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Schlagwort: Mittelalter

Neil Price: Die wahre Geschichte der Wikinger

Ein monumentales Werk über die Welt der Wikinger, die Hingabe des Autors ist auf jeder Seite spürbar. Cover S.Fischer, Bild mit Canva erstellt.

Nach rund vierhundertdreißig Seiten wird im voluminösen Werk von Neil Price jene Frage gestellt, die in den zurückliegenden Jahren eine recht breite Öffentlichkeit beschäftigte: Gab es Kriegerinnen unter den Wikingern? Heraufbeschworen wurde diese Frage nicht zuletzt durch die sehr erfolgreiche Filmserie Vikings, in der eine Figur namens Lagertha unter anderem in diese Rolle schlüpfte.

Da Filme bzw. Serien in der Regel eine sehr viel größere Reichweite haben und entsprechend das Bild von »der« Geschichte stärker prägen als jedes Buch, ist die »starke, eigenständige Wikinger-Frau« zu einem Topos geworden, der eine Menge über die Gegenwart aussagt – aber nicht unbedingt mit der Vergangenheit in Einklang zu bringen ist.

Price spricht von einem Klischee. Die Realität, wie sie in den Quellen nachzuweisen ist, ist profaner, komplizierter und in gewisser Hinsicht zufriedenstellend. Frauen und Männer hatten grob gesagt grundsätzlich zwei sehr verschiedene, durchaus voneinander abgegrenzte Bereiche, die Frau im Haushalt, der Mann außerhalb.

Nun ist »Haushalt« in der Wikinger-Zeit etwas grundsätzlich anderes als Küche und Kinderzimmer (beides gab es nicht) der wohlig-konservativen Heile-Welt-Ideologie; »Haushalt« meint alle Familienmitglieder, Knechte, Sklaven, deren Versorgung, finanzielle Dinge und vieles mehr. Damit ist, so Price, erhebliche Macht verbunden, sehr viele, Frauen mussten (überlebens-)wichtige Entscheidungen treffen.

Die Zweiteilung der Welt spiegelt sich auch in der Kleidung der Wikinger, die überraschenderweise als Saubermänner und -frauen daherkommen, weil sie vergleichsweise viel Wert auf Körperpflege und Äußeres legten. In Männerkleidung sind Frauen so selten geschlüpft, wie sie Männerrollen übernommen haben – aber das kam eben vor. Und es gab tatsächlich Kriegerinnen und damit Frauen, die ganz explizit im Kerngeschäft der Männerwelt tätig waren.

Das ist nur ein – nebensächlicher – Aspekt in dem gewaltigen Werk, das Neil Price geschaffen hat, aber er sagt einiges über die Herangehensweise des Autors. Er schildert die Welt der Wikinger sehr systematisch und klar strukturiert, fängt bei den Grundlagen während der Zeit der Römer an, zu denen die im Norden Europas lebenden Menschen ausgiebige Kontakte pflegten; schildert die Übergangs– und Krisenzeit des sechsten und siebten Jahrhunderts und entwirft ein Erklärmodell, wie und warum sich die spezifische Wikingergesellschaft herausgebildet hat.

Das wirkt alles fundiert und wird bemerkenswert gut und nachvollziehbar dargeboten. In der Mitte des Buches trägt der Leser bereits einen ganzen Sack an interessanten Informationen mit sich herum, wenn es um die Quintessenz der Nordmänner geht: Die bewaffneten Raubzüge und die Expansion. Es würde den Rahmen sprengen, hier auch nur eine Skizze zu liefern, wie und warum sich diese Entwicklung vollzogen hat.

Einhundert Jahre nach Lindisfarne, also schon richtig in der Wikingerzeit, hatten die Skandinavier auf der politischen Landkarte Europa bereits unauslöschliche Spuren hinterlassen.

Neil Price: Die wahre Geschichte der Wikinger

Price ist das Kunststück gelungen, die Betrachtungsweise der Ereignisse um den berühmt-berüchtigten Überfall auf das Kloster Lindisfarne 792 nach Christus, die als Auftakt der Raub- und Plünderzüge gesehen werden, neu einzuordnen und auszulegen. Daran knüpft er die Darstellung und Analyse der verblüffend schnellen Eskalation an, die innerhalb weniger Jahrzehnte zur Wikinger-Herrschaft über fast ganz England führte!

Manche Dinge, die Price aufführt, sind atemberaubend. Die Franken haben sich gegen die Bedrohung durch hohe Geldzahlungen zu schützen versucht. Laut Price sind dabei insgesamt rund 14 Prozent der gesamten Münzprägung des Frankenreiches an die Wikinger geflossen – wohlgemerkt: eines Jahrhunderts! Vierzehn von einhundert Jahre haben die Münzstätten allein für die Zahlungen an die Wikinger gearbeitet!

Hinzu kamen noch unzählige Verluste durch Naturalien, Verschleppte und Zerstörungen, außerdem Kosten für den Festungsbau usw. Für die Wirtschaft des fränkischen Reiches waren die Wikinger eine verheerende Plage. Price lässt auch keinen Zweifel daran, mit welcher Brutalität und Gnadenlosigkeit sie dabei vorgingen, es bleibt keinen Platz für jegliche Form der Verherrlichung oder Stilisierung. Tod, Verderben, Vergewaltigungen, Versklavungen für den eigenen Bedarf und ferne Märkte – die Liste der Schandtaten ist lang.

Die Wikinger waren nicht nur Sklavenhändler – die Entführung, der Verkauf und die Zwangsausbeutung von Menschen waren auch stets ein zentraler Pfeiler ihrer Kultur.

Neil Price: Die wahre Geschichte der Wikinger

Da diesen Schattenseiten eben auch kulturelle Höchstleistungen gegenüberstehen, man denke nur an den Schiffsbau, den mehr oder weniger globalen Handel, die unglaublichen Entdeckungsfahrten usw., bleibt ein im Grunde genommen typisches, sehr menschliches Bild, ein epochemachendes Reich mit seinem umfassenden Einfluss auf die Zeit seiner Existenz.

Vor allem merkt man diesem Buch an, wie sehr der Autor mit dem Thema verhaftet ist. 1408 wurde auf Grönland die letzte christliche Hochzeit gefeiert, die überliefert ist. Zum Jahrestag 2008 ist Neil Price mit anderen dorthin gefahren, um diesen Jahrestag zu begehen, Eindrücke zu sammeln und davon in seinem Buch zu berichten. Bücher können bewegen, wenn das Thema ihre Autoren bewegt. So ist das in diesem monumentalen Werk auf jeder einzelnen Seite.

Trivia: Besonders gern habe ich Price’ Bemerkungen über das Verhältnis von Wikingern und den Piraten des 17. / 18. Jahrhunderts gelesen; meine eigene Arbeit schlägt nämlich auch eine Brücke, nämlich im vierten Teil meiner Abenteuerreihe um die Piratenbrüder. Das Buch spielt auf zwei Zeitebenen, 1735 und 1010. Der Titel: Vinland.

Neil Price: Die wahre Geschichte der Wikinger
aus dem Englischen von Ursula Blank-Sangmeister
S. FISCHER 2022
Hardcover 768 Seiten
ISBN: 978-3-10-397255-9

Christian Grataloup: Die Geschichte der Welt

Ein ganz wunderbares Projekt ist dieser Atlas, trotz der kritischen Aspekte, die ich in meiner Besprechung vorbringe, möchte ich ihn nicht missen. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Was für ein wunderbarer Schmöker! Wer in seiner Schulzeit eine Karten-Phobie erworben hat, sollte dennoch einen Blick wagen. Es wird nicht bei einem bleiben, denn hunderte von Karten laden dazu ein, ausgedehnte Streifzüge durch die Geschichte zu unternehmen.

Die Zusammenstellung ist sehr vielfältig, Christian Grataloup folgt dabei dem Weg der Reduktion, damit die großen, langen Linien nicht von zu vielen Details verstellt werden. So entdeckt der Leser sehr interessante Karten, die einen ganz neuen Blick auf die Geschichte der Welt eröffnen, als handelte es sich um frisch eingefügte Fenster, welche die Sicht auf bislang unbekannte Landschaften freigeben. Neben altbekannten, vertrauten Karten gibt es enorm viel Neues zu entdecken.

Ein schönes Beispiel ist Afrika. Eine Darstellung befasst sich mit der »Sahara, bevor sie Wüste wurde«. Der Leser wird auf die Wandlung der Welt aufmerksam, etwa bei der Darstellung des Tschad-Sees, ihm wird bewusst, wie schnell sich ein ehemals feuchtes Gebiet in eine lebensfeindliche Trockenöde verwandeln kann.

Diesem umwelthistorischen Aspekt folgt eine weitere, die sich mit der Metallgewinnung in Afrika in der Zeit vor Christi Geburt befasst. Solche Karten haben einen hohen Wert, denn sie entreißen jene Gebiete, die lange aus europäischer Sicht »unkultiviert« galten, aus dem Schatten des Vorurteils zugunsten eines differenzierteren Bildes.

Neben solchen Fokus-Karten gibt es welche, die globale Zusammenhänge darstellen. Ein schönes Beispiel ist die Antike, etwa um 200 n. Chr. Gewöhnlich wird auf Karten zu dieser Zeit die größte Ausdehnung des abgebildet, man sieht noch die Germanenstämme oder das Parther-Reich im Osten – nicht aber China und die beide Welten miteinander verbindenden Linien. Diese Lücke schließt Grataloups Atlas.

Wunderbarer Lesebegleiter

Für mich als Leser bietet der Atlas noch eine ganz andere, unschätzbare Möglichkeit, nämlich als Lesebegleiter, der einen schnellen Blick auf eine Karte ermöglicht, die das Lesen erleichtern oder bereichern bzw. eine kurze Orientierung ermöglichen, ohne im Internet suchen zu müssen.

Zwei Beispiele: Éric Vuillards jüngster Roman Ein ehrenvoller Abgang schildert die Zustände in Indochina und die Schlacht um Cao Bang mit ihren verheerenden Folgen für die französischen Kolonialtruppen. Der Atlas von Christian Grataloup bietet eine wunderbare Karte zu diesem Thema, man erhält auf einen Blick einen Eindruck davon, worum es sich bei »Indochina« eigentlich handelt, wie die Machtverhältnisse im Jahr 1950 waren und wo Cao Bang eigentlich liegt.

Die Karte gibt auf einen Blick eine Menge Informationen rund um das Thema Indochina-Krieg – die Informationen im Kästchen rechts daneben zu Dien Bien Phu sind etwas arg verkürzt.

Sicherlich kann man Vuillards Roman auch ohne genauere Kenntnis der Umstände lesen und verstehen, aber mit dieser vertieft sich das Lesen. Das gilt auch für den brillanten Roman Der schmale Pfad durchs Hinterland von Richard Flanagan, der die fürchterlichen Zustände in einem japanischen Kriegsgefangenenlager in Burma schildert. Dort wird eine Eisenbahn durch den Dschungel getrieben, man kann sich auf der Karte »Die Bahnlinie des Todes« auf einen Blick einen Eindruck über das Wo und Wie verschaffen.

Hervorgehoben wird die Kwai-Brücke – was sicherlich im Zusammenhang mit dem berühmten Kino-Film steht; für Leser des Buches von Flanagan wird es mit dieser Darstellung sehr viel leichter, die Handlung zu verorten.

Die Liste dieser Beispiele ließe sich problemlos fortsetzen. Natürlich hat ein Atlas im Gegensatz zum Internet Grenzen, dieser ist im Umfang limitiert, jenes zumindest theoretisch grenzenlos. Dafür folgt Die Geschichte der Welt einem klaren und transparent formulierten Konzept, nämlich die langen Linien der historischen Entwicklung der Menschheit darzulegen, ohne in historischen Details zu ersticken. Das Internet ist naturgemäß in dieser Hinsicht nicht aufgearbeitet und angesichts der wirren Überfülle verheddern sich Streifzüge rasch im dichten Informationsgestrüpp.

Einige kritische Anmerkungen

Allerdings darf man die Auswahl der Karten durchaus kritisch hinterfragen. Frankreich spielt in vielen Fällen eine völlig unangemessene prominente Rolle. So werden die Leser recht ausführlich über die Feldzüge Ludwigs XIV. informiert, während der komplette Dreißigjährige Krieg auf einer einzigen Karte abgefertigt wird. Die ist, bei allem nötigen Respekt, bar jeder Aussagekraft, sie verwirrt eher, als sie irgendetwas erklärt.

Der französische Akzent dieser Weltgeschichte ist in vielen Aspekten spürbar (z.B. bei den Indochina-Karten) und steht im Missverhältnis zu der tatsächlichen Relevanz. Zwar lässt sich die recht ausführliche Schilderung der Französischen Revolution sowie Napoleons durchaus rechtfertigen, nicht jedoch die vielen Karten zur (aus deutscher Sicht) westlichen Front im Ersten Weltkrieg.

Geradezu befremdlich ist eine Karte, die sich der französischen Widerstandsaktionen im Zweiten Weltkrieg annimmt. Einmal ist die tatsächliche Bedeutung von Partisanenbewegungen für den Kriegsverlauf generell fraglich, zweitens stellt sich die Frage, warum Frankreich und nicht etwa die Sowjetunion, Polen, die Ukraine oder die Balkanstaaten ausgewählt wurden, die bezüglich ihrer militärisch-politischen Bedeutung eher Beachtung verdienten.

Dieses Ungleichgewicht treibt Blüten bei jener Karte, die sich mit »Afrika im Zweiten Weltkrieg (1940 – 1945)« befasst, was allein wegen der genannten Zeitspanne befremdet, dann nach Mai 1943 befanden sich keine Achsenmächte mehr auf afrikanischem Boden; vor allem ist die große Karte auf Nordafrika beschränkt, die viel interessantere und weitgehend ignorierte personelle Beteiligung von Kolonialtruppen am Krieg bleibt ungenannt.

Grotesk ist, dass Grataloup zwei vernachlässigenswerte Operationen freifranzösischer Truppen eigens aufführt, darunter das Scharmützelchen bei Bir Hakeim. In einem Atlas, der sich mit großen weltgeschichtlichen Linien auseinandersetzt, hat das nun gar nichts zu suchen. Frankreich war nach 1940 militärisch zweitrangig und blieb es defacto bis zum Kriegsende; eine Karte, die über die Kollaboration in Europa während dieser Zeit informiert, wäre für die Nation vermutlich wenig schmeichelhaft.

Unangemessene Begrifflichkeit

Es verwundert, dass noch immer von „polnischen Teilungen“ die Rede ist; die »Teilungen Polens« wäre der korrekte Begriff, denn er unterstreicht, dass der vernichtete Staat das Opfer war. Es wäre zudem wünschenswert gewesen, in diesem Zusammenhang auf die vierte Teilung 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt zu verweisen, entweder durch eine Brechung der Zeitfolge oder einen Verweis auf die entsprechende Karte im Buch.

In Bezug auf die Krim wird eine haarsträubend tendenziöse Formulierung gebraucht. Die Karte ist allen Ernstes mit „Die russisch-ukrainische Krise“ überschrieben, in der Legende heißt es wörtlich „Neue russisch-ukrainische Grenze“. Der Hinweis im Text, dass der Annexion der Krim durch Russland eine „international nicht anerkannte Volksabstimmung“ vorangegangen sei, ist irreführend: Vorausgegangen war eine militärische Angriffsoperation und Besetzung der Krim und damit ein eklatanter Rechtsbruch.

Solche sprachlichen Regelungen trüben den sehr positiven Gesamteindruck des Atlas. Daher sei hier ein Hinweis gestattet: Karten bilden nie so etwas wie Wirklichkeit oder gar Wahrheit ab, sondern immer eine Interpretation, eine Weltsicht. Kritische Lektüre ist immer nötig – aber mündige Leser werden durch einen Atlas wie diesen auch dazu angeregt.

[Rezensionsexemplar]

Christian Grataloup: Die Geschichte der Welt – Ein Atlas
Aus dem Französischen von Martin Bayer, Katja Hald, Anja Lerz, Reiner Pfleiderer und Albrecht Schreiber
C.H. Beck 2022
Gebunden 642 Seiten
ISBN: 978-3-406-77345-7

© 2023 Alexander Preuße

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