Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Faschismus (Seite 1 von 3)

Volker Kutscher: Lunapark

Berlin, 1934. Ein toter SA-Mann; Machtkampf zwischen SA und SS; »Röhm-Putsch«, es herrscht das Recht des Stärkeren. Mittendrin Gereon Rath, in einer selbst gestellten Falle. Aus diesem Gemenge kommt keiner unbeschädigt davon. Cover KiWi, Bild mit Canva erstellt.

Jenseits der Mitte des Romans hat Reinhard Heydrich seinen Auftritt und die Tonart der Erzählung ändert sich. Lunapark von Volker Kutscher rutscht wie die Gesellschaft des Deutschen Reiches 1934 und die Protagonisten immer tiefer hinein in die Dunkelheit eines zutiefst menschenverachtenden Regimes, das zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr so einfach aus dem Sattel zu heben war.

Kommissar Gereon Rath wirkt äußerlich und in seinen Handlungsmustern wie gewohnt, Extratouren ohne Rücksicht auf die Vorgesetzten, Kommunikation und Rapport werden sporadisch erledigt, hinter einer Nebelwand geht der Ermittler sehr eigene Wege, die keineswegs nur mit dem Fall zu tun haben. Seine politische Haltung irrlichtert unverändert zwischen Leichtfertigkeit und Ahnungslosigkeit. Doch etwas hat sich  grundlegend gewandelt.

Der Tote, der die Handlung in Gang bringt, ist ein SA-Mann; ein Mord, der allein deswegen schon über das hinausragt, was die Kriminalpolizei gewöhnlich zu bearbeiten hat. Doch in diesem Fall liegt der Tote zu Füßen eines Graffitis, das unverkennbar die Handschrift von Kommunisten trägt, denn es ruft zum Widerstand gegen das Nazi-Regime auf.

Gräf und all die anderen hier im Raum waren nicht an der Wahrheit interessiert, sondern nur daran, Kommunisten zu jagen.

Volker Kutscher: Lunapark

So treffen sich am Tatort Kripo und Gestapo – in Person von Gereon Rath und Reinhold Gräf, dem ehemaligen Kollegen, der dem Ruf der Politischen Polizei gefolgt ist und dort Karriere machen will. Rath hat in Märzgefallene bereits Bekanntschaft mit der Staatspolizei gemacht, wie der Leser weiß er um die Machenschaften dieser Behörde, deren Zuchtrute die Angst ist.

Heinrich Himmler hat den regimeinternen Machtkampf gegen Herrmann Göring gewonnen und damit begonnen, die Polizei unter seine Kontrolle zu bekommen; so wird aus der Politischen Polizei die Gestapo und so kommt Heydrich in Berlin zu seinem Auftritt. Der Leser weiß ja schon: 1934 ist das Jahr des so genannten »Röhm-Putsches«, in dessen Verlauf die SA-Führung brutal ermordet wird und unliebsame Zeitgenossen ebenfalls sterben müssen.

Kutscher hat es wieder geschafft, einen historischen Meilenstein äußerst geschickt in die Handlung einzuflechten, wie schon Preußenschlag, Reichstagsbrand und Bücherverbrennung, ohne dass der Roman zu einer drögen Geschichtsstunde verkommt; die Spannung führt den Leser am Gängelband. Der Kniff: Kutscher verwischt ebenso gekonnt wie radikal die gewohnten Grenzziehungen zwischen Recht und Unrecht, Gut und Böse.

»Rath fragte sich, wer noch alles an dieser katholisch-kommunistischen Verschwörung beteiligt sein mochte.«

Volker Kutscher: Lunapark

Lunapark geht dabei noch einen entscheidenden Schritt weiter als die vorangegangenen Teile der Romanreihe. Wer während des Lesens einmal innehält und versucht, die Handelnden, ihre Motive und Mittel nach moralischen Maßstäben zu ordnen, blickt auf ein unentwirrbares Knäuel; alles ist gründlich durcheinandergeraten. Der Versuch, nach dem Freund-Feind-Schema zu sortieren, verheddert sich hoffnungslos.

Für den notorischen Lavierer Rath immer schwerer wird, sein (Über-)Lebenskonzept erfolgreich weiterzuführen. Das liegt auch daran, dass die Hauptfigur eine unlautere Vergangenheit hat, die ihn in diesem Roman einholt, selbstverständlich eng verknüpft mit dem »Fall«, der so auch für ihn eine ganz persönliche Ebene bekommt, dazu eine lebensbedrohliche, denn der Kommissar findet sich in einer Zwickmühle wieder.

Rath antwortete mit dem schlampigen Hitlergruß, den er sich in den vergangenen Monaten angewöhnt hatte, und nuschelte sein »Heil!«

Volker Kutscher: Lunapark

Als wäre das nicht genug, geht es auch in der Familie Raths kompliziert zu: Adoptivsohn Fritze möchte zur HJ, was auf erbitterten Widerstand von Charlotte stößt, die unliebsame Bekanntschaft mit den Methoden der Nazis, namentlich der SA macht. Bruchlinien tun sich auf, das Lavieren mündet in handfesten Lügen, die üble Folgen zeitigen können. Die familiären Tischszenen sind sehr authentisch und lassen den Leser – bei allem Drama – oft schmunzeln.

Das Schmunzeln vergeht jedoch, als der Thrill seinem Scheitelpunkt entgegenstrebt. Nicht allein die haarsträubende Showdown-Szene ist dafür verantwortlich, sondern das, was dem folgt: Aus Bruchlinien werden handbreite Risse, familiär, beruflich und persönlich. Der sechste Band der Reihe entwickelt seine Protagonisten so weiter, dass der Leser gern sofort zum nächsten Teil greifen möchte – ein Vorzug, wenn man spät zur Party kommt und fast alle bereits erschienen sind.

Groß ist Lunapark aber wie die Vorgängerbände wegen der Atmosphäre. Die Bedrückung, das Ducken, heimliche Spucken, lautlos und ängstlich, während andere sich dem Regime andienen, machen einen großen Teil dessen aus, was den Leser unter Spannung setzt. 1934 ist es für fast alles zu spät, das Kind liegt im Brunnen, Recht ist nur noch das des Stärkeren; wie ein Endzeitroman warnt Lunapark auch vor dem, was (wieder) kommen könnte.

Vor allem ist Lunapark aber ein handfester Kriminalroman mit vielen überraschenden Wendungen, sehr spannenden Szenen und Schockmomenten, Spiel und Gegenspiel und Gegengegenspiel, in dem viele von gegensätzlichen Interessen getriebene Akteure in der Arena einer Millionenstadt gegeneinander antreten, über der jener Schatten immer tiefer wird, der für immer mit dem Begriff Nationalsozialismus verbunden ist.

Weitere von mir besprochene Romane der Buchreihe:
Die Akte Vaterland.
Märzgefallene.

Volker Kutscher: Lunapark
KiWi 2018
TB 560 Seiten
ISBN: 978-3-462-05161-2

Katrin Eigendorf: Putins Krieg

Ein beeindruckendes Buch über die ersten Monate des russländischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Der Blick zurück lohnt sich aus vielen Gründen. Cover S.Fischer-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Einer der großen Vorzüge dieses Buches liegt darin, dass vielfältige Mythen, die hierzulande von interessierten Kreisen mit bemerkenswert wirklichkeitsfremder Hartnäckigkeit gepflegt werden, zu Staub zerfallen. Möglich wird das dadurch, dass Autorin Katrin Eigendorf weiß, wovon sie spricht. Als erfahrene Korrespondentin und Russisch sprechende Journalistin, die 2015 begonnen hat, Ukrainisch zu lernen, kann sie dem angeblichen Sprachenstreit in der Ukraine rasch den Zahn ziehen. Es gibt ihn nicht, nur als scharfzähniges Gespenst der russischen Kreml-Propaganda.

Wer kennt sie nicht, jene Karten, die vorgeben, es gäbe eine Teilung in der Ukraine? Der Osten prorussisch und russischsprachig, der Westen prowestlich und ukrainischsprachig; leider wird oft genug der Kurzschluss gezogen, dass diejenigen, die sich als russischsprachig ansehen auch pro-russisch sind. Wer mit Kyjiw nicht einverstanden ist, empfindet noch lange keine Sehnsucht nach dem Kreml, gar nicht zu reden von einem Anschluss an Russland.

Diese Karte ist in vielerlei Hinsicht enorm problematisch. Sie suggeriert eine Wirklichkeit, die es so gar nicht gibt – über die reine Sprachfrage hinausgehend. Ein schönes Beispiel, dass Karten NIE etwas abbilden, sondern immer eine Haltung, ein Weltbild, eine Interpretation (oft Absicht) darstellen. Karte aus Christian Grataloup: Die Geschichte der Welt.

Die Wirklichkeit ist vielschichtiger, oft beherrschen die Menschen beide Sprachen und wechseln hin und her; Zuhause wird ebenfalls nicht selten mehrsprachig kommuniziert. Erst der Angriffs- und Vernichtungskrieg Russlands hat das geändert. Das hätte man übrigens auch in Deutschland im Gespräch mit Menschen erfahren können, die aus der Ukraine stammen.

Katrin Eigendorf ist gelungen, den Kriegsbeginn und ihre Arbeit eindrucksvoll zu schildern und ihn gleichzeitig einzuordnen. Rückblicke auf die Zeit nach dem Euromaidan sind hilfreich, weil sie zeigen, wie zögerlich die russische Aggression als solche wahrgenommen wurde; es kommen wichtige Zeitgenossen mit großem analytischen Weitblick, wie Timothy Snyder, zu Wort. Offen und schonungslos wird von den Vorbehalten gesprochen, die Ukrainer gegen Deutschland und seine verhängnisvolle Rolle in der politischen Haltung gegenüber Russland.

Die Gegenüberstellungen und eingeflochtenen analytischen und erklärenden Passagen verleihen dem Text über den reinen Augenblick hinaus eine Tiefe, die ihm einen ganz besonderen Wert verleihen. Es geht nicht nur darum, was geschehen ist und wie es sich vor Ort auswirkt, sondern woher es kommt und wie es wahrgenommen wurde. Trotzdem wird zu jedem Zeitpunkt spürbar, dass es hier nicht um abstrakte Dinge geht, sondern Menschen aus ihrer Lebensbahn wirft – dank einer beeindruckend empathischen Darstellung.

Besonders beeindruckend sind die Passagen über die russischen Kriegsverbrechen. Ein Zivilisationsbruch und ein Wendepunkt im Krieg, denn er hat dem verlogenen Kremlherrn und seinen Helfern die Maske vom Gesicht gerissen. Über den Charakter seines Vernichtungskrieges gibt es seitdem keine berechtigten Zweifel mehr, von ganz hartnäckigen Wirklichkeitsleugnern einmal abgesehen, ist das im Westen Konsens.

Sehr gut gefallen haben mir zudem die erzählenden Teile, die sich vom aktuellen Geschehen lösen und die Vergangenheit ausloten. Katrin Eigendorf hat – glücklicherweise – kein Problem damit, ihre eigene Sichtweise rückwirkend zu schildern: Sie hat, wie mehr oder weniger ganz Deutschland, den Blick zuvörderst auf Russland gerichtet und den ukrainischen Anteil etwa am Sieg über Nazideutschland unter den Tisch fallen lassen. Die Korrektur, die von der Autorin seit 2014 vollzogen wurde, ist offen dargelegt.

Das von Russland gepflegte Narrativ der Faschisten in der Ukraine wird beleuchtet, problematische Figuren wie Stephan Bandera eingeschlossen, doch wird das angemessen gewichtet angesichts der Millionen Opfer, die von der Ukraine im Vernichtungskrieg gegen Wehrmacht und SS zu erleiden hatte. Hier hätte ich mir gewünscht, dass auch ein Wort über die russischen Kollaborateure und vor allem das umfänglich Nazi-Problem in Russland gewünscht, um die Vorwürfe gegen Kyjiw, die immer wieder vorgetragen werden, als das hinzustellen, was sie sind: Propaganda.

Katrin Eigendorf: Putins Krieg
S.Fischer 2022
Gebunden 256 Seiten
ISBN: 978-3103971958

David Hewson: Garten der Engel

Venedig ist der Ort dramatischer Ereignisse im Herbst 1943, als die Deutschen die Macht im Norden Italiens an sich gerissen haben. Cover Folio Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Seit ich zwölf Jahre alt bin, beschäftigt mich der Krieg. Dabei steht »der Krieg« vor allem für den Zweiten Weltkrieg. Es ist ein – etwas seltsames – Vermächtnis, das mich bis an mein Lebensende beschäftigen wird, aber so etwas kann man sich nicht aussuchen. Garten der Engel von David Hewson dreht sich neben allem anderen auch um ein ungewolltes Vermächtnis, auf ganz verschiedenen Ebenen: persönlich, familiär, aber auch ein wenig historiographisch.

David Hewson ist das Kunststück geglückt, dieses Vermächtnis in eine sehr spannende, ja dramatische Geschichte einzuweben; kein zufällig gewähltes Verb, spielt doch das Weben eine wichtige Rolle in der Handlung. Der Ort ist ebenfalls klug gewählt. Venedig, vom Festland abgeschnitten, eine kleine, in sich geschlossene Welt für sich; zumindest können sich das ihre Bewohner einreden.

Es ist 1943, Italien hat nach drei Jahren – äußerst glücklosen Krieges – mit den Alliierten einen Waffenstillstand geschlossen und das Bündnis mit Deutschland verlassen. Praktisch ist das Land zweigeteilt, denn die amerikanischen und englischen Truppen kommen nur sehr langsam voran, der gesamte Norden ist in deutscher Hand.

Mussolinis Faschisten haben dort unter Nazifuchtel weiterhin das Sagen, es tobt ein blutiger Partisanenkampf im Land. Für jene, die laut Nazi-Ideologie als Juden gelten, brechen schwere Zeiten an, denn jetzt geraten auch sie ins Visier der deutschen Vernichtungskrieger, die Verfolgungen werden wie im übrigen Europa verschärft, Züge voller italienischer Juden rollen Richtung Konzentrationslager.

Wenn die Welt sich verdunkelt, bleibst du dann in deinem Versteck und wartest ab, bis es wieder hell wird? Oder versuchst du selbst, eine kleine Flamme zu entzünden?

David Hewson: Garten der Engel

Das alles schwappt nach Venedig, wo sich die Deutschen eingerichtet haben und auf Mussolinis treue Schwarze Brigaden und Kollaborateure stützen. Man schlägt sich durch, auch der just von alliierten Bomben zum Waisen gemachte Paolo Uccello müht sich, das ins Straucheln geratene Familienunternehmen, eine Seidenweberei, am Leben zu erhalten.

Eine ganze Reihe von Personen gerät durch das Auftauchen zweier jüdischer Partisanenflüchtlinge in eine Lage, Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen treffen zu müssen. Hewson ist es gelungen, die meisten dieser Personen vielschichtig zu gestalten, sie mit ihren Widersprüchen und Schwächen, hanebüchenen Ideen und Ansichten aufeinander loszulassen. Eine Ausnahme bilden die eher schablonenhaften deutschen Besatzern; daran ist nichts auszusetzen, um die geht es in diesem Roman nämlich nicht in erster Linie.

Im Mittelpunkt steht zum Beispiel der Kollaborateur Luca Alberti, ein ehemaliger Polizist, der sprachkundig für die Deutschen in Venedig Ermittlungsarbeiten durchführt. Er versucht sich in der hohen Kunst des Lavierens, redet sich ein, nur das zu tun, was irgendjemand tun müsse und durch sein Handeln das eine oder andere Leben retten zu können. Alberti ist andererseits völlig illusionslos über sein Schicksal, sollte der Krieg für die Achsenmächte verlorengehen. Eine ganz wunderbar widersprüchliche Person.

Ich erledige eine Aufgabe, die irgendjemand erledigen muss.

David Hewson: Garten der Engel

Das gilt auch für viele andere Figuren, die in Garten der Engel ins Geschehen eingreifen und durch ihre Torheiten und klugen Entscheidungen einen Prozess in Gang setzen, der sich immer mehr beschleunigt und auf eine geradezu klassische Tat zuzusteuern scheint – doch Hewson hält für den Leser einige handfeste Überraschungen und Wendungen bereit; man kann das Buch irgendwann nur schwer aus den Händen legen.

Angesichts der zahlreichen, ansprechenden Personen fallen ausgerechnet die beiden Partisanen ab. Insbesondere die handlungsaktive Mika Artom hat bei mir für Stirnrunzeln gesorgt – ganz bewusst formuliere ich etwas gewunden, denn aus meiner langjährigen Beschäftigung mit diesem Krieg weiß ich, dass in dieser Zeit viele Menschen Dinge getan haben, die im Grunde undenkbar waren.

So verhält es sich vielleicht auch mit Mika, die wie ein menschlicher Katalysator für einen wesentlichen Teil der Handlungsdynamik verantwortlich ist. Wie sie geschildert wird, wäre sie – mit Vorbehalt – längst tot, umgebracht von den Deutschen, italienischen Faschisten oder aber den eigenen Leuten, für die sie aufgrund ihrer Querschlägerei eine immense Gefahr darstellt. Kurz hatte ich sogar die Befürchtung, Mika würde mir das Buch insgesamt verleiden – zum Glück unbegründet.

Hewson hat nämlich en passant mit dem Partisanenmythos ein wenig aufgeräumt. Partisanenkrieg wird oft immer noch verherrlicht, dabei handelt es sich um eine brutale, ja oft menschenverachtende asymmetrische Kriegführung, die ganz bewusst die Zivilbevölkerung in die Feuerlinie bringt. Für jeden getöteten Deutschen wird eine Handvoll Zivilisten erschossen – als abschreckende Terrormaßnahme. Auch einige handelnde Figuren fragen sich, ob das Agieren der Partisanen militärisch gerechtfertigt und moralisch gedeckt ist.

Es wird alles zu einer Geschichte. Einem Märchen. Gut und schlecht. Schwarz und Weiß. Nichts dazwischen. Dabei ist es das Dazwischen, auf das es ankommt.

David Hewson: Garten der Engel

Garten der Engel erzählt die Geschichte im Rahmen eines klassischen Sterbebett-Bekenntnisses. Fünf Teile umfasst das, was der verlöschende nonno Paolo seinem Enkel Nico mitgibt, fünf Manuskripte, die jene Ereignisse aus dem Jahr 1943 erzählen. Es ist – wie sich herausstellt – ein echtes Vermächtnis, über das Leser wie Enkel bis zum Ende nicht recht im Bilde sind. Die langsam sich anbahnende Auflösung vieler Fragen gehört wiederum zu den großen Stärken dieses ganz wunderbaren Romans.

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

David Hewson: Garten der Engel 
Aus dem Englischen von Birgit Salzmann
Folio Verlag 2023
Hardcover 394 Seiten
ISBN: 978-3-85256-876-8

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Autor Andreas Fischer ist ein ganz besonderes Buch gelungen, kein Roman im eigentlichen Sinne, aber ein großer Wurf aus meiner Sicht. Cover eschen4verlag, Bild mit Canva erstellt.

Vier Wochen brauchte es nur, um von »Heil unserem herrlichen Führer« zu »Es ist grauenhaft.« zu gelangen. Zwei Zitate aus Feldpostbriefen, jene Schreiben, die von den Soldaten der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges an ihre Lieben daheim geschrieben wurden. Günther heißt der Urheber, der Anfang Dezember 1941 voller begeisterter Erwartung endlich Richtung Ostfront in Marsch gesetzt wird, um dort von der Kriegsrealität blitzartig ernüchtert zu werden. Zwei Tage später ist er schon tot.

Diese beiden Schreiben finden sich in der Mitte des grandiosen Buches Die Königin von Troisdorf, sie bilden das Gravitationszentrum des gesamten Themas, das Andreas Fischer aufarbeitet. Er hat sein Werk als Roman bezeichnet, tatsächlich finden sich auch fiktionale, erzählende Passagen inmitten der vielfältigen Erinnerungsimpressionen und Dokumenten wie Briefen und Postkarten; Fotos spielen im Text eine besondere Rolle, abgebildet sind keine – das geniale Cover-Motiv bleibt solitär.

Fischer lässt seine Passagen munter durch die Zeit springen, er wählt einen nüchternen, sachlichen Rahmen, indem er jeden Abschnitt mit Jahreszahl beginnt, oft gefolgt von einer Ortsangabe und einem oder mehreren kleinen Sätzen. Bei den Dokumenten geht der Autor noch einen Schritt weiter, beschreibt Papier, Form, Poststempel, Briefmarke, Schrift und gibt weitere Erläuterungen zu dem, was folgt. Schreiben als Sezieren.

1961.
Troisdorf.
Ich bin einige Wochen alt.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Diese Form ist eine brillante Entscheidung. Sie distanziert das Geschilderte und verhindert, dass Inhalt und Thema in einem überemotionalen, gefühlstriefenden Morast versinken. Der Leser wird auch genug durchgerüttelt, denn was Andreas Fischer zu berichten hat, führt in ein finsteres Tal, das er als Kind durchschreiten musste. Die Verlierer des Verwüstungskrieges haben ihre Wut an der nächsten Generation ausgelassen; und der übernächsten – unmittelbar oder mittelbar.

Der Vater des Autors ist selbst Soldat gewesen, er hat im Gegensatz zu dem zitierten Günther und dem eigenen Bruder Herbert das große Schlachten überlebt, obwohl es ihn am Ende sogar noch in den Strudel der Ardennenoffensive gerissen hat. Die Person, die abends von der Arbeit ausgelaugt am Küchentisch sitzt, raucht und säuft, den alten Ideologien, Verschwörungserzählungen und Feindbildern treu geblieben ist, lässt sich kaum in Einklang bringen mit dem, was an anderer Stelle über ihn zu lesen ist: charmant, wissbegierig, sprachgewandt, freundlich, offen. Frauentyp.

Was hat diesen krassen Wandel bewirkt? Was diese unsäglich Ehe initiiert? Vater Reinhold verhält sich höchst befremdlich und wechselhaft gegenüber Andreas, Mutter und Großmutter, die er »Hindenburg und Ludendorff« oder »Kaltmamsellen« nennt, sind ihm gegenüber von einer gleichbleibenden Kälte. Ein ungeliebtes, verachtetes, unerwünschtes Kind, einer »von seiner Sorte« reiche, heißt es. Es wirkt keineswegs übertrieben, wenn Andreas glaubt, in ihren Augen wäre er ein »Drecksack« und seine (Un-)Taten wären «Verbrechen«.

Jeder Protest, jedes Aufbegehren verhallt.
Hindenburg und Ludendorff kennen keine Gnade.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Wie kann man in einer solchen Umgebung aufwachsen? Wie überleben? Eine weitere, große Stärke des Buches liegt darin, dass es – auch dank der Form – nicht in eine rauschhafte Abrechnung oder gar einen rasenden Amoklauf des erinnerten Schmerzes abgleitet, sondern den Lichtblicken Raum gibt. Andreas hat seine Tante Hilde, und – vom haltlosen Jähzorn abgesehen – durchaus auch seinen Onkel Bruno, der ihn zwar einmal fürchterlich verprügelt, aber im Grunde auch respektiert.

Es gibt in der Kälte durchaus wärmende Momente, auch sein Vater hat einige positive Erinnerungen hinterlassen. Das väterliche Meisterstück bestand darin, seinem fünfzehn Jahre alten Sohn den Auszug in eine Art Schutzraum zu gestatten – mit seiner Hilfe baut sich dieser den Dachstuhl in jenem Haus aus, in dem das familieneigene, gut laufende Fotoatelier untergebracht ist. Dort verbringt er seine Tage, irgendwann auch die Nächte und entzieht sich dem kontrollierenden Zugriff von Oma und Mutter.

Vater Reinhold hat Andreas’ »Testament« gefunden, eine achtseitige Abrechnung, verfasst anlässlich aufkeimender Suizid-Gedanken, und aus diesem alarmierenden Fund eine bemerkenswerte Schlussfolgerung gezogen. Sie steht in Kontrast zu jenem alltäglichen Wüten, zum Beispiel als der Sohn in der Schule mit den Abgründen des Vernichtungskrieges konfrontiert wird: Reinhold leugnet die Fakten rundherum ab, diffamiert sie als alliierte Propaganda und stellt eine rechtsextreme Verschwörungserzählung dagegen.

Andreas hat das große Glück, dass er an eine vernünftige Lehrerin gerät, die ihn zunächst den Unsinn vortragen lässt, ehe sie ihm ruhig widerspricht; eine Bibliothekarin, die ihn mit der nötigen Literatur über den Holocaust versorgt, sodass er sich selbst ein Bild machen kann; einen Geistlichen, der ihm eine Erklärung dafür liefert, warum sein Vater eine Lüge der Wahrheit vorzieht. Am Ende steht eine eigene Meinung, die im Gegensatz zu dem väterlichen Nonsens steht. So geschieht Bildung, gedeihen Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit, das Pendant zum emotionalen Rettungsanker.

Der Hass meiner Oma auf mich durchzieht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach wie ein bestialischer Gestank, dessen Quelle nicht zu orten ist. Ich bin zu klein, um Überlegungen anzustellen, wo die Ursache liegen könnte. Der Gestand ist völlig normal, ganz selbstverständlich gehört er zu meiner Welt wie das Geschäft meiner Eltern, das weiße Schulgebäude und Vaters Schnapsflasche im Kühlschrank.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern sind gestört und im Grunde kaputt. Andreas Fischer stellt viele Fragen, ohne unbedingt eine Antwort zu geben oder auch nur zu versuchen. Was für ein Glück, denn so bleibt es dem Leser überlassen, selbst nach welchen zu suchen – oder auch nur zu lesen. Dankbarerweise verzichtet der Autor auch auf die Niederungen jeder Gut/Böse-Verschlichtung, die Widersprüche sind klar und bleiben unaufgelöst.

Dieses Buch ist auch ein ganz wunderbares Beispiel dafür, wie ein Inhalt seine passende Form gefunden hat. Man kann fast dankbar sein, dass der Autor keinen Verlag gefunden hat, der ihn möglicherweise genötigt hätte, seine Lese-Kost zu einem gefälligen, leicht verschlingbaren Literaturbrei zu pürieren; der Inhalt verlangt geradezu nach einer sperrigen Form. So ist Die Königin von Troisdorf ein großer, geradezu royaler Wurf.

Wer eine Zweitmeinung zu dem Roman einholen möchte, den verweise ich gern auf die sehr gelungene, ausführliche und etwas anders fokussierte Buchbesprechung auf dem generell empfehlenswerten Blog: Horatio-Bücher.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf
eschen 4 verlag 2022
Hardcover 473 Seiten
ISBN: 978-3-00070-369-0

Stefan Hertmans: Der Aufgang

Eine großartige literarische Annäherung an den flämischen Kollaborateur Willem Verhulst und sein Leben. Ganz nebenbei mein erstes Buch eines in Belgien lebenden Autors. Cover Diogenes, Bild mit Canva erstellt.

Man stelle sich den Kauf eines Hauses vor, die Besichtigung in Gegenwart des Notars, dem das Anwesen gehört; während man von Raum zu Raum schreitet, werden die Erinnerungen an jene geschildert, die dort einmal gewohnt haben – eine Hitler-Büste auf dem Kaminsims? »Was für Leute haben denn hier gewohnt?« Die Frage beantwortet – Jahre später – ein Buch: ein Kollaborateur und Angehöriger der Waffen-SS.

So führt Autor Stefan Hertmans den Leser in seinen Roman Der Aufgang, um diesem Mann nachzuspüren: Willem Verhulst, eine schillernde Figur, in dem sich das Drama ganz Belgiens spiegelt. Früh auf einem Auge erblindet, was ihn zum Außenseiter macht, zugleich aber vor einem Fronteinsatz während des Ersten Weltkrieges bewahrt; in den Kriegsjahren beginnt seine Liaison mit Deutschland, die bis zum Ende seines Lebens im Jahr 1975 prägend sein wird.

Belgier, könnte ich schreiben, und hätte damit durchaus recht. Formal gesehen war Willem Verhulst Staatsbürger des kleinen Landes, das etwas arg zu kurz kommt, wenn die beiden großen Kriege verhandelt werden, mit denen Deutschland Europa überzogen hat. Frankreich, England, Russland, die Sowjetunion, die USA – aber Belgien? Oft kaum mehr als ein randständiges Durchmarschland in beiden Kriegen.

Schon im Ersten Weltkrieg machen sich Charakteristika des Zweiten bemerkbar: Zwangsarbeit, Gewalttaten gegenüber der Zivilbevölkerung, Kollaboration; und nach der Niederlage des Kaiserreiches Verfolgung und Flucht der Kollaborateure. Einer davon ist Willem Verhulst, der sich selbst eben nicht als Belgier, sondern als Flame sieht und auf ein großgermanisches Reich unter deutscher Führung hofft. Schon vor 1918, wohlgemerkt.

Immer seltener hält er mit seinen Sympathien für ein großgermanisches Reich unter deutscher Führung hinterm Berg.

Stefan Hertmans: Der Aufgang

Nach dem Krieg folgt die Flucht in die Niederlande mit seiner todkranken, verheirateten Geliebten Elsa;  dort lernt er Mientje kennen, die er nach dem Tod Elsas ehelicht und betrügt. Ein notorischer Fremdgänger, der jedoch nicht nur seine Liebschaften, sondern auch seine politischen Ansichten und Aktivitäten vor seiner Frau geheimzuhalten sucht.

Oft steht der Leser gemeinsam mit Mientje vor verschlossener Tür, hinter der widersprüchliche Dinge verhandelt werden. Mal ist es ein jüdisches Ehepaar, das um Hilfe bittet; Willem kennt offenkundig die Frau näher, man ahnt, warum. Mal sind es Wehrmachtsoffiziere, mit denen sich Willem beim Einmarsch der Wehrmacht bespricht, seine Reisen ins Reich, seine Kontakte, Sympathien.

Hertmans nutzt diesen Kniff, um Dinge, die er nicht wissen kann, offenzulassen. Wie Willems Frau braucht der Leser ohnehin keine Details, denn aus den Taten des Kollaborateurs lässt sich genug herauslesen. Mientje ist sein Widerpart, was die politischen Ansichten anbelangt; die kluge, religiöse, pazifistisch eingestellte Frau, die wissbegierig und offen ist, kämpft gegen alles an, was sie an Willems Kollaboration erinnert.

Zuhause untersagt sie ihm das Tragen der Uniform; wirft einen SS-Dolch, den Willem ihrem gemeinsamen Sohn schenkt, mit dem auf der Klinge eingravierten Schriftzug, »Meine Ehre heißt Treue«, in das benachbarte Gewässer; verbrennt deutsche Zeitungen; hält gegenüber allen uniformierten Gästen und dem mit einer Hitler-Büste geschmückten Salon Distanz und nennt diesen Raum treffend »Totenzimmer«. Ändern kann sie damit selbstverständlich wenig.

Diese unschuldige Formulierung ist nur ein dünnes Vlies, das kaum das rohe Fleisch darunter verdeckt.

Stefan Hertmans: Der Aufgang

Der Aufgang ist kein Roman im eigentlichen Sinne; er vereint fiktionale, berichtende, essayistische Elemente, angereichert mit Bildern ist er auch die Geschichte einer Spurensuche. Hertmans spricht mit den Angehörigen Willems, den Kindern, liest, was an Akten, Briefen, Tagebüchern und Büchern überliefert ist und reflektiert. Bemerkenswert ist, wie die Kindern bis ins hohe Alter Formulierungen verwenden, wenn es um die Karriere ihres Vaters geht, die seine (Un-)Taten verharmlosen.

Ab 1943 dreht der Wind. Willem ist Angriffen, Pöbleien, Spott und Drohungen ausgesetzt; zugleich steht er seitens der Deutschen unter massivem Druck, erleidet Nervenzusammenbrüche, schluckt Pervitin und ist noch diensteifriger. Trotz allem Engagements spürt er die Herablassung seitens der Besatzer, die in ihm und den Flamen letztlich doch nur zweitklassige »Westgermanen« sehen.

Ausgrenzung ist eine Wurzel für Willems Kollaboration, die Herablassung durch die französischsprechenden Bevölkerungsteile Belgiens, das Gefühl, »ein ›Neger‹ im eigenen Land« zu sein. Kurioserweise führte das zum Bruch mit dem Staat Belgien, während die bittere Erkenntnis, ein Flame sei »nie mehr als ein Ersatz- oder Westgermane« seine Loyalität gegenüber Deutschland nicht bricht.

Der Siegeszug stockte bald und die Hölle näherte sich unabwendbar.

Stefan Hertmans: Der Aufgang

Im September 1944 flieht Willem mit seiner Geliebten Griet Latomme nach Deutschland; Mientje bleibt in Gent, sie und die Kinder werden von »Widerständlern«, einer Rotte gewaltbereiter Männer, heimgesucht. Da der Kollaborateur in Deutschland weilt, ein Aufenthalt, über den Griet gespenstisch geschönte »Erinnerungen« überliefert, bekommen seine Familienangehörigen die aufgestaute Wut ab; Sohn Adri stirbt beinahe.

Was folgt – nun, Geschichte ist nicht gerecht; Gefängnis läutert nicht, sondern radikalisiert, und Menschen ändern sich nur dann, wenn sie einsichtig sind und es wirklich wollen.

Der Aufgang ist ein großartiges Buch, das die widersprüchliche Vielschichtigkeit der historischen Person und ihre Verflechtung mit der Lebenswirklichkeit auch durch die Struktur der Erzählung wiedergibt. Der Autor setzt sich mit der Person Willem Verhulst, aber auch mit der Spurensuche und auf beeindruckend offen-kritische Weise mit sich selbst auseinander. Am Ende bleibt aber – bei allem Verstehen – immer deutlich, wofür Verhulst sich hat einspannen lassen: ein menschenverachtendes Gewaltregime.

Ganz persönlich hat mir Der Aufgang auch deshalb so gut gefallen, weil ich wieder einige Antworten auf die Frage erhalten habe, warum Männer (und Frauen) in fremder Uniform kämpfen. Eine positive Rezension gibt es auch bei Buch-Haltung, die etwas anders akzentuiert ist und den Versuch einer Einordnung unternimmt.

[Rezensionsexemplar]

Stefan Hertmans: Der Aufgang
Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
Diogenes 2022
Hardcover, Leinen 480 Seiten
ISBN: 978-3-257-07188-7

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