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Christopher Clark: Frühling der Revolution

Barrikaden wurden in vielen Städten Europas errichtet, wie hier in Wien. Los ging es allerdings in Palermo, nach einem Vorspiel in der Schweiz. Cover DVA, Bild mit Canva erstellt.

Ein eher stiefmütterliches Dasein fristet die große europäische Revolution von 1848/49 im Geschichtsunterricht, möglicherweise auch im Studium des Faches. Vor derartigen Verallgemeinerungen sollte man sich normalerweise hüten, doch in diesem Fall gibt es einen guten Grund für das relative Desinteresse: Der Zivilisationsbruch nach 1933, dessen Gespenster auch nach der Niederlage von 1945 keineswegs verschwunden sind, ja, sogar wiederzukehren scheinen, überschattet mehr oder weniger alles andere in der deutschen Geschichte.

Höchste Zeit also, dass sich etwas daran ändert, nicht um die Schreckenszeit zwischen 1933 und 1945 zu relativieren, sondern sich von einer ganzen Reihe von allzu bequemen Irrtümern und naiven Klischees verabschieden. Christopher Clark hält in seinem monumentalen Werk Frühling der Revolution eine ganze Reihe von Zumutungen parat, die Sonderwegs- und Revolutionsphantasten gleichermaßen aufstoßen werden.

Clark richtet den Blick bewusst auf Europa, von Portugal bis zur Walachei bzw. Moldau. Er verzichtete darauf, sich der herkömmlichen nationalen Sichtweise anzuschließen und ebenso, die Februarrevolution in Frankreich als alleinigen und ausschlaggebenden revolutionären Ausgangsimpuls anzusehen – wie es zum Beispiel in einer Karte des frankozentrierten Altas Die Geschichte der Welt von Christian Grataloup geschieht.

Das Bild suggeriert, die Revolutionen von 1848/49 wären einem starken Impuls von Paris ausgehend entflammt; Christopher Clark zeichnet ein ganz anderes Bild, das den Anteil von Paris berücksichtigt, aber in vielfacher Hinsicht relativiert. 1830 war das übrigens etwas anders, denn da ging wirklich alles von Paris aus. Hilfreich ist die kleinere Karte, auf die globalen Auswirkungen der Revolutionen erahnbar werden.

Los geht es in – Palermo, nach einem Vorspiel in der Schweiz, dem so genannten Sonderbundskrieg 1847. Der Aufruhr in Sizilien Anfang 1848 war der eigentliche Impuls, Clark weist nach, dass davon in vielen Regionen Europas durchaus öffentlich die Rede war und eben nicht nur von den Ereignissen in Paris. Durch die Kommunikationskanäle jener Jahre mit einer Zeitverzögerung, die heute geradezu grotesk erscheint. Danach geschieht vieles gleichzeitig und zum Teil auch gegenläufig.

Ab Anfang März 1848 ist es unmöglich, die Revolutionen als lineare Abfolge von einem Schauplatz zum nächsten zu verfolgen. Wir treten in die Phase der Spaltung ein, in der fast gleichzeitige Explosionen komplexe Rückkopplungsschleifen entstehen lassen.

Christopher Clark: Frühling der Revolution

Durch diesen Ansatz ist es nahezu unmöglich, die Ereignisse chronologisch abzubilden – möglicherweise liegt hierin auch eine der Verlockungen der späteren Nationalisierung der Revolutionsgeschichte(n), mit erheblichen Folgen: Die Komplexität der Ereignisse und – ganz wichtig – ihre Verbindungen und gegenseitigen Beeinflussungen, aber auch die gleichzeitig an verschiedenen Orten ausbrechenden Empörungen verschwanden hinter dem Wahrnehmungshorizont.

Das ist nicht nur bedauerlich, sondern für die Gegenwart und das Verständnis von welterschütternden Ereignissen nachteilig. Clark hält den Februar 1848 für einen Tahir-Moment! Er stellt den so genannten »Arabischen Frühling« in eine Bedeutungslinie mit der großen europäischen Revolution von 1848/49. Beiden ist neben vielem anderen auch gemein, dass sie die Ziele der politischen, gesellschaftlichen und religiösen Emanzipation nicht erreicht haben.

Dennoch stellt sich die Frage, ob es nicht zu kurz greift, wenn man von einem Scheitern spricht, gar nicht zu reden von jenen, die den Aufständischen oder gar den »Völkern« dieser Region mangelnde Reife attestieren. Der Vorwurf der Unreife war bereits von 175 Jahren ein Mittel, mit dem Forderungen nach Emanzipation aller Art abgebügelt wurden.

Wie also sollte man die Revolutionen von 1848/49 bewerten?

War es wirklich nur eine jämmerliche Parodie der Revolution von 1789, wie Karl Marx meinte, oder sollte man dem bärtigen Kommunismus-Gläubigen unlautere Motive bei seiner Einschätzung unterstellen? Überhaupt ist Clarks Buch eine gute Anregung zum Weiterdenken – wie steht es allgemein mit Revolutionen und (gesellschaftlichem) Fortschritt? Waren die Revolutionen 1917/18 in diesem Sinne erfolgreich? Jene von 1989? Gab es jemals eine »erfolgreiche« Revolution?

Soziale Unzufriedenheit ›verursacht‹ keine Revolution – wenn sie das täte, käme es viel häufiger zu Revolutionen.

Christopher Clark: Frühling der Revolution

Die europäische Revolution von 1848/49 ist nicht im luftleeren Raum entstanden. Clark zeichnet eine Reihe von Entwicklungen in den Jahrzehnten vor dem umfassenden Aufruhr nach. Der so genannte »Pauperismus« etwa gilt vielen als wichtiger Faktor oder gar der Auslöser der Revolution, dem Clark jedoch widerspricht. Während der Lektüre verfestigt sich eher der Eindruck, dass die soziale Frage vor allem bremste, Ängste bei liberalen Kräften auslöste und diese die Seiten wechseln ließ, mit verheerenden Folgen für den Verlauf der Revolution.

Schon bei diesem Zusammenhang wird klar, wie erkenntnisfördernd Clarks Vorgehen ist. Er arbeitet die großen Unterschiede heraus, die zwischen den Regionen Europas bestanden und zeigt, dass es eben keine direkte Linie zwischen den zum Teil verheerenden sozialen Auswirkungen der Hungersnöte 1847 und dem Revolutionsausbruch 1848 gegeben hat. Bedeutungslos waren sie nicht, allein der Faktor Angst beeinflusste den Revolutionsverlauf beträchtlich.

»Arme dulden« und machen keine Revolution. Wer aber dann? Eine Revolution ist politisch, also müssen politisch denkende und agierende Menschen dafür verantwortlich sein. Es gab zwischen dem Sieg über Napoleon Bonaparte und 1848 zahlreiche Aufstände, Erhebungen, Umstürze und Revolutionen, viele davon wurden wie Verschwörungen geplant und durchgeführt – der Staat wappnete sich mit Polizei und Militär geschickt dagegen. Aber 1848/49 half das wenig, denn mit den Massen, die den politischen Protestaktionen spontan in die öffentlichen Räume folgten, hatte man nicht gerechnet.

Das Militär und die Polizei in Paris – wie in vielen anderen Städten in ganz Europa – hatten sich in den vergangenen 18 Jahren auf die falsche Revolution vorbereitet.

Christopher Clark: Frühling der Revolution

Clark erklärt vor seiner Schilderung der Revolutionsereignisse zunächst einmal ausführlich jene Welt vor 175 Jahren. Bei den Ordnungskonzepten erwies sich ausgerechnet die Macht des Mannes über die Frau, insbesondere in der Ehe an, als unantastbar, während andere Bastionen zumindest ins Wanken gerieten: Feudalismus, Adelsprivilegien, Zunftrechte, Sklaverei. Die »geschlechtsbedingte Ungleichheit [wehrte] sich am hartnäckigsten gegen jede Veränderung.« Eine ebenso ernüchternde wie bittere Erkenntnis.

Bei dem Versuch, rückblickend Ordnungsprinzipien bzw. -gruppierungen zu erdenken, macht das disparate und von hoher Mobilität gekennzeichnete Verhalten Probleme. Es fällt schwer, zum Beispiel »Liberale«, »Demokraten« oder »Radikale« genau zu fassen; selbst »Konservative« unterschieden sich grundlegen. Ein Konservativer, der Revolutionäre für irregleitet hält, ist grundverschieden von einem, der in ihnen »satanische Rebellen gegen Gott« sieht.

Die französische Revolution von 1830 ist tatsächlich eine Art Initialzündung für nachahmende Aufstände in Italien, Polen und Deutschland gewesen, die massive Enttäuschung bezüglich der Ergebnisse führte zu politischen Oppositionsbewegungen in den Jahren danach. Es entspann sich ein reges Katz- und Mausspiel zwischen Opposition und Staat, das in Palermo am 12. Januar 1848 jäh endete und in einen Aufstand mündete, der zuvor per Plakat (!) angekündigt wurde.

Das ist nur die erste der an Kuriositäten reichen Geschichte der europäischen Erhebungen 1848/49, die insgesamt zeigen, wie dünn der Firnis ist, der eine scheinbar stabile Ordnung von ihrem Untergang trennt. Warum führte ausgerechnet die Revolutionen von 1848 zu einem – recht kurzen – Erfolg, nachdem so viele Anläufe zuvor scheiterten? Eine Antwort:

Das Militär und die Polizei in Paris – wie in vielen anderen Städten in ganz Europa – hatten sich in den vergangenen 18 Jahren auf die falsche Revolution vorbereitet.

Christopher Clark: Frühling der Revolution

Ein Blick nach England, das sich irrigerweise im Glauben wähnt(e), eine selbst angedichtete liberale Verfassung hätte einen Aufstand mehr oder weniger unnötig gemacht, offenbart die Bedeutung von umfassenden und geeigneten Sicherheitsmaßnahmen. Knüppel in großer Zahl haben auf der Insel schon den Aufruhr im Ansatz niedergehalten und hätten dank schierer Masse auch weiterreichende Ansätze erstickt, argumentiert Clark.

Das Regime in Großbritannien war besser vorbereitet als die auf dem Kontinent. Clark sagt mehrfach, dass man etwa in Frankreich auf den falschen Aufstand eingestellt war, in Deutschland waren die geheimdienstliche Gegenmaßnahmen vor 1848 sehr erfolgreich, dann aber zunächst nicht mehr. Für die Gegenwart lässt sich daraus die Lehre ziehen, dass die Erhebung 2020 in Belarus mit geringen Chancen in die Schlacht zog, stand hinter Lukaschenko doch Putin und ein ruchloses, erprobtes und ausgeklügeltes Repressionsmanagement.

Die Revolutionen von 1848/49 sind in eine erfolgreiche Gegenrevolution übergegangen, was durchaus als »Scheitern« interpretiert werden kann. Wer Clarks Darstellung aufmerksam folgt, merkt bereits während der Phase der Etablierung der neuen Revolutionsherrschaft, dass dieses »Scheitern« bereits hier seinen Anfang nimmt. Ein Beispiel: Steuern sind unbeliebt, aber nötig, um zu regieren; sie wirken aber wie Wasser und Sand auf das revolutionäre Freudenfeuer und führen zu Streit unter den Revolutionären.

Noch problematischer war der Gegensatz zwischen Stadt und Land, der verschärft wurde, durch eine leichtfertige und hartnäckige Ignoranz gegenüber den Verhältnissen außerhalb der urbanen Zentren – dort aber wohnte, arbeitete und litt die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung. Sie ging den revolutionären Bewegungen rasch verloren, auch dort, wo die Landbevölkerung gegenüber den Erhebungen grundsätzlich positiv eingestellt war, weil ausnahmsweise von den Revolutionären auf die wenigen Einsichtsvollen gehört wurde. Aber auch in diesen Fällen ließen sich komplexe, vertrackte und von den bisherigen Privilegierten bis aufs Blut bekämpfte Strukturen nicht so einfach durch bessere ersetzen.

In Neapel zeigte sich, dass die Konterrevolution noch ein paar Asse im Ärmel hatte.

Christopher Clark: Frühling der Revolution

Ein ganz wichtiger Faktor, der bisweilen übersehen wird, ist die Stärke der Reaktion, der Konservativen, Adeligen, Monarchen und vor allem anderen: des Militärs. Einmal nur, in Baden, sind reguläre Truppen in nennenswerter Zahl auf die Gegenseite gewechselt, was 1849 zu einer ausgedehnten militärischen Kampagne mit großen Schlachten führte. Ungarn wäre vielleicht auch noch zu nennen, da waren die Verhältnisse jedoch anders und noch viel komplexer als in Süddeutschland. In beiden Fällen waren die Aufständischen der Gegenrevolution militärisch hoffnungslos unterlegen.

Die Verlässlichkeit des Militärs (und des Polizeiapparates) ist das vielleicht größte Plus gewesen, auf das sich die Gegenrevolution im Verlauf der Revolution stützen konnte. Dem hatten die Aufständischen nichts entgegenzusetzen, sie schwächten sich vielmehr selbst und spalteten sich entlang der scharf gezeichneten Bruchlinien auf. Psychologisch war die Revolution am Ende, als sie sich selbst entzauberte, indem sie ihr Angstpotential einbüßte. Das geschah wieder nicht in Paris oder Berlin, sondern in Neapel.

Zu den Kuriositäten, die auch Anfang des 21. Jahrhunderts nachdenklich machen sollten, gehört, dass es den Konterrevolutionären gelang, das Volksempfinden auf ihre Seite zu bringen. Clark zeigt wunderbar auf, wie auf das »Abflauen der Revolution« eine verblüffende »Mobilisierung des Volkes gegen sie« folgte. Das entspricht nun gar nicht den Bullerbü-Versionen von Revolutionen, wie sie in Romanen und Filmen so gern transportiert werden.

Überall in Europa waren Schaulustige und Dummköpfe entscheidend für die wechselhafte Mechanik der Machtverhältnisse.

Christopher Clark: Frühling der Revolution

Auch sind die Vorgänge um die Wahl Louis-Napoléon Bonapartes zum Präsidenten Frankreichs am 10. Dezember 1848 in höchstem Maße bedenklich. Es war ein völlig unerwarteter Erdrutschsieg, in dem Bonaparte fast drei Viertel (!) der Stimmen erhielt. Das Ergebnis wurde vorher als unwahrscheinlich erachtet, im Nachhinein als unvermeidlich dargestellt. Die Kalkulation der vorgeblich klugen, einsichtigen Konkurrenten waren offenkundig grundfalsch. Da der Mensch sich nicht ändert, dürfte derlei auch der der Gegenwart wieder vorkommen. Und wer dächte jetzt nicht an Trump?

Interessant ist auch, dass Russland während des voluminösen Buches recht wenig Raum einnimmt und wenn, dann in der Rolle der konterrevolutionären Interventionsmacht. Die konservativen und reaktionären Kreise des Landes, aber auch die Linken, Progressiven wandten sich massiv gegen »den Westen«, aus unterschiedlichen Motiven, doch mit allzu vertrauten Argumenten und der Erkenntnis, die man immer wieder berücksichtigen sollte: Russland gehört(e) nicht zu Europa.

Der Frühling der Revolution von Christopher Clark ist ein herausragendes, monumentales, vielschichtiges und hervorragend argumentierendes Werk über die Revolutionen von 1848/49 in Europa, das dem Leser allein durch seinen Umfang einiges abverlangt. Der Autor schreibt in einer fesselnden Weise, bleibt dabei differenziert und klar, was es enorm erleichtert, die Entwicklungen an so vielen Schauplätzen nachzuvollziehen. Die Zeit, die es braucht, ist gut investiert, denn man versteht die Vergangenheit und Gegenwart sehr viel besser, weil man die richtigen Fragen stellt.

[Rezensionsexemplar]

Christopher Clark: Frühling der Revolution
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz,Klaus-Dieter Schmidt, Andreas Wirthensohn
Hardcover 1.168 Seiten
mit 42 s/w-Abbildungen und 5 Karten
ISBN: 978-3-421-04829-5

Göttinger Literaturherbst 2023 – Nachlese

Fünf Bücher kann ich ohne Bedenken empfehlen, eines interessiert mich nicht und eines war eine Enttäuschung. Ein wenig Festspielatmosphäre, tolle Veranstaltungsorte, gute Lesungen mit interessanten Autoren und überwiegend guten Gesprächspartnern.

Der Applaus klingt noch im Ohr: Gerade erst habe ich die Veranstaltung mit Bonnie Garmus verlassen, die mit ihrem Roman Eine Frage der Chemie einen Bestseller gelandet hat. Das Buch kenne ich nicht und werde es auch nicht lesen, mich hat vor allem interessiert, wie eine Lesung verläuft, wie die Kommunikation funktioniert, Moderatorin und Vorleserin ihre Aufgabe lösen und das Publikum reagiert. Das war sehr aufschlussreich.

Ich bin zu insgesamt acht Veranstaltungen gegangen, was den Festival-Charakter des Göttinger Literaturherbst in Spurenelementen erlebbar machte. Das gilt besonders für den Freitagabend vorletzte Woche, als ich zunächst Daniel Kehlmann für Lichtspiel und direkt im Anschluss Andrej Kurkow mit Samson und das gestohlene Herz erleben durfte. Zwei Lesungen direkt nacheinander – geht das? Ja, ganz prima sogar.

Zweimal bin ich unvorbereitet zu einer Lesung aufgebrochen, im Falle von Ralf Rothmann an seinem Buch Die Therorie des Regens durchaus interessiert, was sich nach der Lesung jedoch erledigt hatte. Einen Roman werde ich von dem Autor sicher lesen, Im Frühling sterben steht schon im Regal bereit. Die Lesung war dennoch alles andere als eine Enttäuschung, Gespräch und Vortrag haben unterhalten, es gab kluge Fragen seitens des Gesprächspartners und aus dem Publikum.

Das ist ein gutes Stichwort, denn bei der Lesung von Andrej Kurkow wirkte der Gesprächspartner – nun, sagen wir: indisponiert. Das Gespräch versandete im Nebel des Ungewissen – glücklicherweise hatte das Publikum Fragen, die wie ein kommunikativer Rettungsring wirkten. Die Nachfragen erlaubten dem sehr sympathischen und gut Deutsch sprechenden Autor viel zu erzählen – auch zu anderen Romanen, von denen ich mir gleich einen gekauft habe. Graue Bienen, die wenigen Worte, die Kurkow darüber verloren hat, klangen sehr interessant.

Leichtigkeit heißt nicht oberflächlich

Leichtigkeit prägen Kurkows Samson-Romane wie auch Kehlmanns Lichtspiel, in Steffen Schroeders Planck – oder wie das Licht seine Leichtigkeit verlor, ist das Wort sogar Teil des Titels. Ganz besonders trifft es auch auf den Roman Aufklärung von Angela Steidele zu, wenngleich der Titel auf sperrige Kost schließen lässt. Mehrfach wurde thematisiert, wie die Schriftsteller ganz planmäßig versucht haben, die Lesbarkeit durch Elemente der Leichtigkeit zu erhöhen.

Aber Leichtigkeit ist nicht mit oberflächlich zu verwechseln! Leider habe ich bei mehreren Besprechungen und Rückmeldungen zu einigen Romanen schon merken müssen, dass zu leichtfertig, vielleicht auch zu flüchtig gelesen wurde. Das ist schade, denn die Leichtigkeit gibt dem Leser den nötigen Raum, um über die schweren Dinge der Handlung nachzudenken – das gilt für dieses Quartett, das ich nachdrücklich zur Lektüre empfehlen möchte.

Das gilt auch für den Brocken von einem Buch namens Der Frühling der Revolution von Christopher Clark. Der Historiker beleuchtet die Revolution von 1848/49 aus einer gesamteuropäischen Sicht, was eine Menge neuer Sichtweisen und Erkenntnisse öffnet, darunter einige hochspannende, die Revolutionsträumer wie eine kalte Dusche ernüchtern sollte. Sklavenbefreiung – eine gute Sache, aber mehr als ein Teufel steckt im Detail, zum Beispiel, wenn die Sklavenhalter gar keine Weißen sind, sondern Schwarze bzw. Angehörige einer Mischbevölkerung.

Eine Enttäuschung gab es auch: Felicitas Moklers Vortrag über das hochspannende Thema Kosmologie schöpfte wie ihr Buch nicht aus, was möglich wäre. Kurioserweise fehlt es an sprachlicher Präzision, didaktisch ansprechender Struktur und thematischer Verflechtung. Ich lese ihr Buch trotzdem, denn für meine Intention ist es durchaus geeignet: Ausloten, wo die Grenzen meines Verstehens sind.

Alles in allem bin ich sehr zufrieden und hoffe auf ein ähnlich gutes Programm im kommenden Jahr.

Göttinger Literaturherbst 2023

Meine glorreichen Sieben – das sind die Veranstaltungen des Göttinger Literaturherbstes 2023, auf die ich mich am meisten freue. Das Programm ist in diesem Jahr großartig, vielleicht schaue ich mir noch die eine oder andere Sache zusätzlich an, denn – von der ewig-hässlichen Stadthalle (brrr) einmal abgesehen – gibt es viele sehr schöne, atmosphärische Veranstaltungsräume.

Heute beginnt für mich der Göttinger Literaturherbst 2023 mit einer zweifellos großartigen Veranstaltung: Der Historiker Christopher Clark spricht über die Revolution von 1848/49 in Europa – womit das Thema aus seinen nationalen Brutkästen geholt wird. Clark hat ein voluminöses Buch zu dem Thema verfasst, das Frühling der Revolution betitelt ist. Wie in seinen berühmten und diskutierten Die Schlafwandler wird der Leser mit neuen Perspektiven konfrontiert, los geht es mit der Revolution in – nein, nicht Paris – Palermo (nach einem Vorspiel in der Schweiz).

Es ist das einzige historische Sachbuch meines persönlichen Programms, das – wie man sieht – vier Romane, ein historisches und ein naturwissenschaftliches Sachbuch sowie ein Kompendium mit einem sehr persönlichen Zugang zum Thema Schreiben umfasst.

Thematisch geht es historisch-politisch zu. Aufklärung von Angela Steidele ist zum Glück kein Buch über die Abgründe des Sexualkundeunterrichts, sondern führt den Leser ins 18. Jahrhundert, ein Historischer Roman, auf den ich mich sehr freue (danke noch einmal an Marius Müller von Buch-Haltung für die schöne Besprechung).

Andrej Kurkow lässt seine Helden Samson und Nadjeschda durch die blutigen Wirren des »Bürgerkriegs« im Gefolge des Ersten Weltkrieges in Kyjiw (Kiew), Ukraine, taumeln. Dabei ist es ihm in seinem ersten Teil gelungen, die Gewalt anklingen zu lassen, ohne in Voyeurismus zu verfallen; stattdessen wählt er einen plüschigen Ton, was die Ereignisse nicht weniger grausam, aber erträglicher gestaltet. Auf den zweiten Teil bin ich sehr gespannt – den werde ich allerdings erst im Anschluss lesen können.

Der Roman Lichtspiel von Daniel Kehlmann lässt den Leser am bewegten Leben des Regisseurs W.G. Pabst und zahlreichen anderen Zeitgenossen teilhaben. Schon das erste Viertel des Romans zeigt, was Kehlmann gelungen ist: Er hat eine leicht lesbare (laut Wolfgang Herrndorf eine unterschätzte literarische Qualität) und wirksame sowie angemessene Erzählform gefunden, ohne ins Seichte abzugleiten. 

Das lässt sich auch über Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor von Steffen Schroeder sagen, der den Leser in die Zeit führt, zu der das Hitlerreich in den Todeskampf eintrat und sich seine Monstrosität nach dem gescheiterten Attentat Stauffenbergs nur noch durch einen Sieg der alliierten Truppen beenden ließ. Plancks Sohn ist ihm Mahlwerk der Gestapo und SS gefangen, der Tonfall der Erzählung bleibt dabei in einer gewissen Weise lakonisch, sarkastisch, boshaft-heiter.

Bei Lichtspiel und Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor wird ganz nebenbei immer auch deutlich, was Deutschland bzw. die deutschsprachige Welt der 1920er Jahre verloren hat, als das braune Pack die Macht übertragen bekam. Ich weigere mich jedoch, diese Romane als »wichtig« zu bezeichnen, weil sie »uns« etwas für unsere eigene Zeit zu sagen hätten oder eine Warnung bereithielten. »Wir« haben »uns« noch nie davon beeindrucken lassen.

Ralf Rothmann hat mit seiner Theorie des Regens ein Kompendium seiner Notizen aus vielen Jahrzehnten zusammengestellt. Hier werde ich ganz ohne vorherige Lektüre an der Veranstaltung teilnehmen, von Rothmann habe ich noch kein einziges Wort gelesen. Ich bin voller Neugier, auf das Gespräch und darauf, wie es ist, völlig unbedarft zuzuhören.

Schließlich noch eine Form des wissenschaftlichen Eskapismus. Felicitas Mokler hat ein Buch veröffentlich, dessen Titel für sich selbst spricht: Die Evolution des Universums: Vom Urknall bis in die Ewigkeit. Als alter Science Fiction-Leser und Teleskop-Sternegucker (es ist kalt in klaren Herbst- und Winternächten) lasse ich mich gern auf den neuesten Stand der Kosmologie bringen. Wobei – verstehen werde ich sicherlich nicht alles, doch darum geht es gar nicht. Die eigenen Grenzen des Verständnisses kennenzulernen, ist meines Erachtens oft genauso wertvoll, wie das Verstehen selbst.

»Alles ist teurer als ukrainisches Leben«

Das wohl wichtigste politische Buch, das ich 2023 gelesen habe. Die Textsammlung bietet eine fabelhafte Möglichkeit, kompetenten Osteuropa-Kennern und vor allem -Bewohnern zuzuhören. Es gibt einen Menge zu lernen, gerade auch für den eigenen Standpunkt, die eigene Weltsicht. Cover edition fotoTAPETA, Bild mit Canva erstellt.

Das ganze Elend westlicher Gesinnungsethik und blinder Russophilie wird am Beitrag von Jens Herlth deutlich, der sich gegen einen pointierten Essay der ukrainischen Schriftstellerin Oksana Sabuschko zu russischer Literatur und Kriegsverbrechen richtet. Slawist Herlth unternimmt einen hilflosen Versuch, zu verteidigen, was nicht zu verteidigen ist.

In dem fabelhaften Sammelband »Alles ist teurer als ukrainisches Leben« gibt es – zum Glück – mehrere weitere Beiträge, die Herlth entschieden widersprechen und widerlegen. Das alles muss hier nicht wiederholt werden, stattdessen seien die Aspekte genannt, die am Beispiel eines Einzelnen zeigen, worauf der gesamte Band abzielt.

Bemerkenswert ist vor allem die Argumentationslinie Herlths, die ungewollt jene blinden Flecken offenbart, mit denen viele westliche Blicke gen Osten behaftet sind. Einmal nur gebraucht Herlth in seiner Replik das Wort »menschenverachtend«. Butscha? Folterlager? Kindesentführungen? Terrorangriffe? Vergewaltigungen? Die genozidale Propaganda des Putin-Regimes?

Keineswegs. Herlth empört sich darüber, dass für russländische Soldaten der Begriff »Ork« verwendet wird und – in den sozialen Medien, also keineswegs offiziell (!) – der Wunsch geäußert wird, die Invasoren mögen Dünger für ukrainische Felder werden. Wäre Slawist Herlth auf der Höhe der Zeit, wüsste er, dass selbst russische Regime- und Kriegskritiker ihr Land als »Mordor« bezeichnen.

Das ist in einer erschütternden Weise erbärmlich und bezeichnend: Herlth argumentiert »als ob«: Als ob Russland keinen Angriffskrieg führen würde; als ob es keinen Unterschied zwischen dem Angreifer und dem Angegriffenen gäbe; als ob die Herabwürdigung von Angriffskriegern gleichwertig mit deren verabscheuungswürdigen Verbrechen an Zivilisten und Kriegsgefangenen wäre.

Der moralische Kompass scheint bei Herlth ein wenig durcheinandergeraten, und wer die Welt so verzerrt betrachtet, gerät recht schnell selbst in Ork-Verdacht. Dabei gäbe es an der scharfen Attacke, die Sabuschko gegen die russische Literatur reitet, einiges zu besprechen, wie die Beiträge von Karlolina Kolpak & Aleksandra Konarzewska sowie Mathew Omolesky zeigen: Man müsste nur offen zuhören, statt schnappatmig zurückzukeifen.

Ukrainische Leben sind weniger wertvoll. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine ethische Wahl.
(Kateryna Mishchenko)

Eine der wesentlichen, in diesem Band immer wiederkehrenden Fragen ist: Soll man trotz des russländischen Angriffskrieges noch russische Literatur lesen oder wegen ihrer imperialen DNA boykottieren? Recht einheitlich ist die Ablehnung, gemeinsam mit russländischen Künstlern aufzutreten, auch wenn sich diese gegen Putin aussprechen.

Das sorgt in kultur- und ausgleichsbeflissenen westlichen Kreisen für Naserümpfen, ein gutes Zeichen dafür, dass diese Kreise noch immer nicht begriffen haben. Auf die Frage, ob, was und wie man russische Literatur lesen sollte, gibt es vielfältige Antworten; tatsächlich spricht einiges dafür, vor allem ukrainische Literatur zu lesen, weil sie gut ist und es ein Akt kultureller Dekolonisation sein kann.

Damit ist das Feld bereitet: »Alles ist teurer als ukrainisches Leben« bietet dank der Fülle an Beiträgen eine Menge an Themen und Sichtweisen, über die man nachdenken kann, ja sollte, muss. Da wäre jener von Timothy Snyder, der sich mit der fehlgeleiteten, verheuchelten deutschen Erinnerungskultur auseinandersetzt, welche die Ukraine Hand in Hand mit (Sowjet-)Russland ausblendet.

Man reiste nach Moskau, um dort Absolution (und Erdgas) zu bekommen.
(Timothy Snyder)

Noch wichtiger sind aus meiner Sicht jene wütenden, schonungslosen Auslassungen von Szczepan Twardoch, der gleich zweimal zu Wort kommt. Seine Zeilen sind nicht angenehm zu lesen, aber ungeheuer wichtig, denn für die im Westen Geborenen, die in der komfortablen Bequemlichkeit ihrer Wachstums-Demokratie aufgewachsen sind, ist es unangebracht, Osteuropa zu belehren.

Es geschieht dennoch, insbesondere mit Blick auf Russland. Twardoch beschreibt das sehr passend als paternalistisch-herablassend, was bereits vor dem 24. Februar 2022 zu dramatischen Verwerfungen in osteuropäischen Staaten geführt hat. Der Schock über den russländischen Angriffs- und Vernichtungskrieg war dort nicht so groß, weil man sich keinen grotesken Illusionen und Schönrednereien hingegeben hat.

Twardoch ist gnadenlos. Mit Vevre, aber keineswegs blindwütig zieht er in die Schlacht und unternimmt einen Streifzug durch die russländische Gewaltgeschichte. Dabei macht er auch nicht von Säulenheiligen á la Alexander Solschenizyn halt, der im Westen dank seines »Archipel Gulag« einen besonderen Ruf genießt und mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Liebe westeuropäische Intellektuelle: Ihr habe keine Ahnung von Russland.
(Szczepan Twardoch)

Für Twardoch verbindet sich die Gräuel von Butscha mit dem Gesicht Solschenizyns und zwar mit dem des jungen Artilleriehauptmanns, der beim Einmarsch in Ostpreußen dabei gewesen war und – als kommandierender Offizier – zwar nicht an den Vergewaltigungen von Zivilistinnen teilnahm, aber diese eben auch nicht unterbunden hat.

Vor diesen »Befreiern« ist die halbwüchsige Großmutter Twardochs geflohen, der Großvater musste im Januar als desertierter Volkssturmler mit ansehen, wie der sowjetische NKWD wahllos Erschießungen vornahm. Davon zieht Twardoch eine Linie zur Gegenwart und stellt die Frage, was nach Putins Abgang geschehen werde. Tauwetter statt Morgethau-Plan, fürchtet er.

Klingt brutal? Wer Witold Jurasz’ Beitrag liest, in dem er schonungslos aufzeigt, wie die Hörigkeit gerade deutscher Eliten gegenüber Russlandmythen Europa zerstört, wird eines Besseren belehrt. Das Kind namens europäische Integration liegt tief im Brunnen und wenn man auf das kommunikative Desaster (!) um die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine schaut, versinkt es Tag für Tag weiter.

[…]eine Politik, deren Tenor von deutschen Politikern bestimmt wird, wie sie jahrelang Nord Stream 2 forcierten und Russlandprognosen trafen, von denen keine einzige eingetreten ist. Die Kompromittierung der deutschen Russlandpolitik ist leider kein Argument für, sondern gegen die vertiefte Integration.
(Witold Jurasz)

Jurasz legt den Finger in die Wunde, wenn er die Doppelzüngigkeit und das fehlende Augenmaß von Menschenrechtlern kritisch beleuchtet. Diese übersehen russländische Verbrechen und gestatten Russland Rechte, die man »den Amerikanern niemals zugestanden hätte«. Völlig zurecht weißt er daraufhin, dass US-Journalisten für ihre Berichte über Menschenrechtsverletzungen nicht sterben, russländische von »Unbekannten« ermordet werden.

Aus »Alles ist teurer als ukrainisches Leben« lassen sich spektakuläre Ideen ziehen. Was soll mit der russischen Sprache in der Ukraine geschehen? Zunächst einmal sollte klar sein, dass die Ukraine zweisprachig ist, Gwendoly Sasse hat das »kontextabhängige Bilingualität« genannt. Russisch wird aus dem Alltag nicht komplett verschwinden. Oleksiy Radynski unterbreitet den Vorschlag, sie in Ostukrainisch umzubenennen, was aus unterschiedlichen Gründen eine Menge Charme hat.

Damit verbindet sich eine sehr weitgehende Idee, nämlich die russische Kultur zu dekonstruieren. Radynski meint damit, dass etwa deren »Pantheon« neu gestaltet gehört; statt ihn »Tolstojewski« zu überlassen, sollte man Schriftsteller wie Nikolaj Leskow aufnehmen, der eine ganz andere Perspektive in und aus Russland gibt.

Die russische Sprache gehört uns, wir geben sie Putin nicht her.
(Oleksiy Radynski)

»Alles ist teurer als ukrainisches Leben«

Das ist ein schönes Beispiel dafür, auf welch’ eingedampften Niveau im Westen oft Diskussionen geführt werden – die Basis der Argumentation ist dünn, trotzdem werden weitreichende Aussagen getroffen. Dafür gibt es den Begriff des »Westplaining«, der von Aliaksei Kazharski beleuchtet wird. Es ist eben nicht ein geographischer Ausschluss von Meinungen, sondern bezüglich der fachlichen Kompetenz.

Auch in diesem Beitrag geht es differenziert zu, denn Kazharski erweitert »Westplaining« durch »Russosplaining« und »Ukrosplaining«. Der erste Begriff zeigt, wie fatal uninformiertes Urteilen sein kann, denn die russische Sicht vor dem Angriffskrieg projizierte Annahmen und Ideologien auf die Ukraine, wodurch der Blitzkrieg scheiterte.

Klar formulierte Kritik ist zugegebenermaßen unangenehm, doch wann ist es das nicht, wenn einem ein Spiegel vorgehalten wird? Dieser hier hat vielfältige Facetten und ist umso wertvoller. Am Ende nämlich, wenn alle Beiträge gelesen und reflektiert sind, bleibt die Erkenntnis, dass Oksana Sabuschko mit ihrer fulminanten Attacke vielleicht in der Wahl der Worte, doch nicht im Kern ihrer Aussage überzogen hat. Eine Neubewertung des imperialen Russland ist dringend nötig. Bis dahin heißt die Devise: Fack ju, Puschkin.

[Rezensionsexemplar]

»Alles ist teurer als ukrainisches Leben«
Aleksandra Konarzewska, Schamma Schahadat, Nina Weller (Hrsg.)
edition fotoTAPETA 2023
Broschur 272 Seiten
ISBN: 978-3-949262-29-6

Dekoder (Hrsg.): »Das ist ein Ozean aus Wahnsinn«

Eine fabelhafte Sammlung von Beiträgen aus Belarus und Russland, die sich mit Putins Angriffskrieg auf die Ukraine kritisch auseinandersetzen. Cover edition fotoTAPETA, Bild mit Canva erstellt.

Aus der Ferne erscheinen die Dinge immer einfacher, als sie in Wirklichkeit sind. Eine Binsenweisheit, die – wie so vieles andere – in Kriegszeiten aus dem Blick geraten kann. Vor allem, wenn es um jene Ferne geht, die nicht mehr so ohne Weiteres erreicht werden kann, weil man gut beraten ist, im Wortsinne jede Nachricht, jede offizielle Äußerung als Lüge zu betrachten.

Man darf dem Verlag edition fotoTAPETA dankbar sein, dass er Bücher wie »Das ist ein Ozean aus Wahnsinn« realisiert, denn die kritischen Stimmen zum Krieg aus Russland und Belarus sind wie ein kleines Fenster, das geöffnet wird und einen schmalen Spalt bietet, um Einblick zu erhalten in jene Lebenswelt, die in deutschen Medien oft nur in nichtssagenden, verallgemeinernden Sätzen Ausdruck finden.

Was heißt es eigentlich, wenn jemand Russland verlassen muss? Zunächst einmal bedeutet das, dass es sich um eine oder mehrere Personen handelt, die sich nicht aus Jux und Feriensehnsucht im Westen aufhalten, während sie gleichzeitig Putin unterstützen, was zurecht äußerst kritisch gesehen werden muss. Es sind Bewohner der Russischen Föderation, die unter dem Druck der Repressionen dieser Diktatur keine Zukunft haben.

Wir verstehen nicht, was mit uns geschieht, welche Epoche wir konkret haben.

Dekoder (Hrsg.): »Das ist ein Ozean aus Wahnsinn«

Es ist  bedrückend, die Auszüge des Tagebuchs von Xenia Luschenko zu lesen, in denen sie ihre Erschütterung über den Kriegsausbruch, die panische Angst um ihren Sohn, den sie ans Exil verliert, die zunehmende Isolation im Land angesichts der fliehenden Freunde und die brutale Machtdurchsetzung des Regimes an ihre Hochschule beschreibt. Die Zeitgenossen tun, als ob alles normal wäre oder geben sich opportunistisch: ein „Z“ ans Revers, kein Problem.

In diesem ganz vorzüglichen Sammelband kommen sehr viele, sehr unterschiedliche Menschen aus Belarus und Russland zu Wort, die eine Facette, einen Ausschnitt dessen beschreiben, was sich hinter dem Wort „Krieg“ verbirgt. Manche Dinge ähneln sich, etwa das Gefühl der Scham, des schlechten Gewissens gegenüber den mit Zerstörung und Vernichtung überzogenen Ukrainern. Das war ganz besonders intensiv in Natalja Kljutscharjowas Tagebuch vom Ende der Welt zu spüren.

Etwas anders sieht der Blick in die Zukunft aus. Übereinstimmend ist die Sorge, dass es keine geben könnte, für die jeweilige Person, aber auch für das gesamte Land. Was genau damit gemeint ist, hängt vom Standpunkt und der Lebenssituation ab; die Künstlerin sieht eine andere Zukunft schwinden als der politisch gut vernetzte und aktive Journalist einer großen Zeitung.

Damit korrespondiert auf eine bemerkenswerte Weise der Verlust der Vergangenheit. Gewissheiten zerstäuben im Sturmwind des Angriffs- und Vernichtungskrieges, letztlich auch die Vergangenheit des so genannten „Großen Vaterländischen Krieges“, dem propagandistisch bis zur Unkenntlichkeit verzerrten Erinnern an den Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands im Sommer 1941. Selbst das, was unter den Bergen an Lügen durchschimmert, verliert an Wert, wenn man selbst Teil eines verbrecherischen Krieges ist.

Vor allem ein Beitrag aus Belarus hat mir viel Stoff zum Nachdenken geschenkt. Für das Land, das für kurze Zeit mit so vielen Hoffnungen bedacht war, die – wie so unendlich viele zuvor – von der erbarmungslosen russländisch-imperialen Machtmaschine zermalmt wurden, ist Teil des Krieges: Aufmarschgebiet, Stützpunkt für die Luftangriffe auf zivile Ziele, Lieferant von Material an den Aggressor, wenn auch kein aktiver Kriegspartizipant.

Für Belarusen ist das eine immens schwierige Lage. Wer möchte es den Ukrainern verdenken, wenn sie mit dem Finger auf die Einwohner zeigen und Vorwürfe äußern. Wie soll man damit umgehen? Eigentlich hat das belarusische Volk sehr deutlich gezeigt, dass die Führung des Landes nicht Belarus ist, im Gegenteil, die Verantwortung liegt also beim Regime.

Trotzdem machen es sich belarusische Kommentatoren des Krieges nicht so leicht und wälzen alles auf die Herrschenden ab; die Scham gegenüber den Ukrainern ist spürbar, auch das verzweifelte Bemühen, eine halt- und tragbare Haltung zu dem Verhängnis zu finden. Man ahnt: ein vergebliches Unterfangen, Kriege nehmen keinerlei Rücksichten auf Befindlichkeiten, von absolut Niemandem.

Die Staatsmacht hat Boris Romantschenko den Krieg erklärt. Dieser alte Mann hat vier Konzentrationslager, darunter Buchenwald, überlebt. Im März 2022 ist eine russische Rakete in Charkiw eingeschlagen und hat ihn getötet. (Wladimir Metjolkin)

Dekoder (Hrsg.): »Das ist ein Ozean aus Wahnsinn«

Der für mich bewegendste Beitrag stammt von Wladimir Metjolkin, der als Journalist für die Studentenzeitschrift Doxa gearbeitet hat und angeklagt wurde. Anfang April 2022 wurde er verurteilt und hat in seinem Schlusswort bei der Gerichtsverhandlung über den Angriffskrieg Russland gegen die Ukraine gesprochen.

Metjolkins Mut ist für mich höchst beeindruckend, ebenso die Klarheit, mit der er den russländischen Angriffskrieg charakterisiert und darstellt. Er stellt das in Russland gepflegte Narrativ von der Befreier- und Siegernation im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland gegen jene Opfer in der Ukraine, die Veteranen des Zweiten Weltkrieges und Überlebende des Holocaust waren.

Er schildert klar, wie menschenverachtend die russländische Kriegführung auch gegenüber den eigenen Leuten ist, aber selbstverständlich auch gegen Zivilisten, Frauen, Kinder in der Ukraine. Die Propaganda wird als solche demaskiert, die horrenden Folgen für Russland ebenso klar benannt, wie das, was zu dem dramatischen Zivilisationsbruch führte: Putins Drang nach ewiger Macht und »imperialistisches Denken«. Mit diesem Mann gibt es nichts zu verhandeln.

[Rezensionsexemplar]

Dekoder (Hrsg.): »Das ist ein Ozean aus Wahnsinn«
Verschiedene Übersetzer
edition.fotoTAPETA_Flugschrift 2023
Broschiert 224 Seiten
ISBN: 978-3-949262-31-9

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