Vorfreude auf den nächsten Band weckt.
Die Hellsichtigkeit des Tagebuchschreibers Stresau ist frappierend, besonders, weil er seine Rückschlüsse auf der Basis von propagandatriefenden Presseberichten gezogen hat. Seine Äußerungen stellen einen Kontrapunkt zu dem dar, was an propagandistischem Getöse bis heute das Bild der Zeit prägt – etwa zur berühmt-berüchtigten Sportpalast-Rede von Joseph Goebbels im Februar 1943. Cover Klett-Cotta, Bild mit Canva erstellt.
Ist es mutig oder töricht, Adolf Hitler in einem Tagebuch als »Oberidioten« zu bezeichnen? Hermann Stresau hat das getan, am 31.01.1944, dem Jahrestag der so genannten »Machtergreifung«. Als ich diese Passage las, war ich froh, dass niemand die Aufzeichnungen vorzeitig in die Finger bekommen hat, das hätte fatale Folgen für Stresau gehabt. Uns Nachgeborenen wäre ein kleiner Schatz entgangen, denn nicht anderes sich die Tagebücher Als lebe man nur unter Vorbehalt.
Der Autor Hermann Stresau eignet sich nicht als Heldenfigur des Widerstands, wie etwa Sophie Scholl oder Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Er ist konservativ, wenn die Rede auf die Rolle der Frau (»Weiber«) kommt, muss der moderne Leser tapfer sein; seine Haltung zur Weimarer Republik ist bestenfalls kühl, mit der Parteiendemokratie kann er so wenig anfangen wie mit linken Schriftstellern und dem Vertrag von Versailles.
Und doch hat er 1933 den Kotau gegenüber dem Regime verweigert, erhebliche wirtschaftliche Einbußen inkauf genommen, um sich eine innere Distanz zu wahren gegenüber dem Nazi-Regime. Das ist die Voraussetzung für seinen scharfen, analytischen und oft hellsichtigen Blick auf die Dinge, die schon seine Tagebücher 1933 – 1939Von den Nazis trennt mich eine Welt auszeichnen. Den Kriegsausbruch 1939 hat er wenigstens befürchtet und doch ist er wie ein Hammerschlag auf ihn niedergegangen.
Morgens müssen wir uns eine Zentnerlast vom Herzen schieben, um aufstehen zu können. Wir erheben uns sonst immer frisch und munter um 6 Uhr, selten später, aber jetzt ist’s das Gegenteil: ein furchtbares Gefühl nach dem Erwachen, ein unbeschreibliches Grauen, ein Alpdruck, man möchte die Welt verfluchen. 05.09.1939
Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt
Das bleibt der Grundtenor während der kommenden fünfeinhalb Jahre, bis das so genannte »Dritte Reich« im Mai 1945 in Schutt und Asche gesunken war und Millionen elendig verreckt, vertrieben oder versehrt waren. Selbst während der Phase, in der die Wehrmacht Sieg an Sieg reihte und auch Stresau mit einer militärischen Eroberung Englands oder der Niederwerfung der UdSSR rechnete, hat er sich von der Siegespropaganda nie anstecken lassen.
Das gehört zu den – ja – Ungeheuerlichkeiten der Tagebucheinträgen. Stresau hat von Anfang an gewusst, dass die USA (»Amerika«) den Ausschlag geben würde und ihm war klar, dass die Entscheidung nicht auf dem Schlachtfeld, sondern danach fallen würde. Frieden gibt es durch Verhandlungen – wohlgemerkt nach der militärischen Entscheidung – und er hat der Reichsführung um Adolf Hitler schlicht und ergreifend die Fähigkeit dazu abgesprochen.
Stresau hat sich von den militärischen Erfolgen beeindrucken, aber nicht blenden lassen; seine Erwartungen an die Wehrmacht waren zu hoch, aber selbst die höchsten Regierungsstellen in England (und den USA) haben es den deutschen Truppen zugetraut, die UdSSR niederzuwerfen und auch deshalb massive Unterstützung geliefert, ohne die die Rote Armee in noch größere Schwierigkeiten geraten wäre. Stresau befand sich also in guter Gesellschaft.
Es ist absolut faszinierend zu lesen, dass jemand derart unabhängig und zutreffende Einschätzungen treffen kann, wenn ihm nur das Propaganda-Geklingel der gleichgeschalteten Presse zur Verfügung steht. Der Schlüssel liegt im Nachdenken über das Geschriebene und Verschwiegene. Wenn berichtet wurde, dass sechzig feindliche Flieger abgeschossen wurden, hat Stresau daraus geschlossen, dass die Zahl der angreifenden Flugzeuge entsprechend hoch sein musste und auf dieser Basis auf die immense, ja übermächtige Leistungsfähigkeit der gegnerischen Wirtschaft rückgeschlossen. Hieß es im Wehrmachtsbericht »planmäßig«, übersetzte er das mit Verlangsamung, Stockung oder Stillstand der Vormarsches.
Lesen allein macht nicht klug, Nachdenken macht klug. Das zeigt sich auch an einer anderen Bemerkung, anlässlich der Feststellung Stresaus, die Zeitungsberichte und Haltung der Zeitgenossen wären unangemessen oberflächlich und unbekümmert. Der Tagebuchschreiber zeigt sich bestürzt darüber, wie Zivilisten begeistert über versenkte Schiffe nach Bombentreffern reden.
Aber wenn man sich da so in Norwegen vorstellt: ein Truppentransporter auf hoher See von schwersten Bombenkalibern getroffen, in Brand geraten, und man denkt an die Scenen, die sich dabei abspielen, und sieht dazu die vergnügten Gesichter auf der Straße – dann merkt man, in welcher Unwirklichkeit der Durchschnittsmensch lebt […], ohne zu spüren, daß dies alles des Teufels ist und vielleicht in einem allgemeinen Grauen enden wird. 30.04.1940
Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt
Der alltäglichen Propaganda begegnet Stresau mit beißendem Spott, insbesondere den wissenschaftlich haarsträubenden, von den Nationalsozialisten zusammenphantasierten Germanenkult nimmt er genüsslich aufs Korn. Er würde gern wissen, warum alle kurze Haare trügen, denn als »alte Germanen müßten wir freien deutschen Männer nicht nur den Hut abnehmen, sondern auch die entsprechenden Locken ums arische Antlitz flattern lassen.«
Doch gibt es noch eine andere Ebene, die Stresaus Tagebücher wertvoll machen. Am 18. Februar 1943 hielt Joseph Goebbels im Sportpalast zu Berlin jene berühmte Rede, in der er die Frage in den Saal rief: »Wollt ihr den totalen Krieg?« Der Saal echote stürmische Begeisterung, man kann es sich auf Youtube heute noch ansehen – die Propaganda (!), die bis heute unser Bild prägt.
Stresau charakterisiert ähnliche Reden als »fiebrig« und konstatiert nüchtern: »Im Volk doch starke Beunruhigung zu bemerken.« Dieser kühle Kontrapunkt ist gar nicht zu überschätzen. Éric Vuillard hat in seiner mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten SchriftDie Tagesordnungnachdrücklich darauf verwiesen, wie sehr die Gegenwart von Propaganda-Bildern aus der NS-Zeit geprägt ist – ein giftiger Nachhall der Vergangenheit. Stresaus klärende Worte bilden eine Art Gegengift dazu.
Ich wünsche nicht, daß wir den Krieg verlieren. Ich wünsche eher, daß wir ihn gewinnen, uns jedenfalls behaupten, und uns unsere verrückt gewordenen Führerbande entledigen. 29.5.43
Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt
Natürlich ist Stresau auch Kind seiner Zeit. Dem Rassenwahn der »Nasolisten« steht er ablehnend gegenüber, die »Rasse« ist für ihn aber eine gewöhnliche Denkkategorie. Man stehe mit Artverwandten (England und Amerika) im Krieg, während die Verbündeten (Italiener, Japaner) einem so fremd wären. Wenn sich Stresau über Juden abfällig äußert, dann nicht wegen der »Rasse«, sondern weil ihm an einer Einzelperson etwas Konkretes missfällt, etwa Stefan Zweigs Essay über Hölderlin.
Der nächste große Schock ist der Überfall auf die Sowjetunion, in mehrfacher Hinsicht. Der »Alpdruck« der sich anbahnenden Niederlage, weil Deutschland »alles über den Kopf wachsen« werde, weicht bis Kriegsende nicht, allen zwischenzeitlichen Erfolgen zum Trotz. Wie betäubt sei man, angesichts des ins Endlose sich dehnenden, den ganzen Erdball umspannenden Krieges, der nicht – wie von Hitler behauptet – 1941 enden werde, sondern »nach 10 Jahren vielleicht.«
Von den Kriegsverbrechen, dem Genozid, dem sich anbahnenden Holocaust und dem drakonischen Gebahren in den besetzen Gebieten weiß Stresau recht früh. Interessant sind seine Quellen. Ein Arzt berichtet ihm von einem Offizier, der wegen »Kopfschmerzen« behandelt werden will. Es stellt sich heraus: Dieser Offizier hat mehr als 800 Zivilisten, Frauen und Kinder erschossen – das halte er nicht mehr aus. Stresau weiß obendrein um den Hunger der ausgeplünderten Gebiete (auch im Westen), um die »renitente« Bevölkerung und die »Widerspenstigkeit der Besiegten« überall.
Die ›Freiheit‹, die wir bringen, wäre ihnen alles andere als erwünscht.« 6.7.41
Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt
Spektakulär sind die Schlussfolgerungen, die Stresau daraus zieht, die wichtigste: Der Krieg ist nicht zu gewinnen. Anders als jene Zeitgenossen, die sich von den militärischen Erfolgen in dieser Zeit haben blenden lassen, wusste der Tagebuchschreiber ganz genau, dass selbst bei einem umfassenden Sieg der Wehrmacht der Krieg noch lange nicht siegreich beendet werden könnte – ein Frieden erschien ihm völlig unmöglich.
Doch selbst die militärischen Aussichten beurteilt er nüchtern. Angesichts der größten Kesselschlacht an der Ostfront mit gewaltigen Verlusten für den Gegner macht er eine einfache Rechnung auf: Die Rote Armee habe vier Millionen Mann verloren, blieben noch sechszehn Millionen, die Industrie wäre hinter dem Ural, und die Versenkung alliierter Handelsschiffe im Nordmeer bedeute eine auf massive materielle Unterstützung für die UdSSR. Mit einem Wort: militärisch sei noch lange nichts gewonnen.
Es ist angesichts der Traumtänzerei in den hohen Stäben von Militär und Verwaltung, der braunen Partei und ihren Organisationen, der Presse und Wirtschaft geradezu bestürzend, wie ein Einzelner auf der Basis kümmerlicher, propagandatriefender Informationen durch kluges Nachdenken realitätsnahe Schlussfolgerungen zieht. Vor allem ist ihm klar, dass ein »Sieg« keineswegs glanzvoll ausfallen würde, im Gegenteil.
Grete und ich waren heute zwei Juden begegnet, mit ›Sternchen‹, und hatten uns schämen müssen. Darauf die Frage: wozu das alles, Kriege, Staaten usw., dieser ganze furchtbare Unsinn, wenn das zu nichts führt als solchen Lumpereien. 19.10.41
Was diesem Krieg zur Zeit eine besondere Note gibt, sind die systematischen Judendeportationen mit dem ausgesprochenen Zweck der Vernichtung der Unglücklichen. 18.11.41
Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt
Nach der Niederlage bei Stalingrad verändert sich alles. Die Stimmung in der Bevölkerung sinkt drastisch, die Versorgungslage wird schlechter, die Vernichtung der deutschen Städte durch den Bombenkrieg schreitet immer schneller voran, während die gesamte Bevölkerung begleitet von fanatischen Worten in den Dienst des längst verlorenen Krieges gepresst wird.
Stresau muss zwangsweise in einer Fabrik arbeiten. Seine Beobachtungen und Betrachtungen sind erhellend, denn auch hier klaffen Propaganda und Wirklichkeit weit auseinander. Die Produktion leidet unter vielerlei Dingen, Chaos, Materialmangel, unqualifizierten Arbeitern, dem Auftreten des Sicherheitspersonals, das die ausländischen Arbeiter drangsaliert, und den ständigen Alarmen, die jede Nachtruhe über Monate und Jahre unmöglich machen.
Man müsse gar keine Sabotage üben, konzediert der Tagebuchautor, das erledige sich ganz von allein. Doch ist Stresau keineswegs zum Spott zumute, er ist innerlich zerrissen zwischen dem Wunsch, das Desaster möge sich noch abwenden lassen und der Einsicht, dass Deutschland und Europa immer weiter in den Abgrund rutschen. Für eine Zukunft nach dem Kriegsende sieht er schwarz, rechnet mit Jahrzehnten bitterer Lebensverhältnisse.
Ein besonderer Wert der Tagebücher liegt darin, dass sie zeigen, wie sehr sich der Krieg in den Alltag hineindrängt, während sich die Menschen bemühen, ihn zu verdrängen. Die Fluchten sind vielfältig, Literatur, Musik, Gespräche, abendliche Runden mit kulturellen Gesprächen, Affären, Alkohol bieten immer wieder eine Möglichkeit, dem alltäglichen Grauen zu entfliehen, ohne ihm zu entkommen.
Manche Schilderung aus den letzten Kriegsmonaten ist haarsträubend, etwa von Göttingen aus den Rauchturm der im März 1945 zerstörten Stadt Hildesheim zu beobachten: eine »riesige Rauchwolke, wie von einem Vulkan«. Nach der Befreiung Tage später folgen peu á peu die Nachrichten von den NS-Gräueltaten, noch nicht von der Massenvernichtung im Osten, sondern aus dem KZ Sachsenhausen. Diese sind so schauerlich, dass selbst ein kluger, aufmerksamer Beobachter wie Hermann Stresau notiert: »Kaum glaublich, aber es muß wahr sein.«
Ein atmosphärisch ungemein dichter, ausschweifender Roman, packend, dramatisch, aber fern aller romantisierenden Abenteuererzählung. Cover Heyne-Verlag, Bild mit Canva erstellt.
Nicht allzu oft haben Revolutionäre gekrönte Häupter rollen lassen. Karl I. (Charles I.) Stuart gehört zu jenen Ausnahmen. Zum Ende des englischen Bürgerkrieges wurde er getötet – man kann im Internet Bilder jenes Dokumentes betrachten, auf dem 59 Mitglieder des eigens eingerichteten High Courts das Todesurteil unterzeichnet haben. Der vierte trägt den Namen Edward Whalley, der vierzehnte heißt William Goffe: zwei der drei Hauptfiguren des Historischen Romans Königsmörder von Robert Harris.
Zu ihnen gesellt sich ein dritter Protagonist namens Richard Nayler, eine fiktive Figur, Gegenspieler und Nemesis von Whalley und Goffe, nachdem Oliver Cromwell gestorben und die Monarchie restauriert worden ist. Eine erbarmungslose Jagd auf die Königsmörder setzt ein, perfide wird ihnen Gnade versprochen, während ihnen ein grausamer Tod blüht. Die Zeit um 1660 ist von brutaler Erbarmungslosigkeit, was Hinrichtungen anbelangt.
Nayler gehört zu den eifrigen Jägern, er hat mit Whalley und Goffe ein besonderes Hühnchen zu rupfen, die Jagd auf sie trägt den Charakter eines privaten, fanatischen Rachefeldzuges. Die Handlung setzt ein, als die beiden Oberste in den Kolonien jenseits des Atlantiks eintreffen, während die meisten Verfolgten vor der Nachstellung durch die Getreuen der englischen Krone aufs europäische Festland geflohen sind, etwa in die Niederlande.
Harris hat eine ebenso spannende wie ausschweifende Geschichte verfasst, die zweierlei vermeidet. Einmal jede Form romantisierender Abenteuererzählung um die Flucht der beiden Oberste, ihr Elend wird fühlbar; zum zweiten die Verlockung, die Handlung zu einem auf purer Handlungsspannung fokussierten Thriller zu machen. Dazu hätte der Autor die historische Überlieferung ordentlich biegen müssen, außerdem ist der Roman – für meinen Geschmack – packend.
Aber nicht nur das. Die flüchtigen Whalley und Goffe stehen in der Neuen Welt vor der Herausforderung, zu überleben. Sie können sich auf ein Netzwerk aus Puritanern stützen, die ihnen helfen; allerdings wirkt die Flucht bisweilen seltsam arglos, so geben sich die Fliehenden keinerlei Mühe, ihre wahre Identität zu verschleiern, sondern treten unter ihren richtigen Namen auch noch in der Öffentlichkeit auf.
Für Jäger Nayler ein gefundenes Fressen, das er nicht verschmäht, als er selbst nach einer recht ausgedehnten Irrsuche in England schließlich selbst nach Amerika übersetzt; zu den großen Vorzügen des Romans gehört, dass die Stolpersteine von Flucht und Jagd von Harris mit der gleichen Detailliebe geschildert werden. Doch kommen sich in einer unerhörten Szene Jäger und Gejagte sehr nahe, eine atemberaubende Szene, in der man selbst die Luft anhält.
Wirklich großartig ist der Roman durch die Atmosphäre, die einem alten, üppigen, von Figuren, Landschaften, Dorf- und Stadtszenen wimmelnden Gemälde ähnelt. Man wähnt sich in London, man wähnt sich in den der Unendlichkeit des amerikanischen Kontinents, auf hoher See und mitten drin, wenn die großen Heimsuchungen der Zeit über die Menschen hereinbrechen. Chapeau!
Robert Harris: Königsmörder Aus dem Englischen von Wolfgang Müller Heyne-Verlag 2022 Hardcover mit Schutzumschlag, 544 Seiten ISBN: 978-3-453-27371-9
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Aktuelle Lektüre
Das Sachbuch Fünfte Sonne von Camilla Townsend führt in die Welt eines indigenen Volkes in Amerika, das durch die Ankunft der Spanier beinahe vollständig vernichtet wurde. Ich erweitere meinen Horizont und bin sehr gespannt.