Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Putin (Seite 1 von 2)

Giuliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Mit großer Spannung habe ich diesen Roman erwartet. Eine großartige politische Erzählung in den Schatten hinter den Kulissen. Cover C.H. Beck. Bild mit Canva erstellt.

Wenn man an einem Lagerfeuer oder vor einem Feuerkorb sitzt, wärmen die Flammen von vorn, am Rücken fröstelt man. So ist es bei  mir gewesen, kaum dass ich in die Handlung des Romans Der Magier im Kreml von Giuliano da Empoli hineingezogen wurde. Ich wusste ja, was kommt. Grundsätzlich. So wird es jedem gehen, der die vergangenen 25 Jahre nicht mit fest verschlossenen Augen durchs Leben taumelte.

Der wunderbar politische Roman entfaltet sein Thema gemächlich vor den Augen des Lesers. Er erschafft das Profil einer Persönlichkeit, ihrer Herkunft und en passant die Entwicklung Russlands seit der Zarenzeit: Wadim Baranow, der Magier im Kreml oder – wie es Beresowski an einer Stelle formuliert: »Putins Rasputin«. Ein  Berater des Zaren, wie Putin genannt wird, ohne Fachressort, aber mit direktem Zugang zu ihm.

In Russland zählt nur das Privileg, die Nähe zur Macht.

Guliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Baranows Tätigkeit nahe dem Zentrum aller Macht in Russland liefert einen Reiz des Romans, die Hoffnung auf erhellende Blicke hinter die Kulissen. Glücklicherweise vermeidet der Autor effektheischende »Enthüllungen«; entäuscht wird, wer Action oder Handlungsspannung erwartet. Für jene, die sich seit 1998 den Entwicklungen in Russland nicht verschlossen haben, bietet das Buch ein immens spannendes und gleichfalls irritierend gruseliges Leseerlebnis.

Der Magier im Kreml ist eine Fiktion, aber eine klug arrangierte und informierte. Der Tonfall ist nüchtern, in einem überlegenen, von der Arroganz des Machtwissens umflorten Gestus vorgetragen. Baranow gibt vor, genau zu wissen, wie es läuft und gelaufen ist; er lässt seinen Zuhörer (und die Leser) daran teilhaben, eine fürstliche Gunstbezeugung. Er hat nach eigenem Bekunden wesentlichen Anteil daran, dass Russland heute so ist, wie es ist, er ist ein loyaler Zyniker der Macht, machiavellistisch und bigott.

Der Krieg in der Ukraine war wie alles andere auch. Ich hatte ihn bestimmt nicht gewollt. Ich hatte meine Ablehnung im Übrigen lautstark zum Ausdruck gebracht. Aber dann, als der Zar diesen Krieg beschlossen hatte, tat ich alles in meiner Macht Stehende, ihn zum Erfolg zu führen.

Guliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Da Empoli hat seinen Roman im Wesentlichen als Kaminzimmergespräch in Szene gesetzt, eine großartige Entscheidung, diese Form passt wie angegossen. Der Ich-Erzähler kommt über ein Posting in den Sozialen Medien zu einem sehr speziellen Roman aus den 1920erJahren in Kontakt mit Baranow und wird zu diesem eingeladen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn der ehemalige Kremlmagier ist zu einem Gespenst geworden, nach seinem Rücktritt, umwittert von Gerüchten und Vermutungen zu seinem Schicksal.

In dem Gespräch zwischen den beiden Männern verstummt der Ich-Erzähler mehr und mehr, er unterbricht Baranows Erzählfluss nur anfangs ab und zu durch eine Nachfrage. Manchmal spricht dieser seinen Gast direkt an, das wirkt, als wende er sich direkt an den Leser. In diesen Passagen bekommen der Westen und seine Protagonisten oft abfällige Bemerkungen zu lesen, eine tiefgreifende Verächtlichkeit und Abneigung gegen die vermeintliche Schwäche – sehr authentisch, denn die Echos dieses Weltbildes waren tatsächlich den vergangenen Jahren oft in Zeitungen zu lesen.

Baranow ist eine unangenehme Person. Eingebildet. Arrogant. Narzisstisch. Stolz. Selbstgefällig. Er vermittelt gegenüber seinem Gesprächspartner (und dem Leser) das Gefühl der Überlegenheit einer bedeutenden Persönlichkeit, die auf die anderen herabsieht wie auf durcheinanderwirbelnde Ameisen. Menschen sind  ihm im Grunde genommen völlig gleichgültig, insbesondere die Russen, denen er attestiert, sie bräuchten Härte, Führung, aber keine Demokratie.

Wer ein wenig in Geschichte bewandert ist, kennt derlei Aussagen auch über »die Deutschen«, etwa von den Reaktionären um 1848 und während des Kaiserreichs, den Völkischen und Nazis; man kennt es auch aus China und hier wie da ist es schlichtweg falsch. Aber nützlich, denn rund um den Erdball wird diese Verschlichtung allzu gern aufgegriffen, wenn andere Erklärungen zu kompliziert oder lästig geraten. So auch, wenn man den Aufbau einer Diktatur rechtfertigen will.

Die erste Regel der Macht lautete, auf Fehlern zu beharren, in der Mauer der Autorität nicht den kleinsten Riss zu zeigen.

Guliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Am Aufstieg Putins und der Errichtung einer Machtvertikale hat Baranow einen gehörigen Anteil. Er weiß darum, wie Dinge inszeniert werden, denn er stammt aus intellektuellen Theaterkreisen und hat im Fernsehgeschäft die wesentlichen Instrumente kennengelernt. Als Beresowski ihn kontaktiert und klar wird, worum es dem einst mächtigen Medienmogul geht, endet alles fröstelige Kaminfeuerbehagen und die Luft scheint zu vereisen.

Es ist wie beim Anschauen der herausragenden TV-Serie Chernobyl, wenn der unverzeihliche und verhängnisvolle Leichtsinn jene dramatische und schreckliche Entwicklung einleitet, der gewöhnlich als GAU bezeichnet wird. Da Empolis Roman erreicht diesen Punkt, wenn die Zauberlehrlinge á la Beresowski im Dunstkreis der Macht ihr Spiel spielen und wie Dr. Frankenstein ein Geschöpf in die Welt setzen, das nicht mehr zu kontrollieren ist. Und seine Schöpfer frisst. Der GAU ist hier ein politischer.

Das Reich des Zaren wurde aus dem Krieg geboren, und es war nur folgerichtig, dass es am Ende wieder zum Krieg zurückkehrte.

Guliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Je näher das Romanende kommt, desto deutlicher wird, wie gefestigt Weltbild und Macht des Zaren sind. An einer Stelle lässt da Empoli jemanden zu Wort kommen, der sich über einen Exit des Machthabenden auslässt – genauer gesagt: einen Bogen zur Mafia schlägt und die Meinung vertritt, in beiden Fällen sei ein Abgang unmöglich. Das aber hieße, nach allem, was vorher zu lesen war, dass mit Putin kein Frieden möglich wäre. Schöne Aussichten!

Da Empoli lässt seinen Roman in schauderhaft dystopischen Äußerungen münden, die inhaltlich  überraschend sind und dennoch in gewisser Hinsicht zu dem ganzen Vorangehenden sehr gut passen, obwohl sie über Putin hinausreichen. Die düstere Prophetie aus dem Munde Baranows hinterlässt ein Gefühl nachdenklichen Grauens, das den Leser noch einige Zeit begleitet, wenn er Der Magier im Kreml zugeschlagen hat.

Guiliano da Empoli: Der Magier im Kreml
aus dem Französischen von Michaela Meßner
C.H. Beck 2023
Hardcover 265 Seiten
ISBN 978-3-406-79993-8

Julia Solska: Als ich im Krieg erwachte

Die Tagebucheinträge geben sehr eindrücklich wider, wie es ist, wenn man vom Krieg überrollt wird. Cover Edel Books, Bild mit Canva erstellt.

Zwei- oder dreimal wird Deutschland in spezifischer, schwer erträglicher Weise erwähnt, während die Autorin Julia Solska vom Angriffs- und Vernichtungskrieg Russlands gegen ihre Heimat buchstäblich überrollt wird. Mit einer gewissen Fassungslosigkeit und Empörung reagiert sie auf die befremdlichen Diskussionen in Europas größter, wirtschaftlich stärkster Nation. Die Realitätsverschiebung, die diesen weltfremden Debatten zugrunde liegt, ist greifbar.

Realität ist nämlich das, was über die Autorin aus – nein, nicht heiterem, aber lange ausgeblendetem, düsterem Himmel hereinbricht, als das Damoklesschwert über den Köpfen der Ukrainer schließlich doch fällt. Das Erwachen im Krieg ist wörtlich gemeint. Kann man sich hierzulande wirklich vorstellen, wie es ist, wenn man morgens geweckt wird von den Worten »Es geht los.«? Nein. Ebensowenig, wie man darauf reagieren würde.

Julia Solska erlebt den ersten Tag von Putins Griff nach der Weltmacht in Kyjiw. Der Krieg ist hörbar: »Ein seltsames Krachen, brachial und metallisch, als würde ein Riese etwas schmieden.« Damit beginnt die Höllenfahrt, der Kampf darum, sich auf die neue Lage einzustellen, was vor allem bedeutet, unter immensem Stress stehend zu deuten, was die »neue Lage« überhaupt ist.

Ein Kreisel aus Angst und Panik kommt in Gang, in diesem Karussell muss Solska eine wichtigen Entscheidung treffen – bleiben oder gehen. Sie entscheidet sich zum Gehen, zunächst aus Kyjiw weg, später zur Flucht nach Deutschland. Für den Leser eine fesselnde Lektüre, auch wenn der Krieg ihr nur nahekommt, in Gestalt von Rauchtürmen, Sirenen, Gefechtslärm und dem, was man überall im Fernsehen bzw. den Sozialen Medien sehen konnte.

Das aber betrifft Solskas eigene Familie! Das Grauen ist nicht fern, nicht vorgeschoben, wie bei selbstgerechten Realitätsverweigerern hierzulande, die Ukrainer gar nicht für voll nehmen, geschweige denn für mündig halten. Es sind die eigenen, geliebten Menschen, die erleben, was russische Besatzung heißt. Das Tagebuch lesen heißt eben auch, die Betroffenen zu Wort kommen zu lassen. Mehr Grund, dieses Buch zur Hand zu nehmen, braucht es nicht.

Einige einleitende Seiten bringen dem Leser die Autorin nahe, das Tagebuch setzt erfreulicherweise am Tag vor dem Überfall ein. Das  verstärkt die Schockwirkung des Kriegsdramas beträchtlich. Ganz am Ende ist noch ein Abschnitt angefügt, der zeigt, unter welchen Bedingungen die Menschen in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten vegetierten und wie knapp sie schließlich entkommen konnten. Dann spätestens ist die Realität auch auf einem Sofa im friedlichen Deutschland spürbar.

Julia Solska: Als ich im Krieg erwachte
Edel Books 2022
Broschiert 192 Seiten
ISBN: 978-3-8419-0828-5

Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus

Essays aus den Jahren 2014 bis 2022, die dem Leser die Ukraine unter dem Eindruck der russischen Aggression näherbringen. Cover Kiwi, Bild mit Canva erstellt.

Essays gehören nicht zu meinen Lieblingstexten. Könnte ich behaupten, denn in meinem Bücherregal steht kein einziges Buch mit Essays. Dennoch ist das die Unwahrheit oder sagen wir: die halbe, denn ich lese seit Jahrzehnten mit einiger Regelmäßigkeit Versuche über irgendetwas. Überregionale Tageszeitungen und Wochenblätter haben im Feuilleton, manchmal auch im Wirtschaftsteil essayistische Texte, die ich wirklich gern und oft mit Gewinn lese.

Aber als Buch?

Der Angriffs- und Vernichtungskrieg von Putins Russland gegen die Ukraine hat dieses Land in den Fokus gerückt. Da ich schon seit zwei Jahrzehnten der Meinung bin, dieser Staat gehöre – anders als Russland – zu Europa, in die EU und Nato, und die politische Entwicklung verfolgt habe, lag es nahe, zum Jahrestag des Großangriffs etwas zu lesen. Romane aus der Ukraine kenne ich ein paar, um etwas anderes kennenzulernen, habe ich zu diesem Essay-Band (und einem Kriegs- und Fluchttagebuch) gegriffen.

Frieden ist eine Vorahnung der Katastrophe, nichts mehr.

Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus

Der Essayband versammelt eine Reihe recht kurzer Beiträge aus den Jahren 2014 bis 2022. Sie sind sehr persönlich gehalten und bringen dem Leser die Ukraine und ihre Menschen nahe. Das ist keine besonders angenehme Lektüre, sie ist von Tragik umwittert. Mich erinnert das etwas an Irland und vor allem an Kurdistan, ein Volk, das einfach negiert und umgedeutet wird, um ihm die Berechtigung einer Nation zu nehmen.

Die Essays reichen oft in das zwanzigste Jahrhundert und weiter zurück; Russland hat seit jeher blutige Kriege und Vernichtungsfeldzüge geführt, den unendlichen Grausamkeiten des Holodomor folgte der deutsche Vernichtungskrieg, ein langer Partisanen-Kampf nach 1945 gegen die Sowjets und schließlich eine Republik, die formal unabhängig, strukturell und mental sowjetische war. Wen wundert es, dass die Essays wenig Sonnenlicht bieten?

»Das Schlimmste am Kommunismus war ebendieser Zwang (oder die besten Bedingungen dafür) gewissenlos, ehrlos zu sein. Wer das nicht konnte, büßte schwer.«

Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus

Interessant ist, dass Nahebringen in diesem Fall eine verstärkte Fremdheit bedeutet. Die Lebenswelt und -wirklichkeit, die Maljartschuk in ihren Texten zum Leben erweckt, unterscheidet sich krass von dem, was man im gemütlich-demokratisch-freien Westen erlebt hat. Manche Sätze sind wie ein Beilschlag für antikapitalistische Träumer und (un-)heimliche Schwenker des Sowjetbanners.

Danach geht es weiter – man atmet aus.

Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus
Kiwi 2022
HC 176 Seiten
ISBN: 978-3-462-00462-5

Serhiy Zhadan: Internat

Ein großer Roman über die Zeit, als man im Westen noch von Minsk und eingefrorenem Konflikt schwadronierte. Für die Menschen vor Ort war es Krieg. Cover Suhrkamp, Bild mit Canva erstellt.

Der harmlos klingende Buchtitel täuscht. Mit dem Öffnen des Romans Internat von Serhij Zhadan verlässt der Leser seine friedliche Existenz in Mitteleuropa und tritt ein in eine acht lange Jahre weitgehend ignorierte Wirklichkeit im Osten der Ukraine. Auch wenn Orte und Namen, Personen und Uniformen im Ungefähren bleiben, weiß man bald, dass die Erzählung unweit der unruhigen Front zwischen den russischen Truppen mit ihren Verbündeten und den Ukrainern stattfindet.

Muss man erläutern, was seit 2014 im Osten der Ukraine vor sich geht? Ich hoffe, nicht.

Gleich zu Beginn des Romans macht der Leser Bekanntschaft mit Zhadans krautigem Humor sowie seiner Fähigkeit, sehr treffende Bilder zu malen. Manchmal geht das ein bisschen zu weit, die Erzählung trippelt in den ersten Passagen recht dicht entlang der Grenze sprachlicher Selbstverliebtheit. Angesichts der großen Stärken des Romans, ist das aber zu verschmerzen, zumal es auf den Anfang beschränkt bleibt. Im Verlauf entfaltet sich zunehmend ein bestaunenswertes sprachmächtiges Kunstwerk.

Aus der Ferne ähnelt das Krankenhaus einem Ozeanriesen, der ganz langsam, ohne Eile auf den Grund sinkt.

Serhij Zhadan: Internat

Mit der Hauptfigur, Pascha, begibt sich der Leser auf eine Tour durch den Wahnsinn des Frontgebietes in einem Krieg, der keiner sein soll. Es mutet etwas nach Dreißigjährigem Krieg an, denn Freund und Feind sind oft nicht recht zu unterscheiden, während die Hauptfigur versucht, sich zum titelgebenden Internat in der namenlosen Stadt durchzuschlagen. Die Begegnungen auf diesem Weg sind hanebüchen, grotesk, lebensgefährlich und kafkaesk.

Mal wird Pascha von einem wildfremden Mann, der sich als Journalist ausgibt, mitgenommen und gerät an einen Ort, an dem ihm finstere Milizionäre filzen und die Papiere kontrollieren – sie haben, wie alle Waffenträger in dem Gebiet, das Recht des Stärkeren und das tiefsitzende Misstrauen des Frontschweins auf ihrer Seite. Mal eilt der Protagonist mit einer Gruppe, geführt von einem Schlepper, durch die Frontlinie, gerät unter Feuer und irrt inmitten schwarzer Nacht durch die namenlose Stadt, wo sein Ziel liegt.

Pascha will seinen Neffen aus dem Internat holen, ein Vorhaben, das angesichts der Umstände mehr als heikel ist. Immer wieder macht er sich Vorwürfe, nicht schon früher auf die Idee gekommen und aufgebrochen zu sein, denn die Fronten sind in Bewegung geraten. Die eine Seite zieht sich zurück, die anderen rücken nach. Dabei kommt es zu gruseligen Gewaltakten, die nicht explizit beschrieben werden – wozu auch? Wenn Zhadan von dem spricht, was übrig bleibt, reicht es dem Leser vollauf.

Er musste erst hierher geraten, ins Zentrum der Hölle, um zu spüren, wie viel er besaß und wie viel er verloren hat.

Serhij Zhadan: Internat

Zhadan lässt den Leser an der Geschichte seiner Hauptfigur teilhaben. Pascha ist Lehrer, in weiten Rückblenden erfährt man einiges über seinen Weg bis zu diesem Tag, über seine Versuche, sich aus dem Krieg und den politischen Wirren herauszuhalten. Er unterrichtet „die Sprache“, ohne dass bis zum Ende klarwerden würde, ob es sich um Ukrainisch oder Russisch handelt. Die generelle Unschärfe, der sich der Autor bedient, verstärkt das Gefühl der Unwirklichkeit, ein großartiger Kniff des Zhadans, den dieser bis zum Ende konsequent exekutiert.

Apropos Exekution. Ich habe nicht mitgezählt, wie oft die Hauptfigur, sein Neffe oder irgendwelche Bewaffneten bzw. Zivilisten davon gesprochen haben, dass man ihn, Pascha, erschießen könne / müsse / solle. Angesichts der Umstände, der Toten, Verwundeten, der aggressiven Waffenträger, ist das keine leere Drohung, sondern eine ganz reale Möglichkeit, wie der Lebensweg der Hauptfigur jäh enden könnte. Wie ein schwärzlicher Nebel umwallt die stete Gefahr eines gewaltsamen Todes aus dem Nichts heraus die gesamte Handlung.

Noch einmal sei darauf verwiesen, dass der Inhalt des Romans auf die Zeit vor Putins Vernichtungskries in der Ukraine zurückgeht. Hier ist die Rede von dem, was im Westen Europas vielstimmig als stabiler Waffenstillstand bezeichnet wurde und von eifrigen salonlinken Briefeschreibern als wünschenswerter Zustand nach Friedensgesprächen bezeichnet wird. Frieden würden wohl nur ihre realitätsfernen Ideologenseelen gewinnen.

Er würde sich gerne hinsetzen und ausruhen, niemanden sehen, niemanden hören, alle diese Laute und Gerüche vergessen, den Bahnhof, den Bus, die kaputte Straße, die Mondlandschaften hinter dem Fenster, die unseligen Wanderer, die durch die Januarfelder stapfen, den schwarzen, zerschossenen Wald, die dunklen Häuser, die verängstigten Stimmen, die Fenster, hinter es kein Leben gibt, die Straßenkreuzungen, hinter denen überall der Tod auf dich lauern kann. Das alles hat sich in ihm festgesetzt wie Blei.

Serhij Zhadan: Internat

Die Personen in Zhadans Roman werden dagegen durch sehr reale, apokalyptische Verhältnisse getrieben, die an einen Endzeitfilm gemahnen. Unsicherheit, Hunger, Kälte und Furcht, vor allem aber Ohnmacht sind ihre ständigen Begleiter; sie rumpeln und grollen wie der ferne Artilleriedonner, klirren wie die Ketten der Panzer und knallen, knattern, bellen wie das Kleinwaffenfeuer, das durch die Straßen der Städte hallt.

Ein sehr eindrücklicher Roman des ukrainischen Schriftstellers, der dankenswerterweise mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Man wünscht dem Roman Internat viele Leser, keineswegs nur wegen des Krieges, aber auch. Große Leseempfehlung.

Serhij Zhadan: Internat
aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr und Juri Durkot
Suhrkamp 2018
Gebunden 300 Seiten
ISNB: 978-3-518-42805-4

Nino Haratischwili: Die Katze und der General

Stellen wir uns diesen Roman als Landschaft vor, die sich vor unseren Augen ausbreitet. Anders als in der Wirklichkeit sehen wir nicht nur verschiedene Orte, sondern auch unterschiedliche Zeiten. Alles nebeneinander angeordnet, wie ein Flickenteppich. Entlang eines roten Fadens wird der Leser von der Autorin hindurchgeführt, dank der fehlenden Chronologie und wechselnder Erzählhaltungen ein immens abwechslungsreicher Marsch. Ab und zu mogelt sich eine sumpfige oder matschige Stelle dazwischen, die das Vorwärtskommen erschwert.

So habe ich den Roman “Die Katze und der General” von Nino Haratischwili empfunden, den ich für lesenswert halte, ohne einige Schwächen verschweigen zu wollen. Die Qualität des Erzählens unterliegt beträchtlichen Schwankungen, einige Passagen wirken überladen, redundant und manchmal auch schlichtweg vernachlässigenswert, was den Gesamteindruck etwas trübt. Der Hauptkritikpunkt ist aber der Persönlichkeitstwist, aus dem der “General” hervorgeht, eine eher ins Reich der Fabel weisende Saulus-Paulus-Blitzwandlung.

Ein großer Wert des Romans liegt in der Perspektive, die dem Leser von der Autorin eröffnet wird. Ferne, vom woken, ichfixierten Westeuropa vergessene oder einfach ignorierte Landstricherücken ins Licht. Tschetschenien, irgendwo im Kaukasus, nur politisch Interessierten als Ort unendlich brutaler Kriege geläufig und noch weniger Personen als Ausgangspunkt allen Unheils, das angeschwollen und die Ukraine mit einem blutigen Vernichtungskrieg überzieht.

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wurde darauf verwiesen, dass Putin bereits in den 1990er Jahren zum Kriegsverbrecher geworden sei. Was das für die Menschen dort, aber auch für die Soldaten aus Russland bedeutete, was das sinnlose, blutige Gemetzel mit ihnen angerichtet hat, bekommt der Leser zu spüren.

“…einfach nur da stehend, staunend, etwas überfordert, aber vor allem verloren und mit dem alles dominierenden Gefühl, fehl am Platz zu sein.”

Nino Haratischwili: Die Katze und der General

Die menschliche Niedertracht, die der Krieg aus der schützenden Hülle namens Zivilisation befreit, wird von Nino Haratischwili vorgeführt. Es sind nicht nur die Politiker, die kommandierenden Generäle und Offiziere, die sich vergehen, es ist nicht nur ihr Krieg. Auch die einfachen Mannschaftsränge bedienen sich. Die Autorin stellt dem gewöhnlichen die Ausnahme entgegen, um das Abscheuliche hervorzuheben.

Doch ist “Die Katze und der General” ganz erheblich vielschichtiger, was den Roman insgesamt zu einem Leseerlebnis macht. Es geht um Schuld, Sühne, den komplexen, keineswegs vorbestimmten Weg zum Verbrechen und den Versuch, Rache zu nehmen. Schließlich ist es auch ein verwickelter Rachefeldzug, der oberflächlich Unbeteiligte und doch irgendwie Verstrickte in das Dunkel des Unheils hineinzieht.

Was mir ganz besonders gefallen hat, sind einige handelnde Personen. Vor allem diejenigen, die aus Russland nach Tschetschenien gelangen, in diesem ekelhaften Krieg, der Russland bis in die Gegenwart vergiftet hat und half, den Weg in eine erbarmungslose Diktatur zu eröffnen, sind großartig getroffen. Wer glaubt, Diktaturen würden, von einer kleinen Minderheit abgesehen, von ihren Bewohnern abgelehnt, wird eines Besseren belehrt. Wer glaubt, Kriege kennten nur Verlierer, ebenso.

“Man vergaß, dass man sich als Rambo gewähnt hatte und die ganz östliche Hemisphäre zum Teufel hatte schicken wollen.”

Nino Haratischwili: Die Katze und der General

Doch geht es keineswegs nur um den Krieg. Haratischwilis Roman gibt den Blick frei auf die Verlorenen inmitten der westlichen Zivilisation, jene, die ohne Zwang den Propaganda-Tropf des Kreml der freien Vielfalt der Medien im Westen vorziehen. Und sie lässt den Leser die Gründe fühlen, jene unendliche Verlorenheit, das Lebensgefühl derjenigen, die aus den Trümmern des Sowjetreiches nach Deutschland gekommen sind.

Das ist kein Alleinstellungsmerkmal des Homo Sowjeticus! Wenn Margot Kässmann etwa über die Ukraine, Russland, Putin und die Nato räsoniert und ohne jede Scham den Vietnam-Krieg und ihre (!) Protestaktionen dagegen ins Feld führt, dann ist das im Kern das Gleiche, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Nach diesem Roman wird man besser verstehen, warum es Autokorsos in Deutschland gibt, die russische Fahnen schwingen; gutheißen wird man es nicht.

“Diese Hölle stank zwar weiterhin nach Schwefel, aber immerhin war es ihre Hölle!”

Nino Haratischwili: Die Katze und der General

An manchen Stellen berührt der Roman die Fundamente des Westens. Ein Axiom der westlichen Aufklärer, der Mensch wäre von Grund auf gut, stellt Orlof, der “General” infrage. Er geht davon aus, der Mensch wäre grundlegend böse, amoralisch und nur absolute Ausnahmen gäbe es, die bereit wären, für ihre Ideale in den Tod zu ziehen. Der Rest sind Opportunisten. In Abwandlung von Goethes berühmten Gedichtanfang: Käuflich sei der Mensch, boshaft und schlecht.

« Ältere Beiträge

© 2023 Alexander Preuße

Theme von Anders NorénHoch ↑

GDPR Cookie Consent mit Real Cookie Banner