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Göttinger Literaturherbst 2023 – Nachlese

Fünf Bücher kann ich ohne Bedenken empfehlen, eines interessiert mich nicht und eines war eine Enttäuschung. Ein wenig Festspielatmosphäre, tolle Veranstaltungsorte, gute Lesungen mit interessanten Autoren und überwiegend guten Gesprächspartnern.

Der Applaus klingt noch im Ohr: Gerade erst habe ich die Veranstaltung mit Bonnie Garmus verlassen, die mit ihrem Roman Eine Frage der Chemie einen Bestseller gelandet hat. Das Buch kenne ich nicht und werde es auch nicht lesen, mich hat vor allem interessiert, wie eine Lesung verläuft, wie die Kommunikation funktioniert, Moderatorin und Vorleserin ihre Aufgabe lösen und das Publikum reagiert. Das war sehr aufschlussreich.

Ich bin zu insgesamt acht Veranstaltungen gegangen, was den Festival-Charakter des Göttinger Literaturherbst in Spurenelementen erlebbar machte. Das gilt besonders für den Freitagabend vorletzte Woche, als ich zunächst Daniel Kehlmann für Lichtspiel und direkt im Anschluss Andrej Kurkow mit Samson und das gestohlene Herz erleben durfte. Zwei Lesungen direkt nacheinander – geht das? Ja, ganz prima sogar.

Zweimal bin ich unvorbereitet zu einer Lesung aufgebrochen, im Falle von Ralf Rothmann an seinem Buch Die Therorie des Regens durchaus interessiert, was sich nach der Lesung jedoch erledigt hatte. Einen Roman werde ich von dem Autor sicher lesen, Im Frühling sterben steht schon im Regal bereit. Die Lesung war dennoch alles andere als eine Enttäuschung, Gespräch und Vortrag haben unterhalten, es gab kluge Fragen seitens des Gesprächspartners und aus dem Publikum.

Das ist ein gutes Stichwort, denn bei der Lesung von Andrej Kurkow wirkte der Gesprächspartner – nun, sagen wir: indisponiert. Das Gespräch versandete im Nebel des Ungewissen – glücklicherweise hatte das Publikum Fragen, die wie ein kommunikativer Rettungsring wirkten. Die Nachfragen erlaubten dem sehr sympathischen und gut Deutsch sprechenden Autor viel zu erzählen – auch zu anderen Romanen, von denen ich mir gleich einen gekauft habe. Graue Bienen, die wenigen Worte, die Kurkow darüber verloren hat, klangen sehr interessant.

Leichtigkeit heißt nicht oberflächlich

Leichtigkeit prägen Kurkows Samson-Romane wie auch Kehlmanns Lichtspiel, in Steffen Schroeders Planck – oder wie das Licht seine Leichtigkeit verlor, ist das Wort sogar Teil des Titels. Ganz besonders trifft es auch auf den Roman Aufklärung von Angela Steidele zu, wenngleich der Titel auf sperrige Kost schließen lässt. Mehrfach wurde thematisiert, wie die Schriftsteller ganz planmäßig versucht haben, die Lesbarkeit durch Elemente der Leichtigkeit zu erhöhen.

Aber Leichtigkeit ist nicht mit oberflächlich zu verwechseln! Leider habe ich bei mehreren Besprechungen und Rückmeldungen zu einigen Romanen schon merken müssen, dass zu leichtfertig, vielleicht auch zu flüchtig gelesen wurde. Das ist schade, denn die Leichtigkeit gibt dem Leser den nötigen Raum, um über die schweren Dinge der Handlung nachzudenken – das gilt für dieses Quartett, das ich nachdrücklich zur Lektüre empfehlen möchte.

Das gilt auch für den Brocken von einem Buch namens Der Frühling der Revolution von Christopher Clark. Der Historiker beleuchtet die Revolution von 1848/49 aus einer gesamteuropäischen Sicht, was eine Menge neuer Sichtweisen und Erkenntnisse öffnet, darunter einige hochspannende, die Revolutionsträumer wie eine kalte Dusche ernüchtern sollte. Sklavenbefreiung – eine gute Sache, aber mehr als ein Teufel steckt im Detail, zum Beispiel, wenn die Sklavenhalter gar keine Weißen sind, sondern Schwarze bzw. Angehörige einer Mischbevölkerung.

Eine Enttäuschung gab es auch: Felicitas Moklers Vortrag über das hochspannende Thema Kosmologie schöpfte wie ihr Buch nicht aus, was möglich wäre. Kurioserweise fehlt es an sprachlicher Präzision, didaktisch ansprechender Struktur und thematischer Verflechtung. Ich lese ihr Buch trotzdem, denn für meine Intention ist es durchaus geeignet: Ausloten, wo die Grenzen meines Verstehens sind.

Alles in allem bin ich sehr zufrieden und hoffe auf ein ähnlich gutes Programm im kommenden Jahr.

Göttinger Literaturherbst 2023

Meine glorreichen Sieben – das sind die Veranstaltungen des Göttinger Literaturherbstes 2023, auf die ich mich am meisten freue. Das Programm ist in diesem Jahr großartig, vielleicht schaue ich mir noch die eine oder andere Sache zusätzlich an, denn – von der ewig-hässlichen Stadthalle (brrr) einmal abgesehen – gibt es viele sehr schöne, atmosphärische Veranstaltungsräume.

Heute beginnt für mich der Göttinger Literaturherbst 2023 mit einer zweifellos großartigen Veranstaltung: Der Historiker Christopher Clark spricht über die Revolution von 1848/49 in Europa – womit das Thema aus seinen nationalen Brutkästen geholt wird. Clark hat ein voluminöses Buch zu dem Thema verfasst, das Frühling der Revolution betitelt ist. Wie in seinen berühmten und diskutierten Die Schlafwandler wird der Leser mit neuen Perspektiven konfrontiert, los geht es mit der Revolution in – nein, nicht Paris – Palermo (nach einem Vorspiel in der Schweiz).

Es ist das einzige historische Sachbuch meines persönlichen Programms, das – wie man sieht – vier Romane, ein historisches und ein naturwissenschaftliches Sachbuch sowie ein Kompendium mit einem sehr persönlichen Zugang zum Thema Schreiben umfasst.

Thematisch geht es historisch-politisch zu. Aufklärung von Angela Steidele ist zum Glück kein Buch über die Abgründe des Sexualkundeunterrichts, sondern führt den Leser ins 18. Jahrhundert, ein Historischer Roman, auf den ich mich sehr freue (danke noch einmal an Marius Müller von Buch-Haltung für die schöne Besprechung).

Andrej Kurkow lässt seine Helden Samson und Nadjeschda durch die blutigen Wirren des »Bürgerkriegs« im Gefolge des Ersten Weltkrieges in Kyjiw (Kiew), Ukraine, taumeln. Dabei ist es ihm in seinem ersten Teil gelungen, die Gewalt anklingen zu lassen, ohne in Voyeurismus zu verfallen; stattdessen wählt er einen plüschigen Ton, was die Ereignisse nicht weniger grausam, aber erträglicher gestaltet. Auf den zweiten Teil bin ich sehr gespannt – den werde ich allerdings erst im Anschluss lesen können.

Der Roman Lichtspiel von Daniel Kehlmann lässt den Leser am bewegten Leben des Regisseurs W.G. Pabst und zahlreichen anderen Zeitgenossen teilhaben. Schon das erste Viertel des Romans zeigt, was Kehlmann gelungen ist: Er hat eine leicht lesbare (laut Wolfgang Herrndorf eine unterschätzte literarische Qualität) und wirksame sowie angemessene Erzählform gefunden, ohne ins Seichte abzugleiten. 

Das lässt sich auch über Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor von Steffen Schroeder sagen, der den Leser in die Zeit führt, zu der das Hitlerreich in den Todeskampf eintrat und sich seine Monstrosität nach dem gescheiterten Attentat Stauffenbergs nur noch durch einen Sieg der alliierten Truppen beenden ließ. Plancks Sohn ist ihm Mahlwerk der Gestapo und SS gefangen, der Tonfall der Erzählung bleibt dabei in einer gewissen Weise lakonisch, sarkastisch, boshaft-heiter.

Bei Lichtspiel und Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor wird ganz nebenbei immer auch deutlich, was Deutschland bzw. die deutschsprachige Welt der 1920er Jahre verloren hat, als das braune Pack die Macht übertragen bekam. Ich weigere mich jedoch, diese Romane als »wichtig« zu bezeichnen, weil sie »uns« etwas für unsere eigene Zeit zu sagen hätten oder eine Warnung bereithielten. »Wir« haben »uns« noch nie davon beeindrucken lassen.

Ralf Rothmann hat mit seiner Theorie des Regens ein Kompendium seiner Notizen aus vielen Jahrzehnten zusammengestellt. Hier werde ich ganz ohne vorherige Lektüre an der Veranstaltung teilnehmen, von Rothmann habe ich noch kein einziges Wort gelesen. Ich bin voller Neugier, auf das Gespräch und darauf, wie es ist, völlig unbedarft zuzuhören.

Schließlich noch eine Form des wissenschaftlichen Eskapismus. Felicitas Mokler hat ein Buch veröffentlich, dessen Titel für sich selbst spricht: Die Evolution des Universums: Vom Urknall bis in die Ewigkeit. Als alter Science Fiction-Leser und Teleskop-Sternegucker (es ist kalt in klaren Herbst- und Winternächten) lasse ich mich gern auf den neuesten Stand der Kosmologie bringen. Wobei – verstehen werde ich sicherlich nicht alles, doch darum geht es gar nicht. Die eigenen Grenzen des Verständnisses kennenzulernen, ist meines Erachtens oft genauso wertvoll, wie das Verstehen selbst.

Marie Benedict: Die einzige Frau im Raum

Hedy Lamarr, geborene Kiesler, ist eine faszinierende Person, deren Spuren die amerikanische Schiftstellerin in ihrem Roman folgt. Cover KiWi, Bild mit Canva erstellt.

Hedy Lamarr ist eine faszinierende Persönlichkeit. Schönheit und hohe Intelligenz, ein bewegtes Leben voller Brüche, Rückschläge und Erfolge, umflort von Tragik – es gibt eine Reihe von Gründen, sie aus dem Schatten treten zu lassen. Vor Jahren habe ich einmal eine Dokumentation gesehen, die den sehr treffenden Titel »Geniale Göttin« trug; entsprechend gespannt war ich darauf, wie die Schriftstellerin Marie Benedict versucht, sich ihr zu nähern.

Der Roman Die einzige Frau im Raum stellte die solitäre Erscheinung Hedy Kieslers, wie die Protagonisten bürgerlich hieß, schön heraus. Als die Handlung einsetzt, ist Hedy Schauspielerin und verkörpert auf der Bühne Elisabeth von Österreich, Sissy. Sie hat bereits einen skandalumwitterten Film (»Ekstase«) gedreht, die Nacktszenen darin werden für Hedy zu einem Problem.

Zunächst erzählt der Roman, wie die schöne, kluge und selbstbewusste Hedy in die Ehe mit einem mächtigen Verehrer hineingerät, der sie mit Übermaß umwirbt und den Eindruck erweckt, er würde sie als Person, ihre Eigenständigkeit respektieren. Ein folgenschwerer Irrtum, wie sich herausstellt, denn die Ehe erweist sich als Falle.

Etwas bemüht wirkt, dass die Heirat auch eine Art Schutzschild gegen mögliche Repressalien sein soll, vor denen sich Hedys Familie wegen ihrer jüdischen Herkunft fürchtet. Das ist durchaus schade, denn gerade die historisch-politischen Hintergründe, mit denen das Leben der Protagonistin wegen der rührigen Tätigkeiten ihres Mannes (Waffenhändler, Mussolini-Vertrauter) verwoben ist, sind sehr interessant.

Richtig in Fahrt kommt Die einzige Frau im Raum, als Hedy in den USA ankommt und ihre Karriere als Schauspielerin fortsetzt. Die Erfahrungen, die sie macht, wirken einerseits wie ein anachronistisches Echo auf MeToo, andererseits entlarven sie die völlige Missachtung von Frauen ihres Formats außerhalb ihres Erscheinungsbildes. Das vorletzte Kapitel lässt wohl jeden Leser mit einer gewissen Fassungslosigkeit zurück.

Kritisch ist allerdings die Wahl der Perspektive, denn trotz der Ich-Erzählhaltung bleibt das Buch recht distanziert. Dagegen ist grundsätzlich überhaupt nichts einzuwenden, wenn eine passende Erzählform gewählt wird; so entsteht gerade im ersten Teil manchmal Eindruck einer formel- und phrasenhaften Oberflächlichkeit. Es ist eine Sache, die Hauptperson von sich behaupten zu lassen, sie wäre stark, eigenständig und klug, eine ganz andere, es zu zeigen – wie es im zweiten Teil auch geschieht.

Trotz dieses Mankos ist Die einzige Frau im Raum lesenswert, wann hat schon eine Film-Diva eine Hochleistungs-Waffentechnologie entwickelt und gleichzeitig die bornierte Engstirnigkeit einer von Männern dominierten Welt entlarvt?

[Rezensionsexemplar]

Marie Benedict: Die einzige Frau im Raum
Aus dem Englischen von Marieke Heimburger
KiWi-Paperback 2023
Paperback 304 Seiten
ISBN: 978-3-462-00492-2

Uwe Wittstock: Februar 33

Ein großartiges Buch über den Februar 1933 mit dem Schwerpunkt auf Deutschlands Schriftsteller. Nicht alle mussten fliehen, für manche bedeutete die Nazizeit einen Karrieresprung. Foto: Canva. Cover: C.H. Beck

Frappierend, wie ähnlich die Gegenwart der in diesem Buch geschilderten Vergangenheit scheint. Wenn etwa von den Zuständen in der Preußischen Dichterakademie die Rede ist, der Heinrich Mann vorsitzt, glaubt man das aktuelle Zeitgeschehen zu spüren. Die ideologische Spaltung geht wie ein Riss durch die Gesellschaft und spiegelt sich in den unversöhnlichen Lagern der Akademie.

Natürlich ist die Lage heute anders. Nicht unbedingt besser, denn die so genannten Sozialen Medien verschärfen die Situation, sie sind digitale Katalysatoren der Spaltung. Ihr Geschäftsmodell basiert auf der Emotion, denn die weckt Aufmerksamkeit, jenen Rohstoff, den sie benötigen, um Geld zu verdienen. Hass und Wut sind wunderbare Emotionen – in diesem Sinne, denn sie fördern einen unheilvollen Kreislauf, in dem sich die Kontrahenten gegenseitig aufschaukeln.

Insofern ist auch nur konsequent, dass die Unternehmen, sofern sie ihre Geschöpfe überhaupt noch beherrschen, jenen Schattengewächsen des Internets, den Trollen und Bots nicht wirklich Einhalt gebieten. Warum auch? Sie binden Aufmerksamkeit und verleiten dazu, Zeit auf der Plattform zu verbringen. Der Nebeneffekt: Ernsthafte, gelassene und gewinnbringende Diskurse sind fast unmöglich.

Wenn der Satz, Hitlers Verbrechen seien unvorstellbar, einen Sinn hat, dann gilt er zuallererst für seine Zeitgenossen.

Uwe Wittstock: Februar 33

Von der Spaltung profitierten die Nationalsozialisten, vor rund einem Jahrhundert unter fleißiger Mithilfe Stalins. Ausgerechnet, mag man denken, doch der Stalinismus ist einer der Steigbügelhalter des Aufstieg Hitlers zur Macht gewesen. Er hat den deutschen Kommunisten die Rolle der Totalverweigerung aufgezwungen, statt einer Frontbildung gegen die Nazis.

Als Wittstocks großartiges Buch einsetzt, liegt das Kind, die Weimarer Republik, bereits im Brunnen. Hindenburg, jene bis heute verharmloste reaktionäre Schreckensgestalt in der Politik, hat dem irrwitzigen Taktieren realitätsblinder Deutschnationaler um von Papen nachgegeben, und Hitler zum Reichskanzler ernannt.

Vermutlich gehört es zur Natur eines Zivilisationsbruchs, schwer vorstellbar zu sein.

Uwe Wittstock: Februar 33

Zu den großen Momenten des Buches zählt die Gegenüberstellung einer Hitler-Wahlkampfrede und Thomas Manns Vortrag über Wagner. Die Rede des frisch gekürten Reichskanzlers wird wunderbar seziert und als hohles, sprachlich groteskes Propagandagebell bloßgestellt, während Manns tiefe Zuneigung zu Wagners Werk nicht nur auf hohem Niveau herausgestellt und begründet wird, sondern gleichzeitg ein frontaler Angriff auf die völkische Wagnertümelei der Nazis ist.

Wittstock belässt es glücklicherweise nicht dabei, sondern stellt Manns eigene Widersprüchlichkeit klar heraus. Dessen schauderhafte Ansichten bis 1922, als er schließlich den Weg zur Demokratie fand und von seinem Überlegenheitsdünkel der deutschen Kultur abließ, zeigt er wie das immer noch begrenzte politische Verständnis des Großschriftstellers.

Besonders bedrückend ist das Gefühl der Ohnmacht und Orientierungslosigkeit, das viele der Protagonisten nach der Machtübertragung an Adolf Hitler befallen hat. Wie ein derartiges Ereignis die Lebensentwürfe, Planungen und Hoffnungen von einem Tag auf den anderen vernichten kann und was das konkret für die Menschen bedeutet, ist schwer erträglich.

Nur diesen Monat brauchte es, um einen Rechtsstaat in eine Gewaltherrschaft ohne Skrupel zu verwandeln. Das große Töten begann erst später.

Uwe Wittstock: Februar 33

Das gilt besonders für den letzten Abschnitt des Buches, wenn Wittstock sich den so genannten »wilden« Konzentrationslagern und Gefängnissen unter der Regie der SA widmet. Für diese Schreckensorte gab es keinerlei Regulierung, die Gefangenen wurden über Wochen fürchterlich misshandelt und hungerten zu Tode. Wir reden hier von Berlin im Jahr 1933, nicht den Bloodlands nach 1941.

Das Ungeheuerliche an diesen Zuständen ist, dass sie faktisch übergangslos nach dem Ende der Weimarer Republik begannen. Die unmenschliche Verrohung der SA war längst vollzogen, als zumindest nach außen hin noch ein Rechtsstaat existierte. Für viele war das jedoch nicht mehr als eine billige Kulisse, die in ungeheurer Geschwindigkeit niedergerissen wurde. Das Buch ließ mich zurück in der Hoffnung, dass der Staat, in dem ich lebe, mehr Widerstandskraft zu bieten hat.

Uwe Wittstock: Februar 33. Der Winter der Literatur.
C.H.Beck
Hardcover
288 Seiten
ISBN: 978-3-406-77693-9

Ursula Krechel: Landgericht

Die Rückkehr ins besiegte und befreite Deutschland nach 1945 gestaltet sich schwierig, nicht nur für den vertriebenen Juristen, sondern auch für seine Frau, die vor der Nazizeit ausgesprochen selbstständig war. Cover btb, Bild mit Canva erstellt.

Die Sprache sticht. Entweder ins Auge oder ins Ohr, je nachdem, ob man zum Buch oder Hörbuch greift. Ich habe mich für Letzteres entschieden. Landgericht klingt etwas sperrig, doch hat es nicht lange gedauert, bis mich der Roman für sich eingenommen hat, auch wenn Inhalt und Stil durchaus mit dem Titel harmonieren. Keine Komfortlektüre. 

Die Autorin Ursula Krechel hat eine Sprache gewählt, die zugleich distanziert und ganz besonders nah, unmittelbar, ja intim wirkt. Der Duktus mutete bisweilen kühl, juristisch, formal an, da er mit einer ungeheuer detaillierten Beobachtung einhergeht und zugleich außergewöhnlich präzise Bilder für die Schilderung nutzt, fühlt sich der Leser ganz dicht am Geschehen, am inneren wie äußeren. Diese Kombination sorgt für eine hohe Intensität.

Ich bin in einer Mitläuferfabrik gelandet.

Ursula Krechel: Landgericht

Die Themen machen wütend. Richard Kornitzer, promovierter Jurist, zu Zeiten der Weimarer Republik im Amt eines Richters, kehrt nach dem Krieg aus Cuba nach Deutschland zurück. Der nächste Satz wird schwierig, denn würde ich sagen, Kornitzer wäre Jude, entspräche das nicht der Wahrheit. Die Nazis und ihre antisemitische Vernichtungsideologie haben ihn zum Juden gemacht, obwohl er selbst keiner sein wollte und sogar Protestant geworden ist.

Das mag als kleines Detail erscheinen, ist es allerdings nicht. Die Zuweisung einer einzigen Identität für eine andere Person ist ein signifikantes Merkmal der großen totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts, nicht nur dem der Nazis. Auch in Stalins und Maos Reichen wurde so verfahren, immer mit dem Ziel, Menschen aus der Gesellschaft auszuschließen, ihrer Rechte zu berauben, einzusperren, zu quälen und zu töten.

Die Geschichte war ein Krater.

Ursula Krechel: Landgericht

Es gehört zu den großen Vorzügen dieses Romans, dass Krechel einen Protagonisten gewählt hat, der dem Vernichtungsapparat entkommen konnte und wieder zurückgekehrt ist. Diese Rückkehr nach Deutschland steht am Anfang des Romans, der Weg zu seiner Flucht aus dem so genannten »Dritten Reich« wird als Rückblick im Romanverlauf geschildert. Zunächst einmal geht es um die Ankunft in der ehemaligen Heimat.

Dort hat Kornitzers Frau Claire ausgeharrt. Sie ist aus der Sicht der Nazis “arisch”, durch ihre Heirat mit Kornitzer jedoch belastet, sodass sie keinen Organisationen beitreten kann, was Voraussetzung für ihre Berufsausübung wäre. Claire Kornitzer ist eine sehr moderne Frau, sie leitet eigenständig eine GmbH, ist erfolgreich, selbstständig, stark und dennoch dem Übel der Nazis  hilflos ausgeliefert, denn sie muss Firma und berufliche Tätigkeit aufgeben.

Nach dem Krieg und der Gründung eines demokratischen Deutschlands ändern sich manche Dinge nicht unmittelbar zum Guten. Die während der Weimarer Republik bereits erreichte Modernität war durch die gesellschaftliche Steinzeit im Hitlerregime so weit zurückgedreht worden, dass es lange Jahre dauern sollte, ehe der einmal verlorene Stand wieder erreicht wurde. Das ging ganz erheblich zu Lasten der Frauen. Krechel hat das in ein wunderbares Bild gefasst:

Es schmerzte sie, als wäre sie an einem anderen Zeitufer stehengeblieben und das Schiff wäre ohne sie abgefahren. Ja, hätte ihr den Zutritt verweigert, nur weil sie eine Frau war. Und was hieß nur? Die Frau eines Landgerichtsdirektors. Jetzt klang es in ihren Ohren wie Hohn.

Ursula Krechel: Landgericht

Die Kinder der Kornitzers, Georg und Selma, werden gerade noch rechtzeitig nach England geschickt und entgehen so einem schrecklichen Schicksal im Hitlerreich. Auf der Insel haben sie allerdings ebenfalls mit Widrigkeiten zu kämpfen, was den Roman übrigens brandaktuell macht, wenn etwa von “unbegleiteten Minderjährigen” die Rede ist, die aus Syrien, Afghanistan oder anderen Regionen nach Deutschland fliehen.

In seiner Heimat und sieht sich Kornitzer auf allen Ebenen Widrigkeiten ausgesetzt. Beruflich setzt ihm zum Beispiel die skandalöse Behandlung von Philipp Auerbach heftig zu, privat ist es ein extrem schwieriges Unterfangen, die Familie wieder unter einem Hut zu versammeln. Diese Dinge entwickelt Krechel in ihrem typischen Stil vor den Augen des Lesers, der mitgerissen werden kann, wenn er sich darauf einlässt.

Die »Stunde Null«, der »Neuanfang« ist eben geprägt von vielen Kontinuitäten, die rückwirkend ebenso verblüffen wie auch verstören. Vor allem der latente, unterschwellige oder auch offene Antisemitismus, das Fortdauern von NS-Ideologie und Denkweise in juristischen (und anderen) Bereichen des Staates und die Hilf- und Wehrlosigkeit der Opfer, insbesondere der Juden, sind eigentlich unfassbar.

Es rüttelte an seinem Rechtsempfinden wie eine eisige Sturmböe.

Ursula Krechel: Landgericht

Eine ganz besonders bedrückende Episode ist die so genannte »Irrfahrt der St. Louis«, ein Dampfer, der vollgestopft mit jüdischen Flüchtlingen aus dem Reich Cuba angelaufen hatte. Touristenvisa wurden plötzlich nicht mehr anerkannt, nur wenige der Notleidenden wurden von Bord gelassen, der Rest harrte auf dem Schiff zunächst zwischen Cuba und den USA, später von der Küste Kanadas aus, ehe die St. Louis wieder nach Deutschland zurückkehrte.

Dieser auch aus der Gegenwart sattsam bekannte Vorgang, der den Eindruck verstärkt, dass manche Dinge sich eben doch wiederholen, ist auch in anderen Werken behandelt worden. Der kubanische Autor Leonardo Padura hat ihn in seinem Roman Ketzer aufgegriffen und aus Sicht von Einwohnern Havannas geschildert. Für Kornitzer wird Cuba aber zum Rettungsanker, eine ihm sehr fremde Welt.

Tage, mit heißer Nadel aneinandergestichelt, sich gegenseitig überlappend. Ein Sandmückenschleier sirrt in der Luft über der dösenden Bucht. Klares, blaues Licht. Licht, von ruhiger Eindringlichkeit, das einen blass und bleich erscheinen ließ.

Ursula Krechel: Landgericht

Mir haben an dem Buch sehr viele Aspekte ganz besonders gefallen. Neben der eindringlichen Sprache vor allem die Vielschichtigkeit der angesprochenen Themen, die Rückblenden und kurzen Ausflüge in Seitenhandlungen, die zusammengenommen auf nachdrückliche Weise aufzeigen, wie die Opfer des NS-Regimes auf verlorenem Posten kämpften, als es darum ging, angemessen entschädigt und anerkannt zu werden. Der Krieg mochte 1945 beendet worden sein, sein verheerendes Wirken dauerte weit darüber hinaus an.

Ursula Krechel: Landgericht
btb 2014
Taschenbuch 512 Seiten
ISBN: 978-3-442-74649-1

Juli 2014

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