Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Rassismus

Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang

Das Desaster in Indochina und die unzulänglichen Versuche der französischen Politik, damit umzugehen, stehen im Fokus des Romans. Cover Matthes&Seitz, Bild mit Canva erstellt.

Schon auf der ersten Seite des Romans Ein ehrenhafter Abgang begibt sich der Leser auf eine Reise nach Indochina. Es ist Mitte 1928, der Erste Weltkrieg liegt zehn Jahre zurück, der Zweite zeichnet sich noch nicht ab und jenes Gebilde namens Indochina ist eine französische Kolonie. Éric Vuillard lässt keinen Zweifel daran, dass es sich nicht um eine gewöhnliche Reise handelt, denn die Einheimischen gelten als bloße Befehlsempfänger.

Die Reise geht in den Norden, genauer gesagt zu einer Kautschukplantage, denn die Reisenden sind Gewerbeaufseher. Sie sollen nach dem Rechten sehen und was sie vor Augen bekommen, ist alles, aber nicht recht. Die Vietnamesen werden auf brutale, unmenschliche Weise ausgebeutet. Sofern sie versuchen, ihrem elenden Dasein zu entfliehen, bezeichnet man sie als Deserteure; fürchterliche Strafen folgen, schon das Wort »Justizbalken« lässt den Leser frösteln.

Die Gewerbeaufseher geben sich bürgerlich anständig im Sinne einer spezifischen Gewissenhaftigkeit. Auf ihre Veranlassung werden verschlossene Türen geöffnet, auch wenn der Schlüssel angeblich fehlt, doch nach Drohungen plötzlich wundersam auftaucht. Lügen und menschliches Elend werden aufgedeckt, in Gestalt geprügelter, halb verhungerter Vietnamesen. Doch die Anständigkeit der Gewerbeaufseher versickert folgenlos.

[…] und wie gehabt weiß der Plantagendirektor nichts und wie gehabt wirkt er ausnehmend betroffen […] und wie gehabt äußert der Direktor sein tiefes Bedauern und wie gehabt werden die Misshandlungen als Ausnahmen, als Fehlverhalten eines Aufsehers oder Sadismus eines Untergebenen dargestellt.

Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang

Der Grund der Reise war eine »Selbstmordepidemie«, denn die Vietnamesen erweisen sich als anders, als von den Verfechtern einer auf monotoner Effizienz beruhenden Arbeitsökonomie behauptet: Sie lassen sich nicht »dressieren« haben keine »unterlegene Mentalität« und ertragen den Stumpfsinn ihrer Arbeit nicht. Sie versuchen ihre Haut durch Flucht zu retten oder wählen den Freitod. Später werden sie für den Vîeth Mînh kämpfen. Siegen.

Éric Vuillards Ein ehrenhafter Abgang ist in einer Erzählhaltung verfasst, die am besten mit lakonischer Rage umschrieben ist, man merkt die Empörung, die den Autor – wie in seinen anderen Büchern – antreibt. Er montiert Informationen, stellt sie wirkmächtig einander gegenüber: Den enthüllten Misshandlungen folgen »weder Reform noch Verurteilung«, während die Firma Michelin in jenem Jahr dreiundneunzig Millionen Franc Gewinn meldet. Rekord.

Um die Menschen geht es dem Autor, die Opfer dessen, was der französische Autor Alexis Jenni als »Koloniale Fäulnis« bezeichnet hat: Rassismus. Unterdrückung. Misshandlung. Tod. Man wusste davon, man hätte etwas ändern können, unterließ es aber. Auch als die militärische Niederlage im Indochina-Krieg sichtbar wurde, ergingen sich die französischen Eliten in abwiegelnden und den Realitäten spottenden Absurditäten.

Der Krieg ist praktisch verloren. Das Einzige, was man sich noch erhoffen kann, ist ein ehrenhafter Abgang.

Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang

Den Anfang vom Ende bildete die vernichtende Niederlage von Cao Bang im Herbst 1950. Wie bei allen historischen Ereignissen, Personen, Handlungen usw. erklärt Vuillard fast nichts. Der Leser nimmt sein Unwissen hin oder informiert sich auf eigene Faust. Für ein deutsches Lesepublikum, das mit den personellen Details der vierten oder fünften Republik, geschweige denn mit deren biographischen Verstrickungen, sowie den vielfältigen Andeutungen in diesem Buch nicht vertraut ist, könnte die Lektüre kleinteilig und zäh werden. Die assoziierende Erzählweise in diesen Passagen erleichtert das Verständnis nicht gerade.

Doch muss man diesen Weg nicht gehen, denn die Stoßrichtung der Darstellung liegt auf der Hand. Cao Bang hat den nicht nur mit zurückgelassener Ausrüstung für eine komplette Division versorgt, die Schlacht hat auch offen zutage treten lassen, wie hoffnungslos gefährdet die französische Herrschaft in Indochina war. Vor diesem Hintergrund erscheint die ausführlich geschilderte politische Debatte in Frankreich gespenstisch.

Statt offen über die Frage zu debattieren, wie man aus der Misere wieder herauskommt und ob Waffenstillstandsverhandlungen mit dem auf der Siegesstraße marschierenden Vîeth Mînh zu einem Ausweg führen würden, wird eine politische Parlaments-Komödie aufgeführt, die jeden Gedanken an Verhandlungen auf infame Weise mit der Kapitulation von 1940 und der Kollaboration des Vichys-Regimes mit den Nazis gleichsetzt.

»Er hat Angst, dass ihm ein Sieg durch die Lappen geht. So treiben die Menschen in gigantische Katstrophen.«

Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang

Es ist ein Anliegen Vuillards, die Geschehnisse von einer speziellen Warte aus darzustellen. Oft wird er drastisch, sarkastisch oder offen boshaft, wenn er die Protagonisten charakterisiert und die Handlungsweisen der Verantwortlichen schildert. Er versucht zu entlarven. Führende Politiker und Militärs wussten, wie die Lage war, und haben dennoch nicht die nötigen Konsequenzen gezogen, um eine Schande zu vermeiden und einen »ehrenvollen Abgang« aus Indochina zu erzwingen.

Daraus wurde nichts. Dreieinhalb Jahre später, im Herbst 1953, begann das Drama um Dîen Bîen Phu, ein militärisches Desaster der französischen Streitkräfte, das im Frühjahr 1954 nach monatelangem Kampf beendet wurde und  Frankreichs Niederlage besiegelte. Neben Franzosen und den vielen in der Fremdenlegion dienenden Europäern haben in dieser Kesselschlacht zahllose Einheimische und Soldaten aus den französischen Kolonialgebieten ihr Leben gelassen.

Den Toten stellt der Autor die klug agierenden französischen Wirtschaftsunternehmen entgegen, die ihre Investments in Indochina frühzeitig fallenließen, dafür ordentlich an den Belieferungen der Truppen verdienten. Überhaupt arbeitet sich der Autor an der Wirtschaft und ihren Interessen ab, er stellt die provozierende Frage, für wen die Soldaten vor Ort die blutigen Schlachten wirklich fochten: für Frankreich oder für Aktiengesellschaften.

Auf einem Berg von Leichen errangen die Vietnamesen schließlich nach einem weiteren, schier endlosen und äußerst blutigen Krieg den Sieg auch über die Amerikaner. Der Rückzug aus Saigon, 21 Jahre nach dem Fall der Festung von Dîen Bîen Phu, war alles, nur kein ehrenvoller Abgang. Das ist weder den USA noch Frankreich gelungen.

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang
aus dem Französischen von Nicola Denis
Matthes & Seitz 2023
HC 136 Seiten
978-3-7518-0908-5

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

Der Roman wurde 2022 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet und weithin gelobt. Für mich eher eine Enttäuschung. Cover Hanser, Bild mit Canva erstellt.

Die ersten achtzig Seiten war meine Lektüre von mehr oder weniger lautlosen Seufzern begleitet, ehe der preisgekrönte Roman seine Qualitäten entfaltet. Danach nimmt Die geheimste Erinnerung der Menschen den Leser gefangen und hält ihn fest umschlungen, auch wenn der Inhalt von den Pageturner-Niederungen weit entfernt ist, möchte man unbedingt weiterlesen. Der letzte Romanteil ist bedauerlicherweise eine Enttäuschung und so bleibt ein zwiespältiger, tendenziell negativer Eindruck zurück.

Romane mit Ich-Perspektive oder Schriftstellern als Protagonisten bereiten mir immer Mühe, tritt beides in Kombination auf und drehen sich Gedanken und Gespräche der Handelnden um die Schreiberei, Literatur und den Buchmarkt, wird es zäh. Diese Dreifaltigkeit ist meine literarische Nemesis und in Moahamed Mbougar Sarrs Roman tritt sie dem Leser entgegen. Tatsächlich habe ich an manchen Stellen sogar erwogen, die Lektüre einzustellen.

Doch sind Sprache und Inhalt von Anbeginn an auf einem recht hohen Niveau, die Erzählung geht flott voran und touchiert bereits das, was nach rund einem Fünftel anhebt: Die Suche nach T.C. Elimane, dem verschollenen und von Rätseln umwirkten Schöpfer eines skandalträchtigen Romans. Der ist 1938 unter dem Titel Das Labyrinth des Unmenschlichen erschienen und wurde gefeiert und angefeindet, wie es zum – nun, ja: guten Ton der Literaturszene gehört.

Ich sage es dir noch einmal: Das Ganze ist nichts weiter als eine Komödie. Eine finstere Komödie.

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

Der junge Schrifsteller Diégane, senegalesischer Herkunft wie Elimane und wohnhaft in Paris (wo auch sonst), gehört zu einer Generation von Schreibenden, die noch auf der Suche sind und sich dabei gern in worthülsige Debatten um „die Literatur“ und ihre Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Sinn, Unsinn und allerlei andere unlösbare, daher unendlich ergiebige Themen ergehen. Um es vorwegzunehmen: In ähnlich schwergängigem Gelände endet der Roman auch wieder.

Diégane ist mit dem geheimnisvollen Buch Elimanes in Berührung gekommen, obwohl es wegen Plagiatsvorwürfen vom Verlag zurückgezogen werden musste. Eigentlich gibt es keine Exemplare mehr, doch wird Diégane überraschenderweise mit einem beschenkt – ein zweischneidiges Schwert, denn die Schenkerin beneidet und bemitleidet den Beschenkten zugleich. Ominöse Prophezeiungen dieser Art haben immer etwas Stiefeliges, leider bleibt es nicht die letzte im Romanverlauf.

Elimanes Roman wohnt ein Zauber inne, der seine Leser in Bann schlägt. Zumindest die Schriftsteller-Peer von Diégane kann sich diesem nicht entziehen, auch die Hauptfigur nicht. Dergleichen Geniales etwas ist immer etwas problematisch in Romanen (oder Filmen), denn ausgedachte Genialität kann immer nur behauptet und nicht gezeigt oder erzählt werden. Passagen, die über die Brillanz des jeweiligen Werkes Auskunft geben sollen, wirken rasch aufgeblasen.

Ja, sagte ich, ja, in diesem Land will ich Bürgerin sein, diesem Königreich will ich Treue schwören, dem Königreich der Bibliothek.

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

Das kann man nicht von den Rezensionsschnipseln sagen, die Sarr in seinen Text einstreut. Das Feuilleton ist begeistert, neidisch, beleidigt, misstrauisch, vorwurfsvoll und rassistisch und auch vernichtend. Dem Autor ist es gelungen, diese Einschübe (und viele andere) organisch mit seiner Erzählung zu verweben, gleichzeitig den Fluss des Erzählens zu brechen – als handelte es sich um Steine in einem Strom.

Sarr spielt mit der Sprache und den Erzählperspektiven, der Leser darf sich immer wieder auf Neues einstellen, der gewohnte Gang des Erzählens wechselt, Perspektiven lösen sich auf, geschickt eingeflochten in die Handlung durch Erscheinungen und Assoziationen, wodurch die zeitlich und örtlich weit voneinander entfernt liegenden Ereignisse unmittelbar miteinander verknüpft werden. Als Leser ist man gut beraten, aufmerksam zu sein, sonst überhuscht man leicht jene kleinen Hinweise darauf, wer eigentlich spricht.

Inhaltlich hat mich ein Aspekt besonders beeindruckt. Die Geschichte, die mir in Studium und Lektüre so vertraut geworden ist, wird in diesem Roman aus einer ganz anderen Sichtweise geschildert, nämlich der mehrerer Senegalesen. Kolonialismus, kulturelle Assimilation und die Liebe zu einem Land, das als Beherrscher auftritt, für das der Beherrschte dennoch in den Krieg zieht. Einfach ist hier gar nichts, denn dieses Handlungsmotiv führt zu einem Kern von Die geheimste Erinnerung der Menschen.

»Mit Hilfe seiner afrikanischen Söhne und Brüder wird Frankreich den Krieg schnell gewinnen.«

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

Die Spurensuche, die Sarr in bemerkenswert abwechslungsreicher Weise ausführt, ist spannend, trägt kriminalistische bzw. allgemeiner formuliert investigative Züge. Die Hauptfigur jagt einem Phantom nach, das nicht gefunden werden will; ihm begegnet man, wenn er es will. Leider dichtet Sarr seinem Elimane intellektuelle und körperliche Eigenschaften an, die man ihm ab einem gewissen Punkt nicht mehr abnehmen möchte.

Sarr scheut sich nicht, die Grenzen zwischen Realität und Mystik verschwimmen zu lassen, das funktioniert zumeist, weil er diese Übertritte auf erklärbaren Ursachen fußen lässt – etwa Drogen, Fieber und natürlich Träume. Weniger fundamentiert sind die Äußerungen derjenigen, die sich mit dem Buch und seinem Urheber befassen, Elimane Wirkung und die seiner Schrift, die seine Leser wie ein Zauberelexir in – man muss es leider so deutlich sagen – schwülstige Verzückung versetzt.

Das Ende erscheint mir schwach, der letzte Satz regelrecht banal. Das ist immens schade, denn auf dem langen Weg dahin touchiert Sarrs Erzählen eine ganze Reihe hochspannender Aspekte, etwa die Erlebnisse seines Freundes Musimbwa, der über ein immens beklemmendes und bedrückendes Kindheitserlebnis berichtet und lang langem Kampf mit sich selbst eine radikale Abkehr von der europäischen Literatur-Kultur hin zu einer eigenen Tradition vollzieht. Das bleibt aber bloße Episode, wie viele andere Dinge, etwa den – scheinbar obligatorischen – Nazi-Auftritt und eine Halbsatz-Jagd nach selbigen Schurken im Nachkriegssüdamerika.

So bleibt ein zwiespältiges Empfinden zurück, auch wenn ich Die geheimste Erinnerung der Menschen insgesamt für durchaus lesenswert halte. Der Roman hat unbestreitbar Stärken, ist ungewöhnlich vielfältig in Stil und Form, die nicht zu Fingerübungen verkommen, sondern mit dem Inhalt verwoben bleiben, der überwiegend mit einer schönen Sprache dargeboten wird. Trotzdem bleibt der Eindruck, einen schwächeren Preisträgerroman des Prix Goncourt gelesen zu haben.

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen
aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Hanser Verlag 2022
Hardcover 448 Seiten
ISBN: 978-3-446-27411-2

Volker Kutscher: Die Akte Vaterland

Ein schönes, stimmungsvolles Cover, mit dem Haus Vaterland, gelungen wie der ganze Roman. Cover Kiepenheuer und Witsch, Bild mit Canva erstellt.

Buchreihen sollten sich steigern. Volker Kutscher ist das mit seiner Reihe um Gereon Rath gelungen. Der vierte Band, Die Akte Vaterland, in der Reihe um den in Berlin tätigen Kommissar hat mir deutlich besser gefallen als die ohnehin guten Vorgänger. Das liegt an der größeren Vielschichtigkeit, sowohl der Handlungsstränge als auch der Themen. Die Handlung setzt im Sommer 1932 ein, die Weimarer Republik lauscht dem Lied vom Tod.

Rath, der Unpolitische, wird Zeuge von tiefgreifenden Veränderungen. Die Regierung Brüning ist gestürzt und ersetzt durch eine unter der Leitung von Papens. Die SA, Hitlers braungewandete Schlägerbande, terrorisiert wieder die Straßen, die Gewalt, die durch das zeitweilige Verbot unter Brüning eingedämmt wurde, schwillt wieder an. Für die Polizei eine zusätzliche Belastung – doch ist schon spürbar, wie die braune Gülle auch in deren Reihen eindringt.

Kutscher verknüpft auf ganz wunderbare Weise die veränderte Stimmungslage mit dem Fall, der Rath beschäftigt. Dieser wehrt sich nach Kräften, sich mit den politischen Verhältnissen auch nur zu beschäftigen, doch die Morde, denen er nachzugehen hat, sind mit Nationalismus, Rassismus und völkischem Gepöbel eng verwoben. Die Wurzeln und Motive der Tat, die nach und nach aufgedeckt werden, reichen in die Vergangenheit, in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, den blutigen Wirren im Osten.

Ganz nebenbei erfährt der Leser einiges über die – in der Rückschau – kaum fassbaren Verhältnisse dieser Zeit. Rath muss Berlin verlassen und seine Ermittlungen in Ostpreußen durchführen, genauer gesagt im Grenzbereich zu Polen. Vor Ort wird er mit der heiklen Wirklichkeit konfrontiert, die in einer unerschütterlichen Treue zu Preußen und dem Reich etwa der masurischen Bevölkerung besteht – die trotz ihrer eher dem Polnischen zuneigenden Sprache klar pro-deutsch eingestellt sind.

Sie glauben nicht, wer sich alles in diesem Land unter Preußens Krone eingefunden hat im Laufe der Jahrhunderte: Deutsche, Franzosen, Holländer, Schlesier, Litauer, Juden und natürlich Polen. Und alle verstehen sie sich als Preußen.

Volker Kutscher: Die Akte Vaterland

Politische Agitatoren nutzen dies aus, schüren den Hass auf die polnischen Nachbarn, gestützt auf braun-uniformierte Schlägertrupps wird jedem Andersdenkenden zugesetzt. Ein Verhalten, das bereits Tradition besitzt, verändert haben sich die Äußerlichkeiten und der verschärfte Revanchismus. Kutscher hat diese Dinge geschickt in die Aufdeckung des Falles eingeflochten, der Leser wird – wie Rath – damit konfrontiert, ohne das Gefühl zu haben, im Geschichtsunterricht zu sitzen.

Was mir besonders gefällt, ist die Figur des Kommissars Gereon Rath, der neben Ecken und Kanten eben auch ganz unverkennbare Schatten in seiner Persönlichkeit hat. Er mag die Braunhemden nicht, ist aber nicht unbedingt ein erklärter oder gar aktiver Demokrat; er liebt seine Charlotte Ritter, bricht jedoch sein Wort und verhält sich in einer Weise, zeitgemäß mit viel Patina bedeckt ist, etwa in seiner ritterlichen Attitüde. Kein einfach gestrickter Held, mir umso lieber. Und so freue ich mich auf den fünften Teil.

Ein kleiner Lese-Tipp noch: Harald Jähners Höhenrausch ist ein perfekter Begleiter für die ersten Teile der Krimireihe von Volker Kutscher. Das Haus Vaterland spielt dort – wie vieles andere – auch eine Rolle, vor allem aber erfährt der Leser eine Menge über Stimmungen, Mentalitäten, Rollen und deren Entwicklung während der Weimarer Republik.

Volker Kutscher: Die Akte Vaterland
Kiwi-TB 2014
576 Seiten
ISBN: 978-3-462-04646-5

James Baldwin: Von dieser Welt

Der Roman eines »wiederentdeckten« Autors hat mich in die befremdliche Welt ostentativen Glaubens geführt. Er thematisiert abe rauch den endlosen Rassismus in den USA. Cover dtv, Bild mit Canva erstellt.

Mit diesem Roman aus der Feder des jüngst wieder »entdeckten« Autors James Baldwin reist der Leser in das Harlem der 1930er Jahre. Die Hauptfigur, ein kluger, unsicherer Heranwachsender namens John, lebt im Schatten seines sich überaus fromm gebenden, gewalttätigen und die Familie beherrschenden Vaters, mit dem er sich in einem dauerhaften Konflikt befindet.

Baldwins Sprache und Fabulierkunst sind beeindruckend, auch in der deutschen Übersetzung. Bemerkenswert und oft beklemmend sind die Passagen über die Kirche und die ostentativ zu Schau getragene Frömmigkeit, die wie ein zu eng geschnürtes Korsett im Leben der Gläubigen wirkt. Ein menschliches Schwein bleibt auch dann ein Schwein, auch wenn es inbrünstig den Herrn anruft.

Nach einer Bluttat versammeln sich die Familienmitglieder zum Gottesdienst. Baldwin widmet einigen von ihnen einen langen, persönlichen Abschnitt, den er mit »Gebet« überschreibt, Gedanken voller Erinnerungen und Assoziationen. Ihr Weg, den sie zu diesem Moment zurückgelegt haben, wird erzählt. Jeder hat seine Geschichte, die erklärt, woraus die haarsträubenden (Miss-)Handlungen der Mitmenschen, oft begangen im Namen des »Herrn«, herrühren. 

Natürlich spielt auch die Hautfarbe eine Rolle, Rassismus, wie er bis in die Gegenwart nicht wesentlich besser geworden ist, schlägt den Schwarzen entgegen, was wiederum in psychischer und physischer Gewalt gegenüber den eigenen Leuten münden kann. Ein wenig hat mich Von dieser Welt das an Die Farbe Lila erinnert, jene saufenden, hurenden Tunichtgute, die den Druck der weißen Gesellschaft an ihre Frauen und Kinder weitergaben.

Ein lesenswerter Roman, der zum Glück nichts verschweigt, eben auch nicht, wenn die Schwarzen einander als »Nigger« bezeichnen, verhöhnend, verspottend oder einfach nur achtlos hingeworfen. Manche Abschnitte, in denen Baldwin wortmächtig die religiöse Verzückung seiner Protagonisten nachzeichnet, empfand ich schwer erträglich, denn mein beherrschender Gedanke war, dass auf diese Weise fanatische Gotteskrieger geboren werden.

James Baldwin: Von dieser Welt
aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
dtv 2018
Taschenbuch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-423-43413-3

Steffen Kopetzky: Propaganda

Ein vielfältiger und vielschichtiger Roman über den Krieg, Lügen, Literatur und den menschlichen Drang, sich aufzulehnen. Cover Rowohlt, Bild mit Canva erstellt.

Dieser Roman Propaganda von Steffen Kopetzky ist so vielschichtig, dass es schwerfällt, einen geeigneten Zugang für eine Besprechung zu finden. Ein kleines Beispiel: der “Crazy Nigger Highway”. Dieser rassistische Begriff wird im Roman von den Zeitgenossen als Spitzname für ein ebenso gigantisches, wie vergessenes oder missachtetes Logistik-Unternehmen verwendet, dem ein wesentlicher Anteil für den schnellen Vormarsch der alliierten Truppen zugesprochen wird.

Rund sechstausen Lastwagen betrieben den “Red Ball Highway” oder “Red Ball Express”, eine Nachschublinie quer durch Frankreich, eine Art Nabelschnur zwischen den wenigen großen Häfen am Atlantik und der nach Osten vorrückenden Front. Die LKW wurden zu drei Vierteln von Afroamerikanern gesteuert, die unmenschliche Belastungen auf sich nahmen, damit der Express nicht zum Stocken kam. Die deutsche Luftwaffe war deren geringstes Problem; Schlamm, Treibstoffverbrauch und Materialermüdung neben der immer weiter reichende Strecke schon eher.

Die Hauptfigur in Steffen Kopetzkys Roman Propaganda, der US-Amerikaner mit deutschen Wurzeln (fragt ihn bloß nicht …!), John Glueck, macht sich eines Nachts auf den Weg in den Hürtgen-Wald, dem mythischen, verlustreichen Schlachtfeld der US-Streitkräfte im Kampf gegen die Wehrmacht, auch “Fleischfabrik” geheißen. Sein Taxi: Ein Truck auf dem “Red Ball Highway”, gesteuert von einem Afroamerikaner. Dem ersten, dem Glueck in seinem Leben die Hand reicht, obwohl es ihm leicht gefallen wäre, das vorher zu tun.

Vom Hürtgen-Wald nach Vietnam

Es ist eine lehrreiche Nacht. Glueck lernt den Rassismus und die großen Gefahren kennen, die davon für die USA ausgehen, ihre Demokratie und Freiheit. Und den kuriosen Widerspruch, dass diese Armee in den Kampf zieht, um die Freiheit gegen ein zutiefst rassistisches Regime zu erzwingen. Den Rassismus ist die Armee nicht losgeworden, auch im unseligen Vietnam-Krieg war dieser virulent, wie zum Beispiel im Sachbuch “Krieg ohne Fronten” dargestellt.

Damit ist die Verbindung zum zweiten, wichtigen Erzählmotiv geschaffen: Vietnam. Propaganda wird auf zwei Zeitebenen erzählt, was mich immer für einen Roman einnimmt. Der Erzähler selbst sitzt im Knast, spätestens seit der Blechtrommel ein vertrautes literarisches Motiv, dem Kopetzky glücklicherweise eine sehr eigenständige, amerikanische und erfreulich abwechslungsreiche Note verleiht.

Der Anlass seiner Einbuchtung ist banal, der Grund hingegen etwas, das die amerikanische Gesellschaft in ihren Fundamenten erschütterte: die Pentagon-Papers. Wie der Autor das einflicht und mit seinem Helden verknüpft, bleibt an dieser Stelle ungenannt, doch soviel darf gesagt sein: Das Thema ist bis in unsere Zeit hochsensibel und brandaktuell, eigentlich Grund genug, einen Roman wie Propaganda zu lesen.

Erzählen ist niemals unschuldig

Der zweite, große Erzählstrang in diesem Buch ist die Erzählkunst, ihre Irrungen, Wirrungen und Untiefen. John Glueck ist selbst Autor, er sitzt ja an seinem ersten Roman, hat als junger Mann an Sommercamps über literarisches Schaffen teilgenommen und läuft während der sich entfaltenden Handlung einer ganzen Reihe amerikanischer Autoren über den Weg: Bukowski, Salinger und natürlich Ernest Hemingway.

Bei der Lektüre habe ich immer wieder an ein Büchlein aus der Feder des französischen Autors Eric Vuillard gedacht. In seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Werk “Die Tagesordnung” heißt es, nichts sei unschuldig in der Kunst des Erzählens. Ein Brückenschlag zu dem, was Propaganda erzählt, ist einfach, denn unschuldig ist auch hier wenig bis gar nichts, wie Glueck selbst an einer Stelle sehr treffend reflektiert.

Amerikanisch im besten Sinne

Der Erzählstil, den Kopetzky gewählt hat, mutet sehr amerikanisch an, im besten Sinne. Zu meiner großen Erleichterung hat er sich nicht wie so mancher hochgelobter Autor aus den USA in den Sümpfen erzählerischer Selbstgefälligkeit verirrt und seinen Roman mit weitschweifigem Geschwafel überladen.

Von einer einzigen, typisch amerikanischen Szene (Gerichtsmonolog) einmal abgesehen, ist der Roman abwechslungsreich und voller Überraschungen, lang angelegten und exekutierten Verknüpfungen und rasanten Wendungen, die Kopetzky in den historischen Kontext eingebettet hat. Die Hauptfigur ist wunderbar vielgestaltig, Offizier, Schreiber, Liebhaber, mitgenommen vom Leben, deutsch und amerikanisch – ja, ein Gluecksfall.

Wie alle gute Literatur hat Propaganda auch etwas Sperriges, was gemäß literaturbürokratisch orientierten Schreibtipps nie hätte geschrieben, geschweige denn gedruckt werden dürfen. Denn es fordert den Leser, manchen überfordert es auch, doch was macht das schon? Denn unter dem Strich bleibt so viel, über das es sich lohnt, einmal nachzudenken.

Propaganda im Internet-Dschungel-Krieg

Die Propaganda mag im Ersten Weltkrieg ihre Geburtsstunde gehabt haben, seitdem bilden Propaganda und Krieg ein untrennbares Paar. Beide entwickeln sich weiter, das Bild hat das Wort längst an Bedeutung überflügelt. Dank Apples iPhone ist ein nichtstaatliches Element hinzugekommen, das eine Flut an Bildern liefert und den Wahrheitsgehalt von Information für die Unbeteiligten noch weniger durchschaubar macht.

Der Krieg im Roman wurde 1944 im Wald gefochten, in Vietnam war es der Dschungel, der die Amerikaner so überforderte, dass ihnen wahnsinnige Ideen sinnvoll erschienen (Agent Orange). Die Gegenwart hat ein virtuelles Dickicht gebildet, und aus dem Dunkel dieses Dschungels, in dessen so genannten Sozialen Medien ein ewiger Krieg geführt wird, klingt geschickt gemachte Propaganda besonders schaurig.

Kopetzkys “Propaganda” auf dem sehr schönen Literaturblog von Kaffeehaussitzer besprochen. Seine treffende Rezension hat einen etwas anderen Schwerpunkt und verrät ein wenig mehr von der Handlung.

Steffen Kopetzky: Propaganda
Rowohlt Berlin 2019
Hardcover 496 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0064-9

© 2023 Alexander Preuße

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