Eine epische Grafic Novel erzählt die Ereignisse der dem Abgrund entgegentaumelnden Weimarer Republik aus vielen, spannenden Perspektiven. Cover Verlag, Bild mit Canva erstellt.
Volker Kutscher, Autor der von mir sehr geschätzten Romane um den KriminalkommissarGereon Rath, ist es zu verdanken, dass ich auf diesen Schatz aufmerksam geworden bin. Seine lobenden Worte auf dem Cover dieses wahrlich dicken Schinkens haben mich zu einem zweiten Blick bewogen, obwohl ich mit Grafic Novels bislang nicht so viel anfangen konnte.
»Ein opus magnum, eine Sinfonie der Großstadt, eine Comic-Sinfonie.« Kutschers Worte erweisen sich als wahr: Die Lebensumstände im Berlin der Jahre 1928 bis 1933 werden vielschichtig erzählt und ganz wundervoll ins Bild gesetzt. Die Darstellung wirkt karstig, garstig, schwarz-weiß und frei von allem Glamour.
Freunde von »Babylon Berlin« werden möglicherweise die Nase rümpfen, denn in Lutes Berlin gibt es keine Charlotte Ritter; die Figuren bilden ein breites, widersprüchliches Spektrum der Bevölkerung und sozialer Schichten ab, Jason Lutes hat es meisterhaft verstanden, in kargen Zeichnungen ihre Befindlichkeiten einzufangen.
Geschickt werden Ereignisse und Begebenheiten neben- und nacheinander montiert, Lutes verzichtet zum Glück auf jede Form moralinsaurer Belehrungen. Trotzdem bezieht »Berlin« klar Stellung gegen die brutalen, grobschlächtigen und in ihrem Wesenskern gar nicht so unähnlichen Gewaltextreme der Zeit.
Vor- und Nachwort geleiten den Leser, außerdem findet sich in der Gesamtausgabe noch ein sehr interessantes Interview mit dem Zeichner. Toll hat mir das Berlinern einiger Figuren gefallen und – soviel darf gesagt werden – es endet trotz der Machtübertragung an Hitler 1933 nicht alles in depressiver Schwärze.
[Ein Bibliotheksfund, daher unbezahlt]
Jason Lutes: Berlin aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders Berlinerisch von Lutz Göllner Carlsen Verlag 2019 HC 610 Seiten ISBN 978-3-551-76820-9
Der Putschversuch Adolf Hitlers am 08. / 09. November 1923 bildete den nach außen sichtbaren Teil einer umfassenden Rechtsverschwörung gegen die Republik. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.
Manchmal lassen sich die Dinge auf einen einfachen Nenner bringen. »Der Hitler-Putsch war keineswegs nur Hitlers Putsch.« Nach der Lektüre dieses wunderbaren Buches kann man dem nur nachdrücklich zustimmen. Wolfgang Niess legt in seinem spannenden und auch für Laien gut lesbaren Buch Der Hitlerputsch 1923 dar, was für eine umfangreiche, rechte Verschwörung die strauchelnden Republik von Weimar im vierten Jahr ihrer Existenz bedrohte.
Schule und Studium haben bei mir einen etwas anderen Eindruck hinterlassen. Kapp-Lüttwitz-Putsch und Hitler-Putsch sind für mich über lange Jahre eher Randerscheinungen gewesen, die man getrost vernachlässigen konnte. Mehr oder weniger dilettantische Versuche, die noch junge Demokratie auf rabiate Weise in eine Diktatur zu verwandeln. Auch der Mord an Persönlichkeiten wie Matthias Erzberger und Walther Rathenaugehörten eher in die Rubrik folgenloses Aufbegehren Ewiggestriger.
Ein Irrtum.
Schon 1922 hatte sich eine umfangreiche Verschwörung formiert, die keineswegs aus einer kleinen Schar rückwärtsgewandter Allmachtsträumer bestand. Allein die Organisation Consul bzw. Wiking des Putschisten Herrmann Ehrhardt hätte zehntausende Kämpfer mobilisieren können, hinzu kamen die Alldeutschen, der Bund der Frontsoldaten und der Stahlhelm. In Bayern gab es einen ganzen Strauß an Wehrverbänden, national, monarchistisch, völkisch, nationalistisch und eben auch Hitlers Kampfverbände.
Den Überblick zu behalten, ist nicht einfach, allein wegen der vielfachen Umbenennung, Zusammenlegungen, Trennungen. Natürlich spielten Kriegsveteranen eine zentrale Rolle in allen diesen Verbänden, ebenso die zahllosen Freikorps, die nach dem Krieg eine halbreguläre Parallelarmee neben der Reichswehr bildeten. In den Kämpfen nach innen gegen tatsächliche und erfundene kommunistische Gegner, aber auch nach außen gegen die Rote Armee, Polen usw.
Von Hitler war im Oktober 1923 wenig zu hören. In dieser Zeit wurde das Spiel von anderen bestimmt.
Wolfgang Niess: Der Hitlerputsch 1923
Hitler hat in diesem rechten, antidemokratischen und gewalttägigen Mahlstrom keineswegs die erste Geige gespielt, auch wenn die Nationalsozialisten nach 1933 eifrig an diesem Bild arbeiteten, während die hauptsächlichen Verschwörerkreise und ihre Unterstützer in den Institutionen und der Gesellschaft nach 1923 versuchten, die eigene Verantwortung loszuwerden, indem sie diese auf Hitler abwältzten und sich wegduckten.
Es gehört zu den großen Vorzügen des Buches, die gewaltige Masse des Umsturzeisberges, von dem Hitler bestenfalls die Spitze war, aufzuzeigen. »Auf nach Berlin!« war im Herbst 1923 keineswegs nur Hitlers Motto, es gab weitreichende Pläne, Auf- und Durchmarschabsichten, um »Mussolinis Marsch auf Rom« im Reich nachzuahmen.
Die Hetze gegen die demokratisch gewählte Regierung in Berlin, die mit der explodierenden Inflation und der Ruhrbesetzung zu kämpfen hatte und über Monate an einem Abgrund entlangtänzelte, war ungeheuerlich. Ausgerechnet jemanden wie Reichskanzler Stresemann als Teil einer »sozialistischen Judenregierung von Landesverrätern« zu diffamieren, ist infamer Hohn, allein dazu gedacht, brutalste Gewaltmaßnahmen zu rechtfertigen.
»Auf nach Berlin!«
Wolfgang Niess: Der Hitlerputsch 1923
In diesen Aspekten unterschieden sich die Verschwörer kaum, eher in der Frage, wie und unter welchen Bedingungen man den »Marsch auf Berlin!« wagen sollte. Hitler war in diesem Punkt der Ungestüme, der Spieler, der auch mit mäßigen Karten bei hohem Einsatz mitgehen wollte; aber nicht in allen Punkten dilettantisch vorging. Niess stellt einen interessanten Zusammenhang her.
Am 01. Mai 1923 erlitt Hitler schon einmal Schiffbruch mit dem Versuch, sich gegen die Landespolizei und Reichswehr zu stellen. Niess meint, dass er aus dieser Niederlage gelernt und bei seinem Putsch-Versuch im November darauf gesetzt habe, mit von Kahr (Staatskommissar), Gessler (Polizei) und von Lossow (VII. Reichswehrdivision) die für Gelingen oder Scheitern eines Umsturzes entscheidenden Institutionen hinter sich zu bringen.
Hitler wusste wohl genau, dass er gegen die Exekutivkräfte des Reichs chancenlos war, also versuchte er mit einem Manöver aus Gewaltandrohung, Überredung und euphorisierender Propagandarede im Bürgerbräukeller gegenüber den Verantwortlichen die Voraussetzungen für den Erfolg eines Marsches auf Berlin zu schaffen. Der improvisierte Marsch am 09. November diente primär Propagandazwecken und mündete gleichwohl in einem blutigen Fiasko, der Hitler beinahe das Leben gekostet hätte.
Halb Bayern wollte im November 1923, dass der Marsch nach Berlin angetreten wird. Das Schicksal der Republik hing tatsächlich an einem seidenen Faden.
Wolfgang Niess: Der Hitlerputsch 1923
Es ist in gewisser Hinsicht faszinierend, wie die rivalisierenden Kräfte um den richtigen Weg miteinander rangen, zu denen auch Reichswehrchef Seeckt und sein Streben nach einer nationalen Diktatur gehörten. In dieser für das Reich dramatischen Situation, in der kurioserweise die Inflation gerade erfolgreich überwunden wurde, wird der Leser von den sich überstürzenden Ereignissen regelrecht mitgerissen.
Der Hitlerputsch 1923 – Geschichte eines Hochverrats geht auch ausführlich auf die ungeheuerlichen Ereignisse nach dem Putsch ein. Die groteske Veranstaltung des Hitlerprozesses endete nicht etwa mit der Todesstrafe oder wenigstens der Ausweisung des hochverräterischen Österreichers (!), sondern mit einer Verurteilung zu milder Festungshaft. Die alles verschleiernde »Aufarbeitung«, die helfenden Hände für den Jahre in der Versenkung verschwindenden Hitler und sein Comeback nach 1928 erlebt der Leser mit einem Schaudern.
Ein kleines Fragezeichen habe ich hinter eine Sache gesetzt: Niess meint, Hitler hätte vor dem Leipziger Staatsgerichtshof statt vor einem bayerischen Gericht abgeurteilt werden müssen, was nach Meinung des Autors zu einer angemesseneren Verhandlung geführt hätte. Angesichts der grotesken Prozesse gegen die Mörder Rathenaus, die in Leipzig verhandelt wurden, darf das bezweifelt werden.
Dieser kleine Einwand mindert den rundum positiven Eindruck des Buches keineswegs. Wolfgang Niess Buch über den Hitlerputsch 1923 ist sehr spannend, informativ und bestens geeignet, sich einhundert Jahre danach an die Republik am Abgrundzu erinnern, in dem sie knapp zehn Jahre später versank.
[Rezensionsexemplar]
Wolfgang Niess:Der Hitlerputsch 1923 C.H.Beck 2023 Gebunden 350 Seiten mit 30 Abbildungen ISBN: 978-3-406-79917-4
Der fünfte Teil der Reihe um Kriminalkommissar Gereon Rath ist äußerst stimmungsvoll um einen sehr spannenden Fall gewoben. Cover KiWi, Bild mit Canva erstellt.
Gelesen – natürlich im März. Neunzig Jahre nach den Ereignissen, die den historischen Hintergrund für den fünften Mordfall bilden, den Kommissar Gereon Rath zu lösen hat; wann passt die Lektüre schon einmal so gut? Und wann ist ein Roman so gut informiert, versteht es, den Zeitgeist, braun und gewalttätig, so mitreißend einzufangen, ohne den Zeigefinger studienrätisch zu schwingen, sondern einen wirklich spannenden Kriminal-Thriller zu erschaffen?
Das Wort »Kulisse« wäre herabwürdigend, denn Volker Kutscher hat Märzgefallene so gestaltet, dass die historischen Ereignisse den Gang der Ermittlungen massiv beeinflussen. Rath und seine Verlobte, Charlotte Ritter, werden in den Mahlstrom der Ereignisse nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler hineingezogen, der Brand des Reichstags, die Grausamkeiten der zur Hilfspolizei aufgewerteten SA und die Durchdringung der Behörden durch die neuen Machthaber.
Vom Zauber und Charme der Weimarer Republik ist nicht mehr viel geblieben. Hakenkreuzfahnen allüberall, Aufläufe, brutale Gewalttaten, während viele Bürger versuchen, ihren normalen Alltag inmitten des radikal antidemokratischen Umsturzes zu leben, andere den neuen Machthabern in devoter Haltung entgegenkommen, sich anpassen, Opportunisten. Standfestigkeit führt aufs Abschiebegleis oder zieht Schlimmeres nach sich.
Der geschönte Krieg, für die Familie daheim.
Volker Kutscher: Märzgefallene
In beklemmenden Szenen zeichnet Kutscher nach, wie aus den Vorbänden bekannte Figuren, etwa der bereits geschasste Polizeipräsident Bernhard Weiß, um ihr Leben bangen müssen, wenn der braune Mob heranwalzt und von der Schutzpolizei nicht gehindert die Privatwohnung stürmt. Mit den Hauptfiguren, vor allem Charlotte Ritter, fühlt man die Hilflosigkeit und Ohnmacht, mit Gereon Rath die Neigung, Wegzusehen, Abzuwiegeln und Weiterzuwurschteln.
Wer nicht entkommen kann, nimmt Schaden an Leib und Leben. Das bekommt auch die Unterwelt zu spüren, die in Gestalt von Johann Marlow auch in diesem Teil wieder mitmischt, was dem Autor vielfältige kreative Spielräume eröffnet, die dieser weidlich nutzt. Auf diesem Weg nimmt Kutscher nämlich den Leser mit hinab ins Inferno der SA-Gefängnisse, in denen schon ganz zu Beginn des so genannten »Dritten Reichs« tausende gebrochen, versehrt und getötet wurden, nach unsäglichen Qualen.
Rath muss in diesem tobenden Durcheinander mehrfach seinen geschmeidigen Umgang mit Recht, Ordnung und Regeln unter Beweis stellen, um nicht zwischen den Mühlsteinen zermahlen zu werden. Bei allen Auseinandersetzungen zwischen dem sich unpolitisch gebenden Rath und der engagierten und klarsichtigen Charlotte Ritter geben beide dem Drang zu Extratouren allzu gern nach, um der Ödnis des Dienstes zu entgehen und den Fall voranzutreiben.
Dieser berührt einen Todesfall ganz besonderer Art, der seine Wurzel – wie so oft bei Kutscher – in der noch weiter zurückliegenden Vergangenheit. Märzgefallene bezieht sich auch auf Ereignisse aus dem März 1917, als während einer Rückzugsoperation gewaltige Zerstörungen im Frontgebiet angerichtet wurden. Dabei soll es zu einer folgenschweren Tat gekommen sein, die einen Beteiligten sechszehn Jahre später zu der Veröffentlichung eines Romans animiert, mit dem Titel: Märzgefallene.
»Die Operation Alberich«, sagte Roddeck. »Ich war seinerzeit mittendrin. Wir haben das Gebiet evakuiert, Straßen vermint, Schienen zerstört und in den verlassenen Dörfern Sprengfallen gelegt, Brunnen vergiftet und was sonst noch alles nötig war.«
Volker Kutscher: Märzgefallene
Volker Kutscher ist es wiederum gelungen, einen schlüssig aufgebauten, vielschichtigen Fall zu konstruieren, die unvermeidlichen Twists bei der Aufdeckung der Motive und Hintergründe erscheinen folgerichtig und logisch. Vor allem sind sie spannend und verwickelt, so dass auch Leser gewöhnlicher Krimis auf ihre Kosten kommen.
Doch ist die Atmosphäre, die Kutscher in seinen Märzgefallenen zu schaffen versteht, der heimliche Star dieses Romans. Wenn der Showdown naht, der verwickelte und komplizierte Fall gelöst ist und Rath eine Idee entwickelt, das Ganze zu einem halbwegs verträglichen Ende zu führen, wütet zeitgleich die berüchtigte Bücherverbrennung. Das ist keinesfalls nur Kulisse, aber selbst als solche wäre sie einfach großartig.
Eine Besonderheit kostet der Autor auch im fünften Band seiner Reihe voll aus: Kommissar Gereon Rath ist nicht pflegeleicht oder gar stromlinienförmig. Er hat ein gutes Händchen, Motive und Zusammenhänge aufzudecken, aber auch, sich persönlich in Schwierigkeiten zu bringen. Er ist katholisch in dem Sinne, dass Paris eine Messe wert ist – etwa durch Gefälligkeiten für und von dem Unterweltboss Johann Marlow. Diese Kooperation macht Rath faktisch zu einem bestechlichen Beamten.
Rath nickte.
Volker Kutscher: Märzgefallene
Die Ambivalenz reicht darüber hinaus in den politischen Bereich, dem die Hauptfigur mit naiver Verharmlosung und einem gehörigen Konservativismus begegnet. Das führt zu massiven Spannungen mit Charlotte Ritter, die als hehre Verteidigerin von Demokratie gezeichnet ist, Ohnmacht empfindet, Ekel und Trauer, während sie versucht, den herabstürzenden Trümmern des zerbrechenden Systems auszuweichen.
Für mich als historisch interessierten Leser sind die Verbindungen zu anderen Büchern faszinierend. Wunderbar ergänzend zu den ersten fünf Teile der Reihe ist etwa Höhenrausch von Harald Jähner, wer das Buch kennt, für den gewinnt die Handlung noch einmal beträchtlich an Tiefe. Das gilt bei der Lektüre von Märzgefallene auch für Uwe Wittstocks, Februar 33: Während Gereon Rath noch glaubt, es könne sich alles zum Guten wenden, hat ein Brain Drain durch massenhafte Intellektuellen-Flucht schon stattgefunden.
Manche Kapitel lassen den Leser fassungslos zurück. Martin Sabrows detaillreiche Studie vermeidet glücklicherweise Gleichsetzungen mit der Gegenwart. Cover Wallstein-Verlag, Bild mit Canva erstellt.
In der vierten Staffel der Spielfilmserie »Babylon Berlin« findet ein Gerichtsprozess statt, der die Veröffentlichung von Details über die geheime, vertragswidrige und das Völkerrecht brechende Aufrüstung Deutschland behandelt. Ein Unrechtsprozess, entwürdigend für die angeklagten Journalisten, empörend für deren Verteidiger und die Zuschauer vor dem Bildschirm; ja, auch ein wenig stiefelig in seiner grobgezeichneten Art.
Die Meinung über die zunächst holzschnittartige Darstellung des Richters und der Prozessumstände relativiert sich auf eine – ja, man kann es nicht anders nennen – dramatische Weise bei der Lektüre von Martin Sabrows ausgezeichnetem Buch Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution. Die historische Wirklichkeit war in monströser Weise grotesk; zugleich wird die Motivation von Zeitgenossen wie dem Film-Richter aus »Babylon Berlin« von dem Vorwurf, nur ein vergröbernder Holzschnitt zu sein, freigesprochen.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt stand der Republik ein Gegner gegenüber, der nach Stärke und Taktik für einen neuen Anlauf zum Kampf um die Macht im Land ungleich besser gerüstet war als beim ersten Putschversuch vom März 1920.
Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution
Den Leser von Sabrows detailreicher und umfassender Darstellung beschleicht recht bald ein Frösteln, das sich spätestens bei dem Kapitel über den Prozess gegen die »Organisation Consul« in großes Frieren verwandelt hat. Das, was dort geschildert wird, war kein Justizversagen; es war der gelungene Versuch, über eine Terror- und Umsturzorganisation einen Schleier zu werfen. Die Gegner agierten taktisch und strategisch vor Gericht gut, trotzdem: ohne den Beistand der Anklage (!) hätte auch das nicht gereicht.
Natürlich liest man aus der Sofaperspektive des Jahres 2023 in der Retrospektive mit, was seither geschah, den Untergang der Weimarer Republik und den Zivilisationsbruch, der Europa in den Abgrund stürzte und Millionen in den Tod riss. Die Zeitgenossen wussten das alles nicht, trotzdem waren sie hellsichtig genug, den Prozess richtig einzuordnen. Genutzt hat es nichts.
Das ist keine schlechte Justiz. Das ist keine mangelhafte Justiz. Das ist überhaupt keine Justiz.
Kurt Tucholsky, zitiert nach Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution
Timothy Snyder hat völlig zurecht darauf verwiesen, wie viele kluge Leute zur Zeit der Weimarer Republik lebten, wie viele von ihnen treu zur Verfassung standen, ihre Ansichten in dem breiten Spektrum an Medien kundtaten, in zum Teil herausragender Weise, sprachlich und analytisch die Abgründe ausleuchteten und aufzeigten. Das reichte nicht, um die Republik zu retten; sicher auch, weil es eine breitenwirksame Presse gab, der die Republik verhasst war.
Zu den wirklich kuriosen Dingen gehört, dass sich der Staat in Gestalt der verfassungstreuen Parteien der Gefahr wohlbewusst war; um den schädlichen Einfluss der Justiz, die schon 1921 als fürchterlich antidemokratisch galt, einzudämmen, wurde ein Staatsgerichtshof in Leipzig gegründet, der sich mit staatsgefährdenden Umtrieben befassen sollte – ausgerechnet dort kam es zu der absurden Verkehrung von Anklage und Verteidigung.
Martin Sabrow schildert die Gegebenheiten und Entwicklungen mit nüchternem und kühl-analytischem Tonfall, die regelmäßig eingestreuten Pressezitate reichen neben den reinen Fakten völlig aus, den Leser unter Spannung zu halten. Ein großer Wert dieses Buches liegt darin, einmal genau zu zeigen, was es tatsächlich bedeutete, wenn eher allgemein von einer rechtslastigen Justiz die Rede ist; und wie sehr der Versailler Vertrag auch hier eine bedeutende Rolle bei der Handlungsmotivation spielte.
Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts. Joseph Wirth, Reichskanzler
Reichskanzler Wirth, zitiert nach Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution
Außerdem werden generelle Aspekte der Weimarer Republik deutlich. Einmal bestand eine tiefe Kluft zwischen Stadt und Land, während die urbanen Zentren von großen Wogen der Empörung über die Attentate durchwogt wurden, blieb die Provinz im dumpfen Zustand von Ignoranz und Gleichgültigkeit. Mancher lokale Mandatsträger wusste nichts von einem Außenminister Rathenau, geschweige denn von seiner Ermordung; die Flüchtigen erhielten trotz massiver Strafandrohung Unterstützung, keineswegs nur aus den Reihen der »Organisation Consul«.
Zweitens gelang es den demokratischen Kräften nicht, die strukturellen Defizite der Republik abzumildern. Weder die Justiz noch die Reichswehr noch die vielfältigen völkisch-rassistischen Verbände noch Verweigerer- und Rechtsbruchstaaten wie Bayern sowie erzkonservative Kräfte der Wirtschaft konnten auf einen verfassungsmäßigen Kurs gebracht werden.
Die offene Auseinandersetzung scheuten die Republikaner oft mit ängstlichem Blick auf die öffentliche Ordnung, Aufstände, wilde Streiks, Gewalt gegen Rechts und natürlich die immer beschworene Gefahr eines bolschewistischen Umsturzes waren diesen Kräften ein Gräuel; ihre Gegner hatten diese Skrupel nicht, ein Strukturmerkmal, das schon 1848 geprägt und für großes Unheil gesorgt hat. In diesem Fall hätte es vielleicht den Absichten der Putschisten in die Hände gespielt.
So ergibt sich am Ende ein ambivalentes Fazit: Die vom Weimarer Rechtsputschismus gelegte Spur der Gewalt reichte weit über 1921/22 hinaus, aber in einer ungebrochenen Kontinuitätslinie zum Rechtsterrorismus nach 1945 steht sie nicht.
Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution
Die größte Stärke von Martin Sabrows Buch bildet zugleich die größte Herausforderung für den Leser: Detailreichtum und Vielschichtigkeit der einander überlappenden Themenbereiche aus unterschiedlichen Perspektiven entreißen dem Zwielicht eine umfassende rechtsgerichtete Verschwörung gegen die junge Republik und grenzen sie gegenüber der – letztlich siegreichen – nationalsozialistisch-völkischen ab. Hier die überkommene putschistische Hermann Ehrhardts, dort die populistische Adolf Hitlers.
Ganz besonders segensreich an diesem sehr lesenswerten Buch ist, dass der Autor der Verlockung entgegentritt, die Morde der 1920er Jahre mit denen der Gegenwart gleichzusetzen; er vergleicht, nennt Gemeinsamkeiten und weist nachdrücklich auf die Unterschiede der Mordserie in der frühen Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland vor und nach 1990 hin. Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution bildet eine wunderbare Grundlage dafür, um über Rechtsterrorismus und Rechtsstaat in unserer Zeit nachzudenken.
Verwiesen sei in diesem Zusammenhang noch auf den Roman von Das Spinnennetz von Joseph Roth, der von Oktober bis November 1923 als Fortsetzungsroman erschien und in seiner abrupten, temporeichen Form geradezu wie ein literarisches Echolot der rechten Gewalt wirkt – wenige Tage von Hitlers Novemberputsch. Auch die Verfilmung des Romans mit Ulrich Mühe in der Hauptrolle des Weltkriegsleutnants Theodor Lohse ist sehenswert.
[Rezensionsexemplar, daher Werbung]
Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution Wallstein-Verlag 2022 Gebunden 334 Seiten ISBN: 978-3-8353-5174-5
Manchmal kann ein Einzelner den Gang der Weltgeschichte verändern, Johann Georg Elser ist nur ganz knapp daran gescheitert. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.
Wie kann man über einen Menschen schreiben, der so verschwiegen war, wie Johann Georg Elser? Der Attentäter, der Hitler hätte bereits 1939 töten und den Gang der Weltgeschichte auf dramatische Weise ändern können, hat faktisch nichts Schriftliches hinterlassen. Wolfgang Benz wählt in seinem Buch Allein gegen Hitler den Weg, die historische Person in ihre Zeit einzubetten, die Äußerungen über Elser einzuordnen und seine Handlungen für ihn sprechen zu lassen.
Auf den ersten Blick könnte man Elser für ein Musterbeispiel des »Einsamen Wolfes« halten, ein klischeehaftes Bild, das ein ganz besonders ausgeprägtes Gefährdungspotenzial andeutet. Angesichts des nur um Haaresbreite gescheiterten Attentats scheint das nicht falsch zu sein. Auf den zweiten Blick entspricht die historische Person diesem Klischee aber nicht, wie sein Sozialleben in Vereinen, seine Musikalität, und auch die Liaisons mit Frauen belegen.
Die Quellenlage zu Elser ist extrem dürftig – gemessen an der historischen Zeit, in der Historiker eher mit einem Zuviel an Material zu kämpfen haben, und damit auch im Vergleich zu anderen Widerständlern, wie den Geschwistern Scholl oder Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Diese haben im Gegensatz zu Elser die Abgründe des Hitler-Regimes sehr viel später erkannt, dafür mehr von ihren Beweggründen überliefert.
Was Georg Elser zum Widerstand getrieben hatte, sein Aufbäumen gegen den Verlust aller Freiheit und Selbstbestimmung des mündigen Menschen, gegen die nationalsozialistische Usurpation der Gesellschaft hatte den Höhepunkt im Lagerdasein.
Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler
Das beleuchtet einen ganz wichtigen – und für manchen vielleicht auch unheimlichen – Wesenszug von Elser, der tatsächlich ganz allein daranging, Adolf Hitler zu töten, bevor dieser die Welt vollständig in den blutigen Abgrund eines Zivilisationsbruchs stürzen konnte. Natürlich waren auch die anderen Widerständler in gewisser Hinsicht isoliert, sie hatten aber einen Kreis um sich, der einen gewissen Austausch ermöglichte. Elser blieb das verwehrt.
Man sollte sich vor Augen führen, was das für Elser bedeutete, wenn er etwa von Zweifeln geplagt wurde oder mit Hindernissen zu kämpfen hatte. Er hat sich diesen Herausforderungen allein stellen müssen und sie bewältigt. Benz unterstreicht dankenswerterweise, dass Elsers Vorgehen im Gegensatz zu dem der Militärs einwandfrei funktionierte: technisch, vom Timing, aber auch hinsichtlich der Sprengwirkung. Nur ein Zusammenspiel von Zufällen ließ das Attentat scheitern.
Natürlich tritt dem Leser kein Superheld entgegen, sondern eine vielschichtige und widersprüchliche Person. Benz beleuchtet die Grenzen Elsers, etwa sein für den Eigenschutz verheerendes Verhalten direkt vor und nach dem Attentat. Da seine Bombe über einen Zeitzünder wirkte, hätte er vorher fliehen oder sich verbergen, untertauchen können. Stattdessen ist Elser noch kurz zuvor in den Bürgerbräukeller zurückgekehrt, um sich zu vergewissern, dass die Apparatur auch funktionierte.
Das hat sie. Elsers Fluchtversuch endete hingegen in den Fängen der Behörden. Was dann geschah, ist einerseits erwartbar gewesen, andererseits in gewisser Hinsicht kurios und für die Herrschaft Hitlers bezeichnend; ja, ich würde sogar soweit gehen, dass sich darin bereits Spuren für den Untergang des gesamten NS-Systems und des von ihm durchdrungenen Reiches erkennen lassen. Elsers Tat ist entlarvend für die (Selbst-)Lügen des Hitlerismus gewesen.
Sein Attentat hat auch deswegen funktioniert, weil die Sicherheitsvorkehrungen infolge ideologischer Verblendung und Inkompetenz unzureichend gewesen sind. Im Nachgang wurden diese zwar verschärft, gleichzeitig aber die sachlich korrekten Ermittlungen zugunsten des NS-Weltbildes einem grotesken Phantom angepasst; ein Handlungsmuster, das bereits beim Reichstagsbrand 1933 eine Rolle spielte und für Deutschland bis 1945 prägend blieb.
Er sah früher als andere, besser gebildete und sonst besser situierte die Folge nationalsozialistischer Gewaltpolitik voraus, und er zog Konsequenzen aus dem, was er mit scharfem Verstand beobachtete und unbestechlich analysierte.
Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler
Bedrückend, irritierend und lehrreich ist das Kapitel über die Zeit nach 1945. Die irrwitzigen Berichte über Johann Georg Elser, vorgebracht von Mithäftlingen wie Martin Niemöller oder dem englischen Agenten Best, die ihn gleichwohl niemals sprachen und bestenfalls zufällig sahen, sind atemberaubend. Das gilt auch für die schwurbelnden, raunenden Legenden, die seitens ehemaliger SS-Leute verbreitet wurden, aber auch für die abweisende Reaktion seines Umfeldes, auf Versuche, Elser als Person historiographisch oder journalistisch nachzuspüren.
Nach Elsers Tat sind Millionen Menschen gestorben, die bei einem Erfolg und Hitlers Tod vielleicht nicht hätten sterben müssen. Der Attentäter ist im Gegensatz zu Stauffenberg nach dem Krieg verkannt, verleumdet oder ignoriert worden. Möglicherweise ist seine mündige Tat manchem Nachgeborenen unangehörig gewesen, sicherlich hat die Propaganda der Nazis nachgewirkt. Es ist kein Zufall, dass Elsers Verhaftungsfoto die am meisten verbreitete Darstellung des Attentäters war, auf dem er einem aufgegriffenen Landstreicher glich.
Johann Georg Elser eignete sich nicht zum Helden, sein Aufbegehren passte nicht zum Nachkriegsdeutschland; erst spät ist er zur Lichtgestalt aufgestiegen. Dazu habe verschiedene Bücher und Filme beigetragen, etwa die Verfilmung durch und mit Klaus Maria Brandauer, der sich eine Reihe von Freiheiten gestattet hat, im Kern aber die Tat Elsers endlich in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt und einen angemessenen Platz zugewiesen hat, wie Wolfgang Benz in seinem Buch aufzeigt.
»Zu Recht sehen die Nachgeborenen Georg Elser […] als besonders authentischen Widerstandskämpfer«, heißt es da am Ende, wenn die Person Elsers aus dem Schatten der Vergangenheit geholt wurde, soweit das angesichts der Grundlagen möglich ist. Daher wünscht man diesem Buch viele interessierte, kluge und nachdenkliche Leser.
[Rezensionsexemplar, daher Werbung]
Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler Leben und Tat des Johann Georg Elser C.H. Beck 2023 Gebunden 224 Seiten ISBN: 978-3406800610
Alexander Preuße: Eine neue Welt – PiratenbrüderBand 1. 2023 TB 310 Seiten ISBN: 9783757932671 mehr Infos: Piratenbrüder
Aktuelles Hörbuch. Von Robert Harris habe ich fast alle Bücher gelesen, einige davon sind grandios. Das hier höre ich gerade, vorgelesen von Frank Arnold. Macht Spaß.