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Schlagwort: Erster Weltkrieg

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Ein wunderbarer Roman mit handfester Ermittlerarbeit im Kyjiw des Jahres 1919. Cover Diogenes, Bild mit Canva erstellt.

Der Bürgerkrieg zwischen den Roten und Weißen im Gefolge der Oktober (November)-Revolution 1918 bildet den Auftakt für zwei äußerst blutige Jahrzehnte in der Sowjetunion. Erst nach Stalins Tod Anfang der 1950er Jahre ist der Blutzoll im geographisch größten Land der Erde, das politisch, gesellschaftlich, technologisch und in vielen anderen Bereichen immer noch weit vom Westen entfernt ist, geringer geworden.

Buchstäblich mitten hineingeworfen in den Strudel aus Gewalt wird der Leser des Romans Samson und Nadjeschda von Andrej Kurkow. Die Hauptfigur verliert seinen Vater durch den Säbelhieb eines Kosaken und sein Ohr. Eine dramatische Szene, direkt am Anfang, die jedoch keine falschen Erwartungen wecken sollte: Action und explizit geschilderte Gewalt halten sich über weite Strecken der erzählten Geschehnisse in Grenzen.

In diesen Zeiten ist manchmal auch nicht klar, wo das Gute ist und wo das Böse.

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Stattdessen erzählt Kurkow seine Geschichte in einem eher plüschig wirkenden Tonfall. Gesetzt und gediegen wirken Sprache und Handlungsweise Samsons, in gewisser Weise Teil des kleinen, vorrevolutionären Bürgertums. Er taumelt. Der Krieg hat die Gesellschaft ohnehin erschüttert, Revolution, Bürgerkrieg und Gesetzlosigkeit haben der Sicherheit den Garaus gemacht. Alles wirkt improvisiert, chaotisch, viele Zeitgenossen führen Tätigkeiten aus, für die sie gar nicht qualifiziert sind.

Die Konfrontation mit dem Tod seines Vaters und der eigenen Verstümmelung vertiefen die Orientierungslosigkeit des Protagonisten. Kurkow lässt ihn einige Zeit durch Kyjiw irren, bei seinem Versuch, in der sich rasant verändernden Welt Fuß zu fassen. Die neue Macht in der ukrainischen Großstadt macht sich recht bald durch zwei Rotarmisten bemerkbar.

Die beiden Soldaten kundschaften Samsons Wohnung aus, indem sie vorgeben, Nähmaschinen zu suchen, um sie zu requirieren; etwas später quartieren sie sich unter Vorlage eines obskuren Dokuments bei ihm ein, besetzen ein Zimmer und verwenden die Bleibe, um ihre Beute abzustellen. Die Rotarmisten nutzen nämlich die halbanarchischen Zustände als Gelegenheit, um sich zu bereichern.

Samson wird nach einigem Vorlauf und mehr durch Zufall Teil der neuen Macht, indem er der Miliz beitritt und Teil der Ordnung wird. Das ist fast ein wenig komisch, denn von polizeilichen Ermittlungen versteht er überhaupt gar nichts; trotzdem findet er sich plötzlich bewaffnet, mit entsprechenden Papieren und Kleidung ausgestattet auf der Seite der Bolschewisten wieder – ohne selbst einer zu sein.

»Ordnungen gibt es verschiedene.« Der Arzt biss sich auf die Lippen. »Es gibt die bolschewistische Ordnung, es gibt die anarchische von diesem Machno, und es gibt die weiße, denikinsche. Sie stehen alle auf keinem Papier und ändern sich wie das Wetter in England.«

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Merkwürdig indifferent bleibt die Haltung Samsons, die am ehesten mit dem Drang nach bürgerlicher Anständigkeit beschreibbar wäre. Nadjeschda, die erst nach einer geraumen Zeit und dann auch noch im Rahmen heiratsvermittlerischer Aktivitäten der Hausmeisterwitwe in Samsung Heim auftritt, ist ganz anders: Sie verkörpert jenen zukunftsoptimistischen Sowjetbürger, der sich ebenso entschlossen wie naiv in den Dienst der Sache stellt. Nadjeschda, obschon im Titel genannt, bleibt recht blass und passiv, was ein wenig schade ist.

Die Lage ist aber während der gesamten Handlung begleitet von dem Eindruck einer nahen Bedrohung. Immer wieder ist von den Weißen und ihren Generälen die Rede, es gibt Aufstände, an deren Niederschlagung auch die Miliz teilnehmen soll. Militär und Polizei sind ohnehin eng miteinander verwoben, oft begleiten Rotarmisten Samson bei seinen Ermittlungen, umgekehrt muss er an nächtlichen Patrouillen teilnehmen.

Der Protagonist bleibt von einem Kampfeinsatz verschont, angesichts der Erbarmungslosigkeit, die im Buch nur genannt, nicht explizit beschrieben wird, für Samson ein ein großes Glück. Brutal geht es aber auch in den Straßen Kyjiws zu, als Gefangene aus den Kellern des Polizeigebäudes ausbrechen. Ein Toter liegt lange auf der Fahrbahn vor dem Gebäude des Miliz; Samson wird von seinem Kollegen davon abgehalten, einem Fliehenden in den Rücken zu schießen.

Samson, den Nagant im Anschlag, versuchte schnell zu entscheiden, in welchen der sich entfernenden Rücken er schießen sollte. »Lass das«, hielt ihn Wassyl auf. »Was bringt dir das?«

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Unterdessen entwickelt sich tatsächlich ein Kriminalfall, eng verwoben mit dem politischen Durcheinander. Ohne die nötige Schulung, gar nicht zu reden von Ausrüstung und Erfahrung, macht Samson sich daran, den Mörder eines seiner Kollegen aufzuspüren. Dabei nutzt der findige Ermittler-Frischling aber auf intelligente Weise seine bzw. Nadjeschdas Möglichkeiten, die im statistischen Büro arbeitet und an einem Zensus beteiligt war – ein Ansatz für Samson, seinen Fall voranzubringen, der auf eine Weise schön aufgelöst wird.

Samson und Nadjeschda ist kein klassischer Krimi, wie deutlich geworden sein dürfte. Die Ermittler-Tätigkeit des Helden ist einem Zufall geschuldet, von dem Versuch, sich zu orientieren, in der aus den Fugen geratenen Welt einen Platz zu finden und anständig zu bleiben. Eigentlich ist das zum Scheitern verurteilt und man darf gespannt sein, wie lange es Kurkow gelingt, seinen Helden unbescholten durch das blutige Chaos zu lavieren.

Ach, ja: das Ohr. Samson bewahrt sein Ohr auf, denn es leistet ihm als abgetrennter Körper weiterhin gute Dienste, weil es ihn hören lässt, was im Umfeld des alleinstehenden Organs geschieht. Eine skurrile, alle Realitäten verspottende Idee, die aber gerade im Rahmen des sowjetischen Realismus einen gehörigen Charme hat. Möglicherweise ist das Ohr Kurkows zwinkerndes Auge in Bezug auf die historische Bodenständigkeit seines Romans.

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda
aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing
Diognes 2022
Hardcover Leinen 368 Seiten
ISBN: 978-3-257-07207-5

Volker Ulrich: Deutschland 1923

Die Inflation aus dem Jahr 1923 hat bei der deutschen Bevölkerung Spuren hinterlassen, bis heute. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Geschichte hält sich nicht an Jahreszahlen und Kalender. Politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen reichen in beide Richtungen darüber hinaus. Entsprechend ist es ein sinnvoller Ansatz, ein Buch über das Jahr 1923 nicht auf dasselbige zu beschränken, sondern die Wurzeln der katastrophalen Entwicklung und deren Folgen aufzuzeigen.

Man kann sich auch streng auf jene 365 Tage beschränken und nur in einzelnen Fällen vorgreifen oder zurückgehen. So ist Jutta Hoffritz mit ihrem Buch Totentanz vorgegangen. Durch die Fokussierung auf das Erleben der von ihr ausgewählten Persönlichkeiten erhält die Erzählung eine ganz besondere Nähe und Unmittelbarkeit. Dabei bleiben allerdings viele Dinge auf der Strecke, etwa die Erklärung, warum Deutschland 1923 von einer Hyperinflation heimgesucht wurde.

Der Ansatz, den Volker Ulrich in Deutschland 1923 wählt, erklärt mehr, indem er die Ursachen ergründet und aufzeigt. Die gewaltige Geldentwertung hätte Anfang 1923 vielleicht noch eingedämmt werden können, doch war sie zu diesem Zeitpunkt schon ordentlich in Schwung. Die Ursachen reichen zurück in den Ersten Weltkrieg, der auf Pump finanziert wurde: Die Kosten würden die Verlierer bezahlen, so dachte man auf allen Seiten; natürlich ging man deutscherseits davon aus, dass die anderen verlieren würden.

Statt dicker Kriegsgewinne gab es 1918 Gebietsverluste, Aufstände, Putschversuche, Separatisten, die Notwendigkeit, immense Sozialleistungen aufzulegen und gewaltige finanzielle Reparationsbelastungen. Aus diesem verhängnisvollen Zustand hätte nur eine starke Reichsregierung im Verein mit nachgiebigen Siegerstaaten herausgefunden – stattdessen eskalierte der Reparationsstreit, Frankreich und Belgien besetzten das Ruhrgebiet.

Als Harry Graf Kessler im August 1922 durch Nordfrankreich reiste, war er erschüttert über das Bild, das sich ihm vier Jahre nach Kriegsende immer noch bot.

›Große, unkultivierte Flächen, die von blühendem Unkraut überwachsen sind, und auch zwischen bestellten Feldern auffallend viele unbestellte. Zerschossene Häuser, eingestürzte Dächer, kleine Barackendörfer, neue Landhäuschen von trostloser Scheußlichkeit. St. Quentin ist nicht vollständig zerstört, wie man gesagt hat, doch die Bahnhofsstraße und viele Häuser sind noch immer nach vier Jahren Trümmerhaufen. Und die Kathedrale thront fensterlos mit einem Wellblechschutzdach als erhabene, weithin sichtbare Ruine über der zerschossenen Stadt.‹«

Volker Ulrich: Deutschland 1923

Dieses Faktum wurde nicht nur von der deutschen Regierung geflissentlich ignoriert, man darf sich getrost die Frage stellen, wer sich im Deutschen Reich zu dieser Zeit überhaupt Gedanken gemacht hat, was der Krieg in Frankreich und Belgien hinterließ. Und wer sich dazu offen und öffentlich äußerte. Auch in der Geschichtsschreibung bleibt oft randständig, dass es für Reparationen trotz aller problematischen Punkt im Vertrag von Versailles sehr gute Gründe gab.

Die höchst problematisch agierende Regierung Cuno verfolgte ein Programm, das in den Abgrund führte, auch wenn es anfangs zu einer kurzlebigen inneren Einheit führte. Sie ignorierte den dringend gebotenen Rat, einen Kampf nur zu dann zu fechten, wenn die Aussicht auf Sieg steht – Frankreich und Belgien saßen am längeren Hebel, hatten Verantwortliche, die das Reich gern nachhaltig geschwächt sahen und – nicht zu vergessen – angesichts der immensen Zerstörungen in ihren Ländern sachliche Gründe, auf Reparationen zu bestehen.

Es ist immens spannend zu verfolgen, wie sich die Dinge im Reich entwickelten, wie zentrale Figuren handelten und aus welchen Gründen sie das taten. Volker Ulrich verfolgt in seinem Buch sehr genau die politischen Entscheidungsprozesse, die zu dem Desaster führten. Man schaudert, wie nahe das Reich dem Abgrund tatsächlich gekommen ist. Ein totaler Zusammenbruch, kriegerische Handlungen mit Frankreich, Separatstaaten, kommunistische und / oder rechtsradikale Umstürze – alles lag in Reichweite.

Rückblickend kann man leicht in die Versuchung geraten, zu glauben, dass das alles besser gewesen wäre, als das finstere Tal, das die Welt zwischen 1933 und 1945 durchschritten hat, doch würde es zu kurz greifen, der Katastrophe von 1923 zu attestieren, sie führte unausweichlich zu Hitlers Machtergreifung. Hitler hätte auch nach 1930 noch verhindert werden können, etwas wenn die Demokraten wehrhafter und Thälmanns Kommunisten nicht beinhart stalinhörig gewesen wären.

»Noch im Dezember 1923 hätte ein politischer Beobachter für den Bestand der Weimarer Republik keine fünf Rentenmark gegeben.«
Arthur Rosenberg.

Volker Ulrich: Deutschland 1923

Trotzdem war die Hinterlassenschaft von 1923 eine schwere Bürde für die Weimarer Republik ganz unabhängig von den massenpsychologischen Aspekten. Ein oft eher stiefmütterlich behandelter Aspekt ist, dass man sich in den Parteien der Mitte und SPD Illusionen hingab, die eine konstruktive, langfristige Politik verhinderten. Stattdessen wurden parteipolitische Spielchen gespielt, die 1924 prompt zu beträchtlichen Verlusten bei den Wahlen führten – und zu einem Erstarken der antidemokratischen Kräfte.

Der zweite, wichtige Punkt, den Volker Ulrich gern noch etwas prägnanter hätte nennen können, sind die Präzedenzfälle, die 1923 geschaffen wurden; die Reichsexekution gegen Sachsen und Thüringen etwa bildeten die Blaupause für den verheerenden Preußenschlag 1932. Wunderbar deutlich wird hingegen, wie verhängnisvoll die Stellung der Reichswehr, ihre angebliche Neutralität, die eine immense Rechtslastigkeit aufwies, war. Übertroffen wurde dieser Webfehler nur von der absurd rechtslastigen Justiz, die am Ende der Weimarer Republik nicht umsonst ein Hort der Hakenkreuzler war.

Ulrich widmet der Kunst, Literatur, Architektur und Technologie (Radio) auch einigen Raum, was ein wenig wirkt, als säßen diese Passagen im Notsitz des Buches. Es gibt natürlich Verbindungen zu dem politisch-wirtschaftlichen Geschehen des Jahres 1923,  auch sind die Entwicklungen wirklich spannend, doch fehlt ein wenig die innere Anbindung an den Rest des Buches. Doch das ist angesichts der großen Qualität von Deutschland 1923 zu verschmerzen, denn Volker Ulrich hat ein hervorragendes Buch über das Horrorjahr verfasst.

Volker Ulrich: Deutschland 1923
C.H. Beck 2022
Hardcover 441 Seiten
ISBN: 978-3-406-79103-1

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Ein epochemachendes Werk, zentral für alle, die Geschichte und Gegenwart verstehen wollen. Cover DVA. Bild mit Canva erstellt.

Allein die Herangehensweise spricht für eine nachdrückliche Lektüreempfehlung dieses umfangreichen Buches namens Die Schlafwandler. Der Historiker Christopher Clark untersucht den Weg in den Ersten Weltkrieg, die Urkatastrophe, die am Anfang von Europas Selbstvernichtung stand. Sein Ansatzpunkt ist dabei hochinteressant und – wie es sich über ein Werk dieser Art gehört – umstritten. Aus meiner Sicht hat es epochalen Charakter.

Die Kriegsschuld, die im Versailler Vertrag und von vielen Historikern dem Deutschen Kaiserreich zugesprochen worden ist, darf wie ein bequemes Sofa betrachtet werden. Die Siegermächte entband es von der Notwendigkeit, die eigenen Anteile an dem Desaster kritisch zu beleuchten – man hatte ja einen Verursacher. Aber auch für interessierte Kreise auf Seiten der Deutschen war diese Zuschreibung vorteilhaft, eignete sie sich vortrefflich für antidemokratische und nationalistische Propaganda.

Nach 1945 haben viele deutsche Historiker unter dem Eindruck des Zivilisationsbruchs nur zu gern die schlichte Lösung des angeblich geplanten, provozierten Krieges im Rahmen einer Strategie, die als »Griff nach der Weltmacht« bezeichnet wurde, aufgegriffen und mit Klauen und Zähnen verteidigt; im Kern eine absurde, wenn auch verständliche Rückschau durch die Brille des nationalsozialistischen Weltanschauungs- und Angriffskrieges.

Alles fing mit einem Kommando von Selbstmordattentätern und einem Autokorso an.

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Christopher Clark geht einen anderen, meines Erachtens seriöseren Weg, und lässt die »Kriegsschuld« außen vor. Stattdessen konzentriert er sich auf die politischen Verhältnisse, Strömungen und Optionen, die den handelnden Personen in der Julikrise zur Verfügung standen und zeigt minutiös auf, wer, wann, wie und vor welchem Hintergrund handelt.

Frappierend, wie sehr die angeblich so sachliche und nüchterne Historiographie Ideologien und Denkmuster widerspiegelt. Clark verweist ganz am Ende seines Buches darauf, wie schnell und umfänglich Serbien als wesentlicher Akteur aus dem Denken der Verantwortlichen verschwunden ist – und auch aus den Werken der Geschichtsschreiber, die sich – wie Franzosen, Russen und Engländer damals – auf Deutschland fokussierten.

Die Schlafwandler nimmt sich eines extrem komplexen Vorganges an, der Jahre vor 1914 seine Wurzeln hat – eben auch dort, wohin bislang kein Scheinwerfer der Historiographie leuchtete. Allein für Clarks ausführliche Darstellung des serbischen Wegs in das Desaster gebührt dem Autor große Anerkennung, die Schilderung des irredentistischen Königsmörder-Flügels unter den Verantwortlichen, rückt einiges ins Licht.

Serbien  wird aus der Bedeutungslosigkeit herausgeholt, zugleich aber der Selbststilisierung als reines Opfer entkleidet und – dankenswerterweise – nüchtern in seiner inneren Entwicklung betrachtet.

Das Opfer war ein zentrales Motiv, fast schon ein Wahn.

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Auch der geschulte Leser fühlt sich wie auf einer Entdeckungsreise in eine unbekanntes, nicht kartographiertes Land. Was da aus der Dunkelheit an Licht kommt, lässt im Jahr 2022 schaudern. Die serbischen Stimmen, die vor 1914 von einem Großserbien schwadronierten, lassen die Äußerungen über die Ukraine, die aus Putins Reich kommen, wie ein spätes, gefährliches Echo klingen.

Durch die Beschäftigung mit Serbien wird erst klar, wie sehr die Entente-Mächte dem fünften Großmacht-Rad am europäischen Wagen, Österreich-Ungarn, alle Rechte absprachen, die sie für sich in Anspruch nahmen; ja, auch ohne triftigen Grund für sich beanspruchten. Österreich-Ungarn galt 1914 als verfallender Staat, der zwangsläufig verschwinden würde (wie auch das Osmanische Reich). Auch mit dieser Annahme räumt Clark auf.

Es nimmt sich schon kurios aus, wie sehr Russland wirtschaftlich und militärisch überschätzt und hinsichtlich der internen Schwächen unterschätzt wurde – niemand hätte 1914 eine Wette darauf gewagt, dass der Riese im Osten drei Jahre später kollabieren würde. Umgekehrt ist es eben auch fraglich, ob Österreich-Ungarn nicht hätte eine innere Reform durchführen und sich stabilisieren können.

Das Todesurteil für das Habsburgerreich wurde noch durch eine rosarote Sichtweise Serbiens als Nation der Freiheitskämpfer bekräftigt, denen die Zukunft gehörte.

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Geschichte wiederholt sich (nicht). Die ewige Frage würde ich – nicht nur in diesem Fall – mit dem Begriff des historischen Echos versehen – leicht verzerrt, doch in seinem Kern gleich und zusammengenommen ähnlich.  Serbien ist keineswegs nur die Zündflamme des Flächenbrandes namens Erster Weltkrieg gewesen, sondern handelnder und über seine wirkliche Bedeutung hinausreichender Akteur des Desasters gewesen.

Vielleicht musste ein Historiker wie Christopher Clark kommen, den es aus der australischen Ferne nach Europa verschlagen hat, wo er den gewohnten Blick auf den Weg in den verheerenden Ersten Weltkrieg geschärft und viele bequeme Gewohnheiten über den Haufen geworden hat. Clark schaut genauer hin und schildert die Vorgänge und mögliche Alternativen auf sehr vielen Ebenen.

So wird die Bedeutung des Balkans, seiner kleinen, streit- und kriegslustigen Staaten, allen voran Serbiens, aber auch Italiens, das mit seinem ebenso aggressiven wie vergessenen Krieg 1912 verhängnisvollen Entwicklungen den Weg bereitete, der nötige Raum gegeben. Die politischen Entscheidungsfindungsprozesse in den Staaten, ihre Machtgruppen und einander bekämpfenden Gruppen, werden aufgezeigt, die Bedeutung der Monarchen, der Presse und gesellschaftlicher Verbände beleuchtet.

Es ist ein lohnenswerter, verschlungener, vielfach gewundener Weg, den der Leser beschreitet. Im Verlauf wird ihm klar, wie kurios der Begriff der »Schuld« ist, der den Blick auf die wesentlichen Aspekte verstellt. Etwa die ungeheuer aggressive Politik russischer Kreise, die Deutschenfeindlichkeit mächtiger Gruppen in England und Frankreich. Das Buch ist wie eine Impfung, die Neigung, dort eine »Mitschuld« zu verorten, verfliegt und macht der sehr viel wichtigeren Frage Platz: Wie hätte sich das Debakel verhindern lassen?

Mir haben mehrere Aspekte ganz besonders gefallen. Zum einen Clarks Blick auf die Kommunikation zwischen den Machtgruppen und Staaten, insbesondere die Einbettung des Überlieferten in eine Analyse von deren tatsächlicher Wirkung. Zum zweiten die Frage, ob und wann es hätte wie anders kommen können – Die Schlafwandler bricht grundsätzlich mit der Neigung, den Ersten Weltkrieg als zwangsläufigen Endpunkt einer unveränderlichen Entwicklung zu betrachten.

Sehr bemerkenswert ist aber drittens die Feststellung, dass die handelnden Akteure auf allen Seiten wenig über die Intentionen der anderen wussten, mit einer geringen Zuversicht bezüglich der Verlässlichkeit der anderen, selbst innerhalb der Bündnisblöcke ausgestattet waren und die daraus resultierende Instabilität durch die wechselnden Machtverhältnisse innerhalb der jeweiligen Exekutiven verschärft wurde.

Die Österreicher glichen Igeln, die ohne nach rechts oder links zu schauen, über eine Autobahn trippeln.

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Die Voraussetzungen für eine mögliche Abwendung des Ersten Weltkrieges waren also nicht besonders gut, aber nicht, weil sich etwa zwei in sich geschlossene Blöcke gegenüberstanden, sondern auch wegen der Unsicherheit innerhalb der Blöcke. Clark hat das beim Blick auf die Julikrise 1914 herausgestrichen, was aus meiner Sicht weit über das historische Ereignis hinausragt und den Blick auf aktuelle politische Entwicklungen schärfen sollte. Aus Die Schlafwandler lässt sich vortrefflich lernen.

Die Vereinfachung komplexer historischer Entwicklungen hat für die Gegenwart verheerende Konsequenzen. Sie erklärt nämlich beispielsweise die nachgerade absurde Ignoranz der deutschen auswärtigen Politik im 21. Jahrhundert gegenüber der Ukraine, den baltischen Staaten, Polen und Belarus und alleinige Fokussierung auf Russland – wohlgemerkt aus Gründen der »historischen Verantwortung«. Als ob die Nazis nur in Russland gewütet hätten.

Die Schlafwandler ist eben auch eine Plädoyer dafür, komplex zu denken, wenn es um komplexe Entwicklungen geht, und Misstrauen gegenüber einfachen Antworten zu entwickeln. Die medial allzu häufig zu Wort kommenden Schlichtgestalten mit ihren einfältigen Schuldzuschreibungen (!) sind nichts weiter als ein erbärmliches Echo bequemer, eindimensionaler Weltsichten, Vertreter einer Art historisch-politischen Autismus’.

Christopher Clark: Die Schlafwandler
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz
DVA 2013
Hardcover, 896 Seiten
ISBN: 978-3-421-04359-7

© 2023 Alexander Preuße

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