Eine gelungene Graphic-Novel über den weltberühmten Kriegsfotografen, man erkennt seine Bilder wieder, aus einer anderen Perspektive. Cover Kenesbeck-Verlag, Bild mit Canva erstellt.
Seit dem herausragenden Roman Der Schlachtenmaler von Arturo Peréz-Reverte bin ich für das Thema Kriegsfotographie sensibilisiert. Robert Capa, bürgerlich Endre Friedmann, geboren 1913 in Budapest, war wohl einer der bekanntesten Könner seines Fachs. Die Graphic-Biography von Florent Silloray zeichnet das Leben des Kriegsfotographen überwiegend linear nach, einzelne Rückblenden sind eingestreut.
Was für ein Lebensweg! Die Bilderzählung setzt 1936 ein, als Robert Capa von seiner Freundin Gerda erfunden wird, um das Leben in bitterer Armut durch einen Trick zu beenden: Endres soll vorgeben, er wäre ein amerikanischer Fotograf, Gerda mimt dessen Agentin. Damit soll es gelingen, die Tarife anzuheben, die Fotograph Endres bislang fordern kann.
Das Unternehmen klappt – zeitweise – und bringt wichtige Kontakte, Aufträge und Perspektiven. Im gleichen Jahr geht es nach Barcelona, hinein in den Spanischen Bürgerkrieg, den ersten der folgenden 18 Jahre, die Endres / Capa noch bleiben. Denn 1954 wird er bereits sterben, in Indochina, dicht an der Front, im Kampfeinsatz mit einer französischen Einheit, bei dem er auf eine Mine tritt.
Die Zeit dazwischen mit ihren globalen Kriegshandlungen erlebt der Leser dieser Graphic-Biography recht atemlos, dank der verknappten, unpathetischen, ereignisorientierten Darstellung. Es gibt Auszeiten, vor allem in Hollywood, als Capa heimlich mit dem Weltstar Ingrid Bergmann liiert ist, aber auch später in Frankreich, als es ihm gelungen ist, eine Fotoagentur zu gründen, um die individuelle Abhängigkeit des Kreativen von den Zeitungen zu brechen.
Die Schattenseiten dieses Mannes bleiben nicht verschwiegen. Alkohol, Kartenspiel mit hohen Spielschulden; sein Dämon in Gestalt des tragischen Schicksals Gerdas, das ihm eine Bindungshemmung hinterlässt. Silloray breitet das vor den Augen des Lesers ebenso aus, wie die grauenhaften Erfahrungen, die Capa 1944 in der Normandie macht.
Natürlich ist sein berühmtes Bild vom sterbenden Milizionär auf dem Schlachtfeld des Spanischen Bürgerkrieges zu sehen – aber aus einer ganz anderen Perspektive, die den Fotographen bei seinem Schnappschuss zeigt. Nicht nur das ist großartig, denn auf eine ganz besonders gelungene Weise fängt Silloray das Leben dieses Mannes ein, der eben auch ein Migrant war, wurzel- und staatenlos.
Eine Graphic Novel mit einem schwerwiegenden und schwierigen Thema, das Fragen aufwirft, die uns heute direkt betreffen. Cover Splitter Verlag, Bild mit Canva erstellt.
Ist jetzt die richtige Zeit für diese Graphic Novel? Im Osten Europas hat eine brutale Diktatur einen völlig enthemmten Angriffs- und Vernichtungskrieg losgebrochen, der erste, große vollumfängliche Krieg seit 1945 in Europa; Kriegsverbrechen werden verübt, die Invasion trägt die Züge eines Genozids, mit dem Ziel, die Ukraine in jeder Hinsicht auszulöschen.
Damit ist ein möglicher Zugang zu dieser Graphic Novel geöffnet, denn Die Reise des Marcel Grob beginnt in der Endphase des Zweiten Weltkrieges. Die Hauptfigur wird mitten hineingezogen in die Abgründe dieses weltumspannenden Krieges. Unweigerlich werden Fragen aufgeworfen. Kann man, darf man vergleichen? Das Massaker von Marzabotto, das in der Graphic Novel eine zentrale Rolle spielt, mit dem, was die russische Armee etwa in Butscha angerichtet hat?
Wie steht es mit der Schuld des Einzelnen, der vor Ort ist, Kriegsverbrechen ausführt oder ihnen als Teil der Tätergruppe beiwohnt? Gibt es mildernde Umstände, etwa die Drohung des eigenen Todes, durch ein Standgericht wegen Befehlsverweigerung? Heute und damals? Wie geht jemand mit der Schuld um, die ihn persönlich das gesamte Leben lang verfolgt?
Was hätten Sie an meiner Stelle getan? Versuchen Sie mir diese Frage zu beantworten.
Philippe Collin & Sébastien Goethals: Die Reise des Marcel Grob
Vergleichen heißt nicht Gleichsetzen, auch wenn beide Worte im alltäglichen Sprachgebrauch synonym verwendet werden. Wer etwas vergleicht, arbeitet Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus; wer gleichsetzt, verwischt beides. Vergleichen muss also erlaubt sein, allein, um einen Versuch zu unternehmen, sich dem eigenen Standpunkt in der großen Tragödie unserer Tage anzunähern.
Die Graphic Novel von Philippe Collin & Sébastien Goethals bietet reichlich Möglichkeiten, über diese und andere Fragen nachzudenken. Die Geschichte selbst ist sehr spannend, die Zeichnungen sind großartig und auf eine authentisch wirkende Weise atmosphärisch; Teile der Handlung spielen in Italien, die vertrauten Bilder (Lago di Garda) stehen in einem krassen Kontrast zu dem, was dort geschieht.
Vor allem sind die Personen gelungen. Die Protagonisten sind so genannte Malgré-nous, zwangsverpflichtete Männer aus Elsass-Lothringen, die überwiegend unfreiwillig in den Krieg gezogen sind. Die verschiedenen Schattierungen ihrer Einstellung werden sehr überzeugend dargelegt, ebenfalls die jähe Desillusionierung, die selbst die Motivierten trifft.
Waffen-SS, das heißt, wir werden den Bolschewiken mal so richtig in den Arsch treten.
Philippe Collin & Sébastien Goethals: Die Reise des Marcel Grob
Die Reise des Marcel Grob wirkt ungeheuer authentisch. An den geschilderten Kriegshandlungen ist nichts Heroisches. Es ist den Autoren gelungen, diese aus Kriegsromanen bekannte Blindheit der Soldaten einzufangen, die irgendwohin marschieren, ohne eine Ahnung zu haben, was ihnen blüht. Sie bringen Tod und Verderben über Arglose und werden von Tod und Verderben gleichsam aus dem Nichts heimgesucht.
Die Hauptfiguren werden 1944 eingezogen, als der Krieg aus deutscher Sicht militärisch längst verloren war und das NS-Regime Millionen Soldaten und Zivilisten blindwütig in den Tod geschickt hat, um die unabwendbare Niederlage hinauszuzögern. Was heute so offensichtlich erscheint, war es für viele damals nicht. Rückblickend ist man immer klüger – erinnern Sie sich noch, was Sie im Februar 2022 über die Aussichten der ukrainischen Armee dachten?
Als die jungen Männer um Marcel Grob ihren Ausbildungsstandort erreichen, sehen sie zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer; einige wissen nicht einmal, welches. Wie hätten sie die militärische Lage einschätzen können? Auch hier drängen sich dem Leser Fragen auf. Was wissen wir über den Krieg in der Ukraine? Was die russischen Soldaten? Vor allem: Welche Möglichkeiten, welche Handlungsoptionen stehen ihnen offen?
Die lassen uns krepieren, die Schweinehunde.
Philippe Collin & Sébastien Goethals: Die Reise des Marcel Grob
Bei aller Nähe zu den historisch überlieferten Wirklichkeiten handelt es sich um ein fiktionales Werk und als solches sollte es auch gelesen werden. Wenn etwa der Untersuchungsrichter den 83 Jahre alten Marcel Grob fragt, warum er nicht Selbstmord begangen hat, statt sich an dem Massaker zu beteiligen, wirkt das abstrus; bis sich auch die Umstände am Ende klären. Ein kleiner Paukenschlag.
Zusätzliche Informationen ergänzen die Fiktion. Eine Karte informiert über den Weg, den Marcel Grob zurückgelegt hat, Informationen über die SS, die Waffen-SS, die militärische Formation, das Massaker und die strafrechtliche Verfolgung werden knapp abgehandelt. Einige Literaturempfehlungen runden das Zusatzmaterial ab.
Im Kern hält Die Reise des Marcel Grob auch eine Mahnung an die Gegenwart bereit: Viele Kriegsverbrecher oder (Mit-)Täter kamen nach dem Zweiten Weltkrieg davon, sie traten in alliierte Dienste (Wernher von Braun) oder wurden nach vergleichsweise kurzer Gefängnisstrafe wieder entlassen. Die Toten blieben tot.
Das führt zur letzten Frage. Russlands Krieg gegen die Ukraine wird nicht ewig währen. Wie wird es nach dem Ende des russländischen Vernichtungskrieges sein? Werden die Täter bestraft oder wird »vernünftig« gehandelt und geschont? Wer ein wenig zuhört, ahnt schon, wohin diese Reise gehen wird.
Die Reise des Marcel Grob Szenario: Philippe Collin Zeichnungen Sébastien Goethals Aus dem Französischen von Harald Sachse Splitter-Verlag 2019 Hardcover 192 Seiten ISBN: 978-3-96219-320-1
Eine epische Grafic Novel erzählt die Ereignisse der dem Abgrund entgegentaumelnden Weimarer Republik aus vielen, spannenden Perspektiven. Cover Verlag, Bild mit Canva erstellt.
Volker Kutscher, Autor der von mir sehr geschätzten Romane um den KriminalkommissarGereon Rath, ist es zu verdanken, dass ich auf diesen Schatz aufmerksam geworden bin. Seine lobenden Worte auf dem Cover dieses wahrlich dicken Schinkens haben mich zu einem zweiten Blick bewogen, obwohl ich mit Grafic Novels bislang nicht so viel anfangen konnte.
»Ein opus magnum, eine Sinfonie der Großstadt, eine Comic-Sinfonie.« Kutschers Worte erweisen sich als wahr: Die Lebensumstände im Berlin der Jahre 1928 bis 1933 werden vielschichtig erzählt und ganz wundervoll ins Bild gesetzt. Die Darstellung wirkt karstig, garstig, schwarz-weiß und frei von allem Glamour.
Freunde von »Babylon Berlin« werden möglicherweise die Nase rümpfen, denn in Lutes Berlin gibt es keine Charlotte Ritter; die Figuren bilden ein breites, widersprüchliches Spektrum der Bevölkerung und sozialer Schichten ab, Jason Lutes hat es meisterhaft verstanden, in kargen Zeichnungen ihre Befindlichkeiten einzufangen.
Geschickt werden Ereignisse und Begebenheiten neben- und nacheinander montiert, Lutes verzichtet zum Glück auf jede Form moralinsaurer Belehrungen. Trotzdem bezieht »Berlin« klar Stellung gegen die brutalen, grobschlächtigen und in ihrem Wesenskern gar nicht so unähnlichen Gewaltextreme der Zeit.
Vor- und Nachwort geleiten den Leser, außerdem findet sich in der Gesamtausgabe noch ein sehr interessantes Interview mit dem Zeichner. Toll hat mir das Berlinern einiger Figuren gefallen und – soviel darf gesagt werden – es endet trotz der Machtübertragung an Hitler 1933 nicht alles in depressiver Schwärze.
[Ein Bibliotheksfund, daher unbezahlt]
Jason Lutes: Berlin aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders Berlinerisch von Lutz Göllner Carlsen Verlag 2019 HC 610 Seiten ISBN 978-3-551-76820-9
Alexander Preuße Eine neue Welt –PiratenbrüderBand 1. Taschenbuch 310 Seiten Chatou - Piratenbrüder Band 2. Taschenbuch 304 Seiten eBook exklusiv bei amazon (Kindle unlimited). mehr Infos: Piratenbrüder
Aktuelle Lektüre Darauf freue ich mich sehr. Christopher Clark widmet sich der gescheiterten Revolution von 1848/49. Ganz passend kommt der Autor zum Literaturherbst nach Göttingen. [Rezensionsexemplar]