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Schlagwort: Klassiker

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Ein rasanter, spannender, wendungsreicher Roman, unter dessen Oberfläche eine Menge mehr schlummert, wie das großartige Nachwort offenbart. Cover Elsinor-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Die Nacht der kranken Hunde von A.D.G. spielt in der französischen Provinz, die Hauptakteure glänzen nicht gerade durch urbane Weltläufigkeit, um es einmal zurückhaltend zu formulieren. Rückständig würden die Städter sie halten, klagt der Erzähler, wie rückständig sie tatsächlich sind, zeigt ausgerechnet jener Satz, der das Vor-Urteil entkräften soll: Man wisse, dass Hippies junge Leute seien, „mit Rauschgift, die ihre Frauen verleihen, ganz gleich an wen.“

Auf diese direkte Weise gelingt es dem Autor, die Personen zu charakterisieren, mit denen es der Leser auf den nächsten 170 Seiten vornehmlich zu tun bekommt. Die Dörfler sind eben nicht wie jene dickköpfigen, aber harmlosen Streithähne in jenem allbekannten gallischen Dorf, sie sind oft auf eine verletzend offene Weise boshaft, unanständig, schweinisch mit ihren schamlosen, sexualisierten Witzen und trinken zweifellos zu viel und zu oft Alkohol.

Zumindest während der erzählten Zeit verbringen sie sehr viel mehr Stunden in ihrer Stammkneipe als bei der Arbeit, von der bemerkenswert wenig die Rede ist. Ihre Ehefrauen sind kaum mehr als Heimchen, die durch die von Gardinen behüteten Fenster nach draußen spähen, wenn etwas geschieht; dennoch ihren Männern erlauben müssen, wenn sie trinken gehen wollen. Die Sozialstruktur ist auf eine deprimierende Weise erdrückend rückständig und ein dumpfer Gegenentwurf bürgerlicher Spießigkeit.

Eine Ärztin – wir wussten zwar, dass es so etwas gibt, hatten aber noch nie eine gesehen. Und wir waren überrascht, dass ein so schönes und so junges Mädchen Ärztin sein sollte. Um es genau zu sagen: Viel Vertrauen hatten wir nicht.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Der Autor hebt das negative Bild in gewisser Weise wieder auf, wenn die Dörfler auf die Hippies treffen, mit diesen über das Problem sprechen, das sie mit ihnen haben: Die langhaarigen Frauenverleiher haben sich auf einem Stück Land niedergelassen, ohne die Erlaubnis dafür eingeholt zu haben. Ausgerechnet auf einer Parzelle, deren Besitzrecht umstritten ist, was zu einem Leitmotiv der gesamten Handlung führt, denn einer der vorgeblichen Besitzer hat ein besonderes Interesse an diesem Flecken Erde.

Das Zusammentreffen der rückständigen Landeier und der Hippies nimmt einen völlig unerwarteten Verlauf, womit der Autor sein Händchen dafür beweist, den Leser mit seinen eigenen Vorurteilen in die Falle zu locken. Das Aufeinandertreffen verspricht geradezu ostentativ eine blutige, überschäumende Konfrontation mit tödlichem Ausgang, doch wird es nicht eingelöst, weil sich die Dörfler auf eine ziemlich schräge Weise auf die Hippies einlassen, mit ihnen am Feuer sitzen, trinken (Whiskey wie der Bürgermeister) und irgendwann sogar singen. Diese Steilvorlage lässt sich A.D.G. nicht entgehen, und wählt boshafterweise „We shall overcome“ – davon kann im weiteren Verlauf der Handlung wahrlich keine Rede sein.

Leute, die so trinken wie der Bürgermeister, waren vielleicht doch nicht völlig verworfen.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Ich fasse mich bewusst kurz, denn der Die Nacht der kranken Hunde ist ein rasant erzählter Roman, der auf erklärende, reflektierende Passagen verzichtet; stattdessen wird die Handlung vorangetrieben, die sich immer weiter zuspitzt und von einer ganzen Reihe heftiger Wendungen geprägt ist. Das vorwegzunehmen wäre gegenüber möglichen Lesern unfair, wenngleich der Roman durchaus zum mehrfachen Lesen einlädt, denn wie viele Noir-Krimis enthält auch dieser unter seiner Oberfläche sehr viel mehr.

Dieser ersten Wendung folgen noch etliche weitere, blutige, denn der Tod einer Dorfbewohnerin ruft weitere Parteien auf den Plan, die ebenso unredliche wie ungesetzliche Absichten verfolgen. Die Gegensätze  verlaufen dabei nicht so, wie es die Gruppenzugehörigkeit vermuten ließe. Das einsetzende Verwirrspiel wird durch die unklaren Fronten und Interessen noch verschärft, natürlich mischt auch die Polizei noch mit, die jedoch vom Autor nicht gerade als elitäre Heldentruppe vergeführt wird.

Tatsächlich spürt der Leser mit dem Auftreten der Uniformierten und den Reaktionen der Dorfbewohner ein beträchtliches Maß an Anarchie, mit dem diese Geschichte unterlegt ist und die sich im Erzähltempo und -duktus niederschlägt. Die Polizisten sind nicht die hellsten Leuchten und lassen sich von den Einheimischen mit hanebüchenen (Fehl-) Informationen aufs Glatteis führen und von den eigenen Absichten ablenken.

Die Männer des Dorfes wollen die Angelegenheit selbst regeln, ein nahezu klassisches Motiv auch aus anderen Genres, etwa dem Western, wo das Misstrauen und die Missbilligung gegenüber dem Staat und seinen Institutionen auf gleiche Weise transportiert wird. Die Herren des Ortes verfügen über Waffen, einige entstammen noch den heroischen Zeiten der Résistance, die auch gleich als Begründung für das eigenmächtige Handeln herhalten darf. Der Autor treibt dieses Spiel bis an den Rand einer Groteske

Obwohl schon Frühling war, würden wir bestimmt Feuer im Kamin anzünden. Um die hässlichen Bilder zu verscheuchen.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Die Erzählform trägt zu Befremdung ihren Teil bei. Lange bleibt unklar, um wen es sich beim Erzähler handelt, ja, ob es überhaupt einen gibt. „Wir“ wird gleich am Anfang des zweiten Absatzes als Erzählhaltung eingeführt, da es sich nicht um die Gollum-Version („Wir sind immer allein“) handelt, könnte es auch eine Art kollektives Bewusstsein sein, das spricht. Auch das nutzt A.D.G. zu einem fulminanten Twist gegen Ende des Romans, der den Leser nach all den ohnehin haarsträubenden Wendungen noch einmal verblüfft blinzeln lässt.

Wie bei allen Teilen der ganz wunderbaren Reihe um Klassiker der Spannungsliteratur beim Elsinor-Verlag rundet ein ganz großartiges Nachwort von Martin Compart den Band ab. Bei der Lektüre wird deutlich, dass unter der sehr handlungslastigen Erzählung eine ganze Menge Mehr-Sinn schlummert, denn es handelt sich bei Die Nacht der kranken Hunde um einen besonderen Noir-Roman.

Der natürliche Lebensraum des Noir-Personals ist das urbane Milieu, A.D.G. versetzt seine Protagonisten aufs Land. Ein Country-Noir also, über den Compart eine Menge zu erzählen weiß. So viel und so gut, dass man diesen sehr unterhaltsamen Roman gleich nochmals lesen will oder eben einen aus der Feder eines der andere Autoren, die im Nachwort genannt werden.
[Rezensionsexemplar]

Ebenfalls in der Reihe erschienen & besprochen:
Fearing, Kenneth: Die große Uhr.
Buchan, John: Der Übermensch.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde
Elsinor Verlag 2023
TB 194 Seiten
ISBN 978-3-942788-73-1

Leo Perutz: Der Meister des Jüngsten Tages

Einen großen, internationalen Erfolg konnte der österreichische Schriftsteller mit seinem 1923 erschienen Roman erzielen. Cover dtv, Bild mit Canva erstellt.

Als ich vor einigen Jahren den Roman Der schwedische Reiter von Leo Perutz in meiner Göttinger Buchhandlung kaufte, erfuhr ich, dass der Autor eher selten gelesen wird. Das ist schade, denn Perutz schreibt wirklich gut. Das gilt auch für seinen Roman Der Meister des Jüngsten Tages. Der hält einige Überraschungen bereit, denn es handelt sich um einen Kriminalroman mit Spuren von Mystery.

Die Handlung spielt im Jahr 1909 in Wien, eine wunderbare (Erzähl-)Zeit und ein ebensolcher Ort. Zu Beginn versammelt man sich in besserer Gesellschaft, spielt Klavier-Kammermusik – Brahms hat unglaubliche Stücke geschrieben, die vor Energie, dramatischem Pathos und Leidenschaft zu bersten scheinen. Zu den großen Vorzügen der Gegenwart gehört die Möglichkeit, sich mit einem Klick die im Roman geschilderten Stücke einmal anzuhören.

Ein Todesfall geschieht, der nach einem Mord aussieht. Ein Verdächtiger ist schnell auserkoren, ein Motiv ist auch vorhanden, die anfänglich bereits spürbaren emotionalen Lasten, die der Ich-Erzähler mit sich herumträgt, wenden sich gegen ihn. Perutz hat eine sensationelle Erzählfigur geschaffen, die trotz der eigentlich nahen, persönlichen Erzählhaltung für den Leser schwer greifbar bleibt.

Das liegt unter anderem an den geradezu dramatischen Stimmungsschwankungen des Ich-Erzählers, außerdem lässt ihn Perutz angesichts des Todesfalles und der sich für ihn abzeichnenden Konsequenzen immer wieder abdriften, seine Gedanken weichen aus der Gegenwart in die Vergangenheit, Rechtfertigungen, Selbstanklagen, ja in einem Fall meint der Ich-Erzähler sich einer Sache zu erinnern, die er tatsächlich nicht erlebt haben kann.

Für den Leser (oder Hörer; die Hörbuchausgabe mit Peter Simonischek ist glänzend) macht das einen gehörigen Teil der Spannung aus. War er »es«? Oder nicht? Die Fragen werden zu treuen Begleitern, während das Buch in eine intensive Suche mündet, mit dem Ziel, die Umstände des Todes aufzuklären. Ganz nebenbei wird der Leser in die Vorkriegszeit Wiens eingeführt.

Der Stil von Perutz ist für viele Krimi-Leser des frühen 21. Jahrhunderts sicher gewöhnungsbedürftig. Der Roman ist 1923 entstanden und atmet noch die alte, kaiserlich-königliche Zeit, eine Art sprachliches Kolorit (was in der Hörbuchversion ganz besonders zum Tagen kommt). Wer nur Krimi-Massenware nach Schreibratgeber-Pausbogen mag, sollte Der Meister des Jüngsten Tages lieber meiden. Für alle anderen wartet mit diesem Klassiker ein kleiner Schatz.

Leo Perutz: Der Meister des Jüngsten Tages
dtv 2003
TB 208 Seiten
ISBN: 978-3-423-13112-4

John Buchan: Der Übermensch

Ein Klassiker im Wortsinne. Spannend. Atmosphärisch. Originell. Cover Elsinor, Bild mit Canva erstellt.

Zum Zeitpunkt dieser Buchbesprechung ist John Buchans Roman Der Übermensch einhundertzehn Jahre alt, beinahe so betagt wie Bilbo Beutlin zu Beginn von Der Herr der Ringe. Ein staunenswerter Schatz für Thriller-Leser, die schnell von der Atmosphäre und der spannenden Geschichte erfasst und bis zu ihrem Ende nicht mehr losgelassen werden. Man entdeckt so viel Vertrautes aus aktuellen Polit- und Spionagethrillern!

Selbstverständlich schlägt sich die Entstehungszeit in vielfältiger Weise in der Handlung nieder. Da wäre die Hauptperson, Edward Leithen, ein Angehöriger der britischen Oberschicht, die er in gewisser Hinsicht fast klischeehaft personifiziert. In seinem natürlichen Habitat London ist er als Anwalt und Parlamentarier tätig, sehr gut vernetzt, nicht nur durch die Mitgliedschaft in einem Club.

Eine Männerwelt, die einiges an Staub angesetzt hat; Frauen spielen in diesem Roman fast gar keine Rolle, von Ethel als züchtige Ehefrau eines Freundes abgesehen, die ihre Klugheit in Leithens Augen dadurch unter Beweis stellt, dass sie tut, was er ihr sagt. Dieser Roman besitzt aber auch wegen seines Alters eine Menge Charme, was nicht zuletzt an der – leicht gestelzten – Schilderung der Stadt liegt, aber auch an originellen Grenzüberschreitungen.

Die Aussicht auf eine Reise stieg bei ihm immer zu Kopfe wie Wein.

John Buchan: Der Übermensch

Die Hauptfigur gehört den Konservativen an, sein bester Freund Tommy ist Labour-Abgeordneter; auch ein wichtiger Unterstützer Leithens bei seinen Abenteuern, ein gewisser Chapman, gehört zur Labour-Fraktion. Der Ich-Erzähler macht sich über die Zweiwelten-Beziehung beider Parteien lustig: Öffentlich beharke man sich wie die Kesselflicker, privat pflege man freundschaftliche Beziehungen.

Leithens Freund Tommy  gerät in die Bredouille und bringt durch seinen leichtfertigen Aktivismus das Unheil und damit die Handlung in Gang. Ein Freund von ihm, Pitt-Heron, hat London und England geradezu fluchtartig verlassen, er scheint mit ebenso anrüchigen wie gefährlichen Kreisen kooperiert zu haben, die ihm nach Leib und Leben trachten.

Es entspinnt sich ein Spiel, das den Leser augenblicklich in Bann zieht. Leithen bleibt in London, während der Action-Teil des Romans in der Ferne, Russland, Buchara, stattfindet;  Hauptfigur und Leser werden nur durch kurze Nachrichten, etwa Telegramme, über den Fortgang der Jagd bruchstückhaft informiert. Leithen versucht, die Entwicklung durch logische Überlegungen zu konstruieren und sein eigenes Vorgehen darauf abzustimmen.

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie einen ungewöhnlichen Namen nur einmal zu hören brauchen, uns Sie werden ihm dann eine Zeitlang immer wieder begegnen?

John Buchan: Der Übermensch

Auf den ersten Blick sind es Zufälle, die Leithen voranbringen. Begegnungen, Beziehungen, Gespräche und die Rückschlüsse, die von der Hauptfigur gezogen werden – in Wirklichkeit fallen sie dem Spurensucher wegen seiner Hatz nach Zusammenhängen zu. Nur die Begegnung mit dem Erzbösewicht geschieht durch ein mittlerweile klassisches Motiv aus der Welt des Zufalls: Eine Automobilpanne zwingt Leithen zur Übernachtung in einem Landhaus.

Buchan gibt dem Widersacher, der als solcher offen agiert und gar nicht erst enttarnt werden muss, eine Stimme und die Möglichkeit, Leithen und Leser sein Weltbild (und damit die Ursache der ganzen Probleme) vorzuführen. Dabei geht der Autor geschickter vor, als viele moderne Thriller-Autoren oder Bond-Verfilmer, die den »Was bin ich doch genial«-Monolog vor der Showdown-Acitionszene deplatzieren.

Der Herr einer ziemlich nebulösen Geheimorganisation namens »Kraftwerk« (The Power-House, wie der englische Originaltitel lautet) lässt sich gegenüber seinem Gast in einer schaurig-gemütlichen Kaminzimmer-Düsternis darüber aus, dass man sich der Illusion hingäbe, die Zivilisation sei geschützt; diese Schein-Ordnung basiere aber auf Mittelmäßigkeit, einer Regierung voller zweitrangiger Figuren. Ein entschlossenes Genie werde das System umstoßen.

Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie brüchig diese Zivilisation eigentlich ist, auf die wir alle so stolz sind?

John Buchan: Der Übermensch

Damit bekommt der Gegner Leithens eine monströse Gestalt, weil er ebensolche Ziele verfolgt. Die Handlung touchiert ein wesentliches Motiv, das in variierender Form mehr oder weniger alle Politthriller bis in die Gegenwart berühren: Der dünne, verletzliche Firnis der Zivilisation, die 1913 natürlich ein etwas anderes Gesicht hat als 2023.

Nach dieser Begegnung nimmt der Roman Fahrt auf. Das sommerlich-leichtfüßige London wird für den Protagonisten zu einem Ort der Bedrohung, denn das »Kraftwerk«  ist ein kampfkräftiger, skrupelloser und mächtiger Gegner. Genretypisch gerät der Held in lebensbedrohliche Situationen, wird auf eine wunderbar dramatische Weise durch Londons Straßen gehetzt, während er versucht, seinen Häschern zu entkommen.

Der Übermensch von John Buchan ist sehr lesenswert für alle, die Polit- und Spionage-Thriller mögen. Natürlich atmet der Erzählstil noch das 19. Jahrhundert, für mich war es aber angenehm, einen klassisch erzählten Roman zu lesen. Nach dem Ende wartet noch ein ausführliches Nachwort von Martin Compart, das sehr informativ ist und den Leser die Bedeutung des Romans für das Genre vor Augen führt.

Ebenfalls in der Reihe erschienen & besprochen:
Fearing, Kenneth: Die große Uhr.
A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde.

John Buchan: Der Übermensch
aus dem Englischen von Jakob Vandenberg
Elsinor Verlag 2022
Broschiert 160 Seiten
ISBN: 978-3-942788-67-0

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Kenneth Fearing: Die große Uhr

Die große Uhr ist ein sehr spannender, unterhaltsamer Noir-Thriller aus den 1940er Jahren. Cover Elsinor-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Wer zu einem Klassiker greift, erwartet Patina. Kenneth Fearings Die große Uhr hat in dieser Hinsicht einiges zu bieten. Die Technologie der 1940er Jahre und die an die Zukunft geknüpften, einigermaßen ulkig anmutenden Erwartungen etwa; die Drinks und Rauchwaren immer und überall, vom anfangs aufscheindenden Frauenbild einmal ganz zu schweigen.

Im Fremden schärft sich aber auch immer das Bild der eigenen Gegenwart, als blicke man in einen verzerrten Spiegel, der neben den Unterschieden eben auch Bekanntes wiederkennen lässt. Die Medienkritik, die Fearing übt, lässt sich in vielerlei Hinsicht auf die heutige Zeit übertragen, aber auch seine Sicht der problematischen Seiten einer kapitalistischen Gesellschaft.

Im Kern handelt es sich bei dem Roman aber um einen Noir-Thriller, Spannung gibt es eine Menge, nach einer recht ausführlichen Exposition. Man darf dankbar sein, dass Die große Uhr nicht jene im Übermaß anzutreffende Erzähl-Struktur eines kurzen, dramatischen Häppchens zu Beginn mit nachfolgendem Rückblick aufweist, sondern – klassisch – erzählt. Spannungsjunkies, die schon nach einer halben Seite ihren Kick brauchen, sollten vielleicht besser die Finger von dem Roman lassen.

Ich glaube nicht an eckige Pflöcke in runden Löchern. Der Preis ist zu hoch.

Kenneth Fearing: Die große Uhr

Zwielichtig ist es von Anbeginn an. Die Hauptfigur, George Stroud, lebt in scheinbar wohlsituierten Verhältnissen: Frau, Kind, Job als Chefredakteur einer True-Crime-Zeitschrift, ein eigenes Häuschen in Aussicht. Doch das Selbstgespräch vor dem Spiegel im zweiten Kapitel lässt Abgründe erahnen, die Strouds Leben belasten, privat und beruflich.

Nicht nur Tagträume bilden einen illusorischen Weg aus der als unerträglich empfundenen Realität, der Protagonist ist ein notorischer Fremdgänger. Sein sexuelles Begehren wird ausgerechnet von Pauline Delos geweckt, der Geliebten seines Chefs Earl Janoth, beide landen gemeinsam im Hotelbett und das Drama, das sich von der ersten Seite ankündigt, nimmt seinen Lauf.

Ein jäher Wendepunkt setzt Spiel und Gegenspiel in Gang, das den Leser bis zum Ende in Atem hält. Dank der gelungenen Exposition der Handlung befindet sich George Stroud in einer vertrackten Zwangslage, er muss ein Ermittlungsteam auf sich selbst ansetzen – es ist nicht nur für ihn unheimlich, sein Ego Stück für Stück enthüllt zu sehen. Die gesuchte Person, also er selbst, steht unter Mordverdacht, und so muss Stroud alles tun, um den Fortgang der Suche zu behindern.

(…) stand ich vor dem Janoth-Building, das wie eine unsterbliche Gottheit aus Stein inmitten eines Häuserwaldes aufragt.

Kenneth Fearing: Die große Uhr

Sein eigenes (Fehl-)Verhalten zwingt ihn zu diesem Doppelspiel, er will vermeiden, dass er sein Leben oder seine Familie verliert. Welchen Wert diese hat, angesichts seines Lebenswandels, bleibt offen; er könnte nur um die bequeme bürgerliche Fassade besorgt sein oder aber angesichts des drohenden Verlusts ihre tatsächliche Bedeutung für ihn erkannt haben.

In jedem Fall reicht die Motivation, sich dem lebensgefährlichen Drahtseilakt auszusetzen. Gefahr droht, denn in der vom Takt der »großen Uhr« beherrschten Welt ist ein Menschenleben weniger wert als der ungestörte, reibungslose Fortgang der Maschinen.

Fearing erzählt aus wechselnden Perspektiven, was den Romanfiguren eine gewisse Mehrschichtigkeit  verleiht. So ist der Unternehmer Janoth zwar ein kapitalistischer Geschäftsmann, zugleich aber darauf bedacht, Qualitätsjournalismus in seinen Blättern zu fördern. Durch die Perspektivwechsel kommen außerdem Spiel und Gegenspiel zur Geltung, während die Handlung auf ihr Finale  zustrebt.

Ich kannte das Riskio und den Preis.

Kenneth Fearing: Die große Uhr

Im Hintergrund aber tickt die »große Uhr«, ein Sinnbild für die nimmermüden, allmächtigen Mühlen der kapitalistischen Welt, in der die Menschen gezwungen sind, ihr Leben dem Takt der Uhr anzupassen und nicht – wie es in der amerikanischen Verfassung heißt – nach Glück zu streben. Die Uhr ist aber zugleich ein Symbol der Sterblichkeit, der Tod liegt über der Existenz wie ein mächtiger dunkler Schatten, eine ewige Winternacht. Noir par excellence!

Die große Uhr ist der dritte Band einer Krimi-Reihe des Elsinor-Verlages, die Klassiker der Genres neu auflegt. Herausgegeben wird sie von Martin Compart, der zu dem Roman ein ausführliches Nachwort mit vielen interessanten Informationen zu Autor und Werk sowie Denkanstößen verfasst hat, die der sehr fesselnden und unterhaltsamen Lektüre rückwirkend noch mehr Tiefe verleihen.

Ebenfalls in der Reihe erschienen & besprochen:
Buchan, John: Der Übermensch.
A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde.


[Rezensionsexemplar; daher Werbung].

Kenneth Fearing: Die große Uhr
Aus dem Englischen von Jakob Vandenberg
Klappenbroschur 200 Seiten
Elsinor-Verlag 2023
ISBN 978-3-942788-71-7

Max Frisch: Stiller

Einer der berühmtesten Buchanfänge überhaupt. Sollte man Roman trotz seines Alters noch lesen oder hat sich sein Inhalt im Gestrüpp der Zeit verirrt? Cover Suhrkamp, Bild mit Canva erstellt.

Für gewöhnlich stelle ich in der Rubrik “Lesen!” nur Bücher vor, die ich aus irgendwelchen Gründen für lesenswert halte. In diesem Fall weiche ich davon etwas ab, denn das Buch, um das es hier geht, ist nur bedingt lesenwert.

Der Roman “Stiller” des Schweizer Schriftstellers Max Frisch gehört zur Weltliteratur. Dieses Wort steht für eine Art literarische Maginot-Linie, einen Festungsgürtel, durch den der Leser hindurch muss, wenn er es sich selbst auferlegt hat, ein Werk auf diesem Niveau zu lesen.

Das ist nicht ungewöhnlich. Viele große Bücher sind für den Leser des 21. Jahrhunderts nichts anderes als eine anstrengende  Zumutung. Wer sich einmal durch Dantes Göttliche Komödie oder den Simplicissimus von Grimmelshausen hindurchgekämpft hat, weiß darum. In diesen beiden Fällen gibt es noch Abstufungen der Mühe, denn – glücklicherweise – kann man auf vereinfachte, sprachlich modernisierte bzw. inhaltlich aufbereitete Versionen zurückgreifen.

Puristen mag das entsetzen, ich halte es für eine gute Möglichkeit, diese Literatur vor dem Vergessen und der Bedeutungslosigkeit zu bewahren. Denn im Kern haben die Erzählungen immer noch viel zu sagen, wenn dem Leser eine Möglichkeit geboten wird, sie zu verstehen. Ein wunderbares Beispiel ist Gilgamesh, den ich 2021 als Hörbuch kennengelernt habe.

Vorgelesen und eingebettet in Erläuterungen zur Entstehung bzw. Rekonstruktion ist Gilgamesh eine ganz besondere literarische Reise, bei der gerade das Fremdartige fasziniert. Ganz nebenbei habe ich als literarischer Wegelagerer noch ein großartiges Motiv für meinen Fantasy-Roman mitnehmen können – am Ende war ich hochzufrieden.

Noch nicht zu sehr von der Zeit gefressen

Bei Stiller ist es noch nicht so weit. Man kann der Handlung im Wesentlichen ohne Schwierigkeiten folgen, denn die meisten wirklich unbegreiflichen Sachen sind leicht zu klären oder einfach zu ignorieren. Problematischer sind jene Dinge, die von der Zeit und der gesellschaftlichen Entwicklung gefressen wurden.

Zwangslagen und Probleme der handelnden Figuren sind heute oft genug keine mehr; kurioserweise würde der technische Fortschritt einen Teil des Romans mehr oder weniger unmöglich machen – wer könnte heute schon so einfach „verschwinden“?

Und doch beginnt auch Stiller um- und überwuchert zu werden. Ich habe das Buch zweimal gelesen, zwischen beiden Lektüren liegen fast fünfundreißig Jahre. Was beim ersten Durchgang noch wie ein Leuchtfeuer wirkte, etwas mehr als dreißig Jahre nach dem Erscheinen, ist heute zumindest teilweise von den Rauchschleiern der Zeit verschluckt worden.

Lesen und sezieren

Der Kern des Romans ist und bleibt aktuell. Frisch hat diesen Kern in eine gewundene, vielfach zeitlich gebrochene und von langen Rückblicken geprägte Struktur gegossen, sie mehr oder weniger darin verborgen, umrankt von wuchernden Betrachtungen, Gesprächen und Berichten. Als Leser fühlt man sich oft wie ein Pathologe, der sezieren muss, um zum Wesentlichen vorzudringen. Schafft man das, entfaltet das Buch auch 2022 eine immense Wucht.

Vor allem der erste Satz, der in der Literatur ohnehin von fast einmaliger Wirkung ist, wird am Ende der Aufzeichnungen jener Person, die nicht Stiller sein will, so stark aufgeladen, dass er fast zu ächzen scheint wie ein überfrachteter Ochsenkarren. Fast.

Frisch wäre nicht Frisch, wenn er den Leser entkommen lassen würde, ohne einen langen, erklärenden Nachtrag, der die bis dahin bestimmende Form und Struktur bricht. Und selbstverständlich allem eine tragische Note gibt. Der Autor ist sich treu geblieben.

Lesen? Ja, aber…

Lohnt es sich also, den Irrungen Stillers nachzugehen? Wer reines Komfort- und Unterhaltungslesen anstrebt, sollte die Finger davon lassen. Der Roman ist kein literarischer Diwan zum Ausspannen, sondern eine Bergtour für das Gehirn, bei dem Fleiß und Durchhalten eine ebenso große Rolle spielen, wie die Begeisterung über viele absolut großartige Passagen. Man kann, muss aber nicht.

Max Frisch: Stiller
Suhrkamp Verlag 2021
Ersterscheinungstermin 1973
Broschur, 448 Seiten
ISBN: 978-3-518-36605-9

© 2023 Alexander Preuße

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