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Schlagwort: Schreiben (Seite 1 von 4)

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Autor Andreas Fischer ist ein ganz besonderes Buch gelungen, kein Roman im eigentlichen Sinne, aber ein großer Wurf aus meiner Sicht. Cover eschen4verlag, Bild mit Canva erstellt.

Vier Wochen brauchte es nur, um von »Heil unserem herrlichen Führer« zu »Es ist grauenhaft.« zu gelangen. Zwei Zitate aus Feldpostbriefen, jene Schreiben, die von den Soldaten der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges an ihre Lieben daheim geschrieben wurden. Günther heißt der Urheber, der Anfang Dezember 1941 voller begeisterter Erwartung endlich Richtung Ostfront in Marsch gesetzt wird, um dort von der Kriegsrealität blitzartig ernüchtert zu werden. Zwei Tage später ist er schon tot.

Diese beiden Schreiben finden sich in der Mitte des grandiosen Buches Die Königin von Troisdorf, sie bilden das Gravitationszentrum des gesamten Themas, das Andreas Fischer aufarbeitet. Er hat sein Werk als Roman bezeichnet, tatsächlich finden sich auch fiktionale, erzählende Passagen inmitten der vielfältigen Erinnerungsimpressionen und Dokumenten wie Briefen und Postkarten; Fotos spielen im Text eine besondere Rolle, abgebildet sind keine – das geniale Cover-Motiv bleibt solitär.

Fischer lässt seine Passagen munter durch die Zeit springen, er wählt einen nüchternen, sachlichen Rahmen, indem er jeden Abschnitt mit Jahreszahl beginnt, oft gefolgt von einer Ortsangabe und einem oder mehreren kleinen Sätzen. Bei den Dokumenten geht der Autor noch einen Schritt weiter, beschreibt Papier, Form, Poststempel, Briefmarke, Schrift und gibt weitere Erläuterungen zu dem, was folgt. Schreiben als Sezieren.

1961.
Troisdorf.
Ich bin einige Wochen alt.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Diese Form ist eine brillante Entscheidung. Sie distanziert das Geschilderte und verhindert, dass Inhalt und Thema in einem überemotionalen, gefühlstriefenden Morast versinken. Der Leser wird auch genug durchgerüttelt, denn was Andreas Fischer zu berichten hat, führt in ein finsteres Tal, das er als Kind durchschreiten musste. Die Verlierer des Verwüstungskrieges haben ihre Wut an der nächsten Generation ausgelassen; und der übernächsten – unmittelbar oder mittelbar.

Der Vater des Autors ist selbst Soldat gewesen, er hat im Gegensatz zu dem zitierten Günther und dem eigenen Bruder Herbert das große Schlachten überlebt, obwohl es ihn am Ende sogar noch in den Strudel der Ardennenoffensive gerissen hat. Die Person, die abends von der Arbeit ausgelaugt am Küchentisch sitzt, raucht und säuft, den alten Ideologien, Verschwörungserzählungen und Feindbildern treu geblieben ist, lässt sich kaum in Einklang bringen mit dem, was an anderer Stelle über ihn zu lesen ist: charmant, wissbegierig, sprachgewandt, freundlich, offen. Frauentyp.

Was hat diesen krassen Wandel bewirkt? Was diese unsäglich Ehe initiiert? Vater Reinhold verhält sich höchst befremdlich und wechselhaft gegenüber Andreas, Mutter und Großmutter, die er »Hindenburg und Ludendorff« oder »Kaltmamsellen« nennt, sind ihm gegenüber von einer gleichbleibenden Kälte. Ein ungeliebtes, verachtetes, unerwünschtes Kind, einer »von seiner Sorte« reiche, heißt es. Es wirkt keineswegs übertrieben, wenn Andreas glaubt, in ihren Augen wäre er ein »Drecksack« und seine (Un-)Taten wären «Verbrechen«.

Jeder Protest, jedes Aufbegehren verhallt.
Hindenburg und Ludendorff kennen keine Gnade.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Wie kann man in einer solchen Umgebung aufwachsen? Wie überleben? Eine weitere, große Stärke des Buches liegt darin, dass es – auch dank der Form – nicht in eine rauschhafte Abrechnung oder gar einen rasenden Amoklauf des erinnerten Schmerzes abgleitet, sondern den Lichtblicken Raum gibt. Andreas hat seine Tante Hilde, und – vom haltlosen Jähzorn abgesehen – durchaus auch seinen Onkel Bruno, der ihn zwar einmal fürchterlich verprügelt, aber im Grunde auch respektiert.

Es gibt in der Kälte durchaus wärmende Momente, auch sein Vater hat einige positive Erinnerungen hinterlassen. Das väterliche Meisterstück bestand darin, seinem fünfzehn Jahre alten Sohn den Auszug in eine Art Schutzraum zu gestatten – mit seiner Hilfe baut sich dieser den Dachstuhl in jenem Haus aus, in dem das familieneigene, gut laufende Fotoatelier untergebracht ist. Dort verbringt er seine Tage, irgendwann auch die Nächte und entzieht sich dem kontrollierenden Zugriff von Oma und Mutter.

Vater Reinhold hat Andreas’ »Testament« gefunden, eine achtseitige Abrechnung, verfasst anlässlich aufkeimender Suizid-Gedanken, und aus diesem alarmierenden Fund eine bemerkenswerte Schlussfolgerung gezogen. Sie steht in Kontrast zu jenem alltäglichen Wüten, zum Beispiel als der Sohn in der Schule mit den Abgründen des Vernichtungskrieges konfrontiert wird: Reinhold leugnet die Fakten rundherum ab, diffamiert sie als alliierte Propaganda und stellt eine rechtsextreme Verschwörungserzählung dagegen.

Andreas hat das große Glück, dass er an eine vernünftige Lehrerin gerät, die ihn zunächst den Unsinn vortragen lässt, ehe sie ihm ruhig widerspricht; eine Bibliothekarin, die ihn mit der nötigen Literatur über den Holocaust versorgt, sodass er sich selbst ein Bild machen kann; einen Geistlichen, der ihm eine Erklärung dafür liefert, warum sein Vater eine Lüge der Wahrheit vorzieht. Am Ende steht eine eigene Meinung, die im Gegensatz zu dem väterlichen Nonsens steht. So geschieht Bildung, gedeihen Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit, das Pendant zum emotionalen Rettungsanker.

Der Hass meiner Oma auf mich durchzieht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach wie ein bestialischer Gestank, dessen Quelle nicht zu orten ist. Ich bin zu klein, um Überlegungen anzustellen, wo die Ursache liegen könnte. Der Gestand ist völlig normal, ganz selbstverständlich gehört er zu meiner Welt wie das Geschäft meiner Eltern, das weiße Schulgebäude und Vaters Schnapsflasche im Kühlschrank.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern sind gestört und im Grunde kaputt. Andreas Fischer stellt viele Fragen, ohne unbedingt eine Antwort zu geben oder auch nur zu versuchen. Was für ein Glück, denn so bleibt es dem Leser überlassen, selbst nach welchen zu suchen – oder auch nur zu lesen. Dankbarerweise verzichtet der Autor auch auf die Niederungen jeder Gut/Böse-Verschlichtung, die Widersprüche sind klar und bleiben unaufgelöst.

Dieses Buch ist auch ein ganz wunderbares Beispiel dafür, wie ein Inhalt seine passende Form gefunden hat. Man kann fast dankbar sein, dass der Autor keinen Verlag gefunden hat, der ihn möglicherweise genötigt hätte, seine Lese-Kost zu einem gefälligen, leicht verschlingbaren Literaturbrei zu pürieren; der Inhalt verlangt geradezu nach einer sperrigen Form. So ist Die Königin von Troisdorf ein großer, geradezu royaler Wurf.

Wer eine Zweitmeinung zu dem Roman einholen möchte, den verweise ich gern auf die sehr gelungene, ausführliche und etwas anders fokussierte Buchbesprechung auf dem generell empfehlenswerten Blog: Horatio-Bücher.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf
eschen 4 verlag 2022
Hardcover 473 Seiten
ISBN: 978-3-00070-369-0

Christoph Brumme: Im Schatten des Krieges

Ein Tagebuch aus der Ukraine, verfasst von einem Deutschen, der dort schon sehr lange lebt und – anders als viele selbst ernannte Friedens-Freunde hierzulande – weiß, wovon er redet. Cover Hirzel Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Wie wertvoll Tagebuchaufzeichnungen sind, die von den Betroffenen selbst verfasst werden, zeigt sich an Serhij Zhadan oder Julia Solska; im Falle von Christoph Brumme kommt noch hinzu, dass er Deutscher ist und in der Ukraine lebt. Seit vielen Jahren ist er in Poltava ansässig, das nicht allzu weit von der Grenze zwischen Russland und der Ukraine entfernt liegt.

Da er in Ostdeutschland aufgewachsen ist und sich nicht in eine wie auch immer gefärbte Ostalgie geflüchtet hat, sind seine Äußerungen von einer Klarheit, dass manchem selbstgefälligen Zeitgenossen der Atem stockt. In seinem Buch Im Schatten des Krieges gibt es viele solcher Passagen, die ganz besonders den Leser in Deutschland schmerzen dürften.

Brumme beginnt sein Tagebuch im Januar 2022, also bildet die Wochen unmittelbar vor dem Angriff Russlands ab. Man spürt die Unsicherheit der Menschen vor Ort, das Abwiegeln, das Sich-Selbst-in-Sicherheit-Wiegen – was alles mit einem Streich am 24. Februar 2022 hinweggefegt wird. Hellsichtig und offen gibt Brumme wieder, was ihm in den Kriegstagen bis April widerfährt, was er erlebt, sieht, hört, reflektiert und analysiert.

Vieles davon möchte man vielleicht gar nicht hören, sie lassen die Hoffnung auf ein schnelles Ende des Krieges dahinwelken. Dafür sind solche Passagen von enormer Wichtigkeit, denn sie erweitern die eigene, allein durch die Distanz beengte Sichtweise. So wird in den (Sozialen) Medien gelegentlich auf die immensen russischen Verluste hingewiesen und als Maßstab der mehr als zehn Jahre währende Krieg in Afghanistan herangezogen. Brumme meint, dieser Vergleich hinke gewaltig, denn:

Die sowjetischer Bevölkerung hat diesen Krieg nicht unterstützt, die russische den jetzigen schon.

Christoph Brumme: Im Schatten des Krieges

Überhaupt sind viele Beobachtungen und Meinungen oft sehr unbequem. Zwölf Jahre Krieg sieht Brumme voraus, denn beide Kontrahenten kämpften ums Überleben. Die Ukraine stehe einer unübersehbaren russischen Vernichtungsabsicht gegenüber, Russland würde eine Niederlage mit dramatischen Folgen bezahlen, eventuell mit dem Ende der aktuellen Staatlichkeit.

Zwölf oder weniger Jahre: Der Krieg wird dauern; ob es uns hier im Westen passt oder nicht. Wir müssen entscheiden, wie wir dazu stehen. Wie wir uns stellen müssen? Das ist angesichts unserer historischen Vermächtnisses eigentlich keine Frage – das macht eine Begegnung des Autors mit einer in Poltava ansässigen Bürgerin jüdischen Glaubens deutlich.

Es ist ein Beweis für eine Zeitenwende, dass eine Jüdin zusammen mit einem Deutschen auf den Sieg gegen die russischen Aggressoren trinkt.

Christoph Brumme: Im Schatten des Krieges

So ist es.

Christoph Brumme: Im Schatten des Krieges.
Hirzel Verlag 2022
Kart. 112 Seiten
ISBN: 978-3-7776-3310-7

Stefan Hertmans: Der Aufgang

Eine großartige literarische Annäherung an den flämischen Kollaborateur Willem Verhulst und sein Leben. Ganz nebenbei mein erstes Buch eines in Belgien lebenden Autors. Cover Diogenes, Bild mit Canva erstellt.

Man stelle sich den Kauf eines Hauses vor, die Besichtigung in Gegenwart des Notars, dem das Anwesen gehört; während man von Raum zu Raum schreitet, werden die Erinnerungen an jene geschildert, die dort einmal gewohnt haben – eine Hitler-Büste auf dem Kaminsims? »Was für Leute haben denn hier gewohnt?« Die Frage beantwortet – Jahre später – ein Buch: ein Kollaborateur und Angehöriger der Waffen-SS.

So führt Autor Stefan Hertmans den Leser in seinen Roman Der Aufgang, um diesem Mann nachzuspüren: Willem Verhulst, eine schillernde Figur, in dem sich das Drama ganz Belgiens spiegelt. Früh auf einem Auge erblindet, was ihn zum Außenseiter macht, zugleich aber vor einem Fronteinsatz während des Ersten Weltkrieges bewahrt; in den Kriegsjahren beginnt seine Liaison mit Deutschland, die bis zum Ende seines Lebens im Jahr 1975 prägend sein wird.

Belgier, könnte ich schreiben, und hätte damit durchaus recht. Formal gesehen war Willem Verhulst Staatsbürger des kleinen Landes, das etwas arg zu kurz kommt, wenn die beiden großen Kriege verhandelt werden, mit denen Deutschland Europa überzogen hat. Frankreich, England, Russland, die Sowjetunion, die USA – aber Belgien? Oft kaum mehr als ein randständiges Durchmarschland in beiden Kriegen.

Schon im Ersten Weltkrieg machen sich Charakteristika des Zweiten bemerkbar: Zwangsarbeit, Gewalttaten gegenüber der Zivilbevölkerung, Kollaboration; und nach der Niederlage des Kaiserreiches Verfolgung und Flucht der Kollaborateure. Einer davon ist Willem Verhulst, der sich selbst eben nicht als Belgier, sondern als Flame sieht und auf ein großgermanisches Reich unter deutscher Führung hofft. Schon vor 1918, wohlgemerkt.

Immer seltener hält er mit seinen Sympathien für ein großgermanisches Reich unter deutscher Führung hinterm Berg.

Stefan Hertmans: Der Aufgang

Nach dem Krieg folgt die Flucht in die Niederlande mit seiner todkranken, verheirateten Geliebten Elsa;  dort lernt er Mientje kennen, die er nach dem Tod Elsas ehelicht und betrügt. Ein notorischer Fremdgänger, der jedoch nicht nur seine Liebschaften, sondern auch seine politischen Ansichten und Aktivitäten vor seiner Frau geheimzuhalten sucht.

Oft steht der Leser gemeinsam mit Mientje vor verschlossener Tür, hinter der widersprüchliche Dinge verhandelt werden. Mal ist es ein jüdisches Ehepaar, das um Hilfe bittet; Willem kennt offenkundig die Frau näher, man ahnt, warum. Mal sind es Wehrmachtsoffiziere, mit denen sich Willem beim Einmarsch der Wehrmacht bespricht, seine Reisen ins Reich, seine Kontakte, Sympathien.

Hertmans nutzt diesen Kniff, um Dinge, die er nicht wissen kann, offenzulassen. Wie Willems Frau braucht der Leser ohnehin keine Details, denn aus den Taten des Kollaborateurs lässt sich genug herauslesen. Mientje ist sein Widerpart, was die politischen Ansichten anbelangt; die kluge, religiöse, pazifistisch eingestellte Frau, die wissbegierig und offen ist, kämpft gegen alles an, was sie an Willems Kollaboration erinnert.

Zuhause untersagt sie ihm das Tragen der Uniform; wirft einen SS-Dolch, den Willem ihrem gemeinsamen Sohn schenkt, mit dem auf der Klinge eingravierten Schriftzug, »Meine Ehre heißt Treue«, in das benachbarte Gewässer; verbrennt deutsche Zeitungen; hält gegenüber allen uniformierten Gästen und dem mit einer Hitler-Büste geschmückten Salon Distanz und nennt diesen Raum treffend »Totenzimmer«. Ändern kann sie damit selbstverständlich wenig.

Diese unschuldige Formulierung ist nur ein dünnes Vlies, das kaum das rohe Fleisch darunter verdeckt.

Stefan Hertmans: Der Aufgang

Der Aufgang ist kein Roman im eigentlichen Sinne; er vereint fiktionale, berichtende, essayistische Elemente, angereichert mit Bildern ist er auch die Geschichte einer Spurensuche. Hertmans spricht mit den Angehörigen Willems, den Kindern, liest, was an Akten, Briefen, Tagebüchern und Büchern überliefert ist und reflektiert. Bemerkenswert ist, wie die Kindern bis ins hohe Alter Formulierungen verwenden, wenn es um die Karriere ihres Vaters geht, die seine (Un-)Taten verharmlosen.

Ab 1943 dreht der Wind. Willem ist Angriffen, Pöbleien, Spott und Drohungen ausgesetzt; zugleich steht er seitens der Deutschen unter massivem Druck, erleidet Nervenzusammenbrüche, schluckt Pervitin und ist noch diensteifriger. Trotz allem Engagements spürt er die Herablassung seitens der Besatzer, die in ihm und den Flamen letztlich doch nur zweitklassige »Westgermanen« sehen.

Ausgrenzung ist eine Wurzel für Willems Kollaboration, die Herablassung durch die französischsprechenden Bevölkerungsteile Belgiens, das Gefühl, »ein ›Neger‹ im eigenen Land« zu sein. Kurioserweise führte das zum Bruch mit dem Staat Belgien, während die bittere Erkenntnis, ein Flame sei »nie mehr als ein Ersatz- oder Westgermane« seine Loyalität gegenüber Deutschland nicht bricht.

Der Siegeszug stockte bald und die Hölle näherte sich unabwendbar.

Stefan Hertmans: Der Aufgang

Im September 1944 flieht Willem mit seiner Geliebten Griet Latomme nach Deutschland; Mientje bleibt in Gent, sie und die Kinder werden von »Widerständlern«, einer Rotte gewaltbereiter Männer, heimgesucht. Da der Kollaborateur in Deutschland weilt, ein Aufenthalt, über den Griet gespenstisch geschönte »Erinnerungen« überliefert, bekommen seine Familienangehörigen die aufgestaute Wut ab; Sohn Adri stirbt beinahe.

Was folgt – nun, Geschichte ist nicht gerecht; Gefängnis läutert nicht, sondern radikalisiert, und Menschen ändern sich nur dann, wenn sie einsichtig sind und es wirklich wollen.

Der Aufgang ist ein großartiges Buch, das die widersprüchliche Vielschichtigkeit der historischen Person und ihre Verflechtung mit der Lebenswirklichkeit auch durch die Struktur der Erzählung wiedergibt. Der Autor setzt sich mit der Person Willem Verhulst, aber auch mit der Spurensuche und auf beeindruckend offen-kritische Weise mit sich selbst auseinander. Am Ende bleibt aber – bei allem Verstehen – immer deutlich, wofür Verhulst sich hat einspannen lassen: ein menschenverachtendes Gewaltregime.

Ganz persönlich hat mir Der Aufgang auch deshalb so gut gefallen, weil ich wieder einige Antworten auf die Frage erhalten habe, warum Männer (und Frauen) in fremder Uniform kämpfen. Eine positive Rezension gibt es auch bei Buch-Haltung, die etwas anders akzentuiert ist und den Versuch einer Einordnung unternimmt.

[Rezensionsexemplar]

Stefan Hertmans: Der Aufgang
Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
Diogenes 2022
Hardcover, Leinen 480 Seiten
ISBN: 978-3-257-07188-7

Mark Lauren: Fit ohne Geräte

Ein Buch, sie zu knechten … Cover riva, Bild erstellt mit Canva. »Hooya« ist ein Schlachtruf der US-Spezialeinheiten , von den Indianern entleht. Es meint: »Gib mir mehr!«

Wie oft habe ich bei der Ausführung der Übungen gedacht: »Ich bin zu alt für diesen Sch…!« Kein Wunder, denn Fit ohne Geräte von Mark Lauren richtet sich wohl in erster Linie an die U30, vielleicht auch U40. Die Erschöpfung kann grenzenlos sein, das Erstaunen auch, wenn die Arme so lahmen, dass der Griff zu einem Glas nach dem Training eine echte Herausforderung ist. Gar nicht zu reden vom Muskelkater am Tag danach und dem darauf folgenden. 

Fit ohne Geräte ist zweifelsfrei eines der wichtigsten Bücher, die ich je in meinem Leben gekauft habe. Die völlig zerfledderte erste Ausgabe ist längst durch eine zweite ausgetauscht, ein weiteres mit einem anderen, deutlich strukturierteren Trainingsplan namens Die 90-Tages-Challenge ist hinzugekommen. Zwei Sportbücher. Gamechanger in meinem Fall, denn als ich sie vor acht Jahren erworben habe, hat sich mein Leben tiefgreifend geändert.

Schmerz gehört zum Leben dazu. Jeder kennt sicher das Bonmot, wer jenseits der fünfzig morgens erwache und keinen Schmerz verspüre, sei tot. Ich fühle mich in diesem Sinne sehr lebendig, denn es gibt kaum einen Morgen, an dem ich nicht irgendwo in meinem Körper etwas verspüre, dass man Schmerz nennen kann. Aber fast immer handelt es sich um ein Echo des Kraftsports, den ich am Vortag oder dem davor gemacht habe. Muskelkater.

Das ist etwas grundlegend anderes als jener Schmerz, der Schreibtischknechten landauf, landab ein treuer Begleiter ist. Diese Form des Schmerzes ist mir fremd. Auch mich erwischt mal eine Verspannung, auch in meinem Rücken ist mal ein Nerv eingeklemmt, aber das passiert sehr selten. Die anderen Ausgeburten einer sitzenden Tätigkeit habe ich bislang nicht zu spüren bekommen, was ich auch auf Bodyweight-Training zurückführe.

Das Konzept ist schlicht. Man trainiert mit dem eigenen Körpergewicht. Das hat Vorteile. Erstens braucht man fast keine Geräte (siehe Buchtitel), zweitens spart man sich das Fitness-Studio, drittens kann man fast überall trainieren (auch auf Reisen oder im Urlaub), viertens sinkt das Verletzungsrisiko  und fünftens kann man einen Teil der Übungen ohne Weiteres mit Geräten (Klimmzugstange, Hanteln) ausführen, wenn einem das lieber ist; zusätzliche Gewichte, wie zum Beispiel eine Weste, sind ebenfalls kein Problem. Die Belastung ist skalierbar.

Ich werde an dieser Stelle nicht das ganze Konzept vorbeten, sondern auf ein paar Dinge verweisen, die ich gelernt habe. Kraft, Balance (Stabilität) und Beweglichkeit sind immens wichtig, egal wie alt man ist. Muskulatur beugt vielen Zipperlein vor, sie erleichtert den Alltag und – ja – im  Alter hilft sie ein wenig beim Ertragen des nicht mehr aufzuhaltenden körperlichen Verfalls. Was mich vor allem beeindruckt hat, sind die »Nebenwirkungen«: Durch Bodyweight-Training kann man die Stabilität des Körpers und seine Beweglichkeit verbessern, beides ist essentiell.

Ein paar Nachteile hat das Buch allerdings auch. Zum einen ist Lauren Teil des amerikanischen Militärs gewesen und das schimmert auf jeder Seite in der Sprache durch. Wer das nicht mag, muss nicht nur bei den Übungen die Zähne zusammenbeißen. Viele Ernährungstipps sollte man vor allem als Anregung auffassen, darüber nachzudenken, was man isst; richtig Essen ist essentiell, nicht nur für das Training. Ein paar Dinge kann man eins zu  eins übernehmen: kein Zucker, kein Alkohol. Anderes lässt sich anpassen.

Lauren ist kein Freund des Ausdauertrainings. Seine Argumentation, warum das nicht zum Muskelaufbau beiträgt, erscheint mir nachvollziehbar, dennoch mache ich selbstverständlich Herz-Kreislauf-Sport. Ich jogge nicht, um Muskeln zu bekommen, sondern weil es ein bisschen Spaß macht und ich mich danach einfach besser fühle. Übrigens ist Bodyweight-Training eine wunderbare Sache für das Joggen – Balance und Muskelkraft machen es leichter.

Von Sport- und Ernährungswissenschaftlern wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Sport allein nicht reiche, um Gewicht zu verlieren. Das entspricht auch meiner persönlichen Erfahrung; Laurens Rechnung, dass der Mehrverbrauch durch eine erhöhte Muskelmasse dabei helfen kann, Gewicht zu reduzieren, hat in meinem Fall nicht wirklich funktioniert; das klappte erst mit einer klassischen, langfristigen Diät.

Starten kann man übrigens auch sehr gut mit dem Frauen-Buch, weil das – warum auch immer –  sehr viel strukturierter ansetzt, als das für Männer. Die 90-Tages-Challenge ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie ein Vierteljahr zielgerichtetes Krafttraining den Sportler erschöpfen kann. »Hooya!« – »Gib mir mehr!« ruft man dann in der Regel nur mit beißendem Sarkasmus.

Mark Lauren mit Joshua Clark: Fit ohne Geräte
Softcover, 272 Seiten
riva 2018
ISBN: 978-3-7423-0411-7

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

Der Roman wurde 2022 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet und weithin gelobt. Für mich eher eine Enttäuschung. Cover Hanser, Bild mit Canva erstellt.

Die ersten achtzig Seiten war meine Lektüre von mehr oder weniger lautlosen Seufzern begleitet, ehe der preisgekrönte Roman seine Qualitäten entfaltet. Danach nimmt Die geheimste Erinnerung der Menschen den Leser gefangen und hält ihn fest umschlungen, auch wenn der Inhalt von den Pageturner-Niederungen weit entfernt ist, möchte man unbedingt weiterlesen. Der letzte Romanteil ist bedauerlicherweise eine Enttäuschung und so bleibt ein zwiespältiger, tendenziell negativer Eindruck zurück.

Romane mit Ich-Perspektive oder Schriftstellern als Protagonisten bereiten mir immer Mühe, tritt beides in Kombination auf und drehen sich Gedanken und Gespräche der Handelnden um die Schreiberei, Literatur und den Buchmarkt, wird es zäh. Diese Dreifaltigkeit ist meine literarische Nemesis und in Moahamed Mbougar Sarrs Roman tritt sie dem Leser entgegen. Tatsächlich habe ich an manchen Stellen sogar erwogen, die Lektüre einzustellen.

Doch sind Sprache und Inhalt von Anbeginn an auf einem recht hohen Niveau, die Erzählung geht flott voran und touchiert bereits das, was nach rund einem Fünftel anhebt: Die Suche nach T.C. Elimane, dem verschollenen und von Rätseln umwirkten Schöpfer eines skandalträchtigen Romans. Der ist 1938 unter dem Titel Das Labyrinth des Unmenschlichen erschienen und wurde gefeiert und angefeindet, wie es zum – nun, ja: guten Ton der Literaturszene gehört.

Ich sage es dir noch einmal: Das Ganze ist nichts weiter als eine Komödie. Eine finstere Komödie.

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

Der junge Schrifsteller Diégane, senegalesischer Herkunft wie Elimane und wohnhaft in Paris (wo auch sonst), gehört zu einer Generation von Schreibenden, die noch auf der Suche sind und sich dabei gern in worthülsige Debatten um „die Literatur“ und ihre Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Sinn, Unsinn und allerlei andere unlösbare, daher unendlich ergiebige Themen ergehen. Um es vorwegzunehmen: In ähnlich schwergängigem Gelände endet der Roman auch wieder.

Diégane ist mit dem geheimnisvollen Buch Elimanes in Berührung gekommen, obwohl es wegen Plagiatsvorwürfen vom Verlag zurückgezogen werden musste. Eigentlich gibt es keine Exemplare mehr, doch wird Diégane überraschenderweise mit einem beschenkt – ein zweischneidiges Schwert, denn die Schenkerin beneidet und bemitleidet den Beschenkten zugleich. Ominöse Prophezeiungen dieser Art haben immer etwas Stiefeliges, leider bleibt es nicht die letzte im Romanverlauf.

Elimanes Roman wohnt ein Zauber inne, der seine Leser in Bann schlägt. Zumindest die Schriftsteller-Peer von Diégane kann sich diesem nicht entziehen, auch die Hauptfigur nicht. Dergleichen Geniales etwas ist immer etwas problematisch in Romanen (oder Filmen), denn ausgedachte Genialität kann immer nur behauptet und nicht gezeigt oder erzählt werden. Passagen, die über die Brillanz des jeweiligen Werkes Auskunft geben sollen, wirken rasch aufgeblasen.

Ja, sagte ich, ja, in diesem Land will ich Bürgerin sein, diesem Königreich will ich Treue schwören, dem Königreich der Bibliothek.

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

Das kann man nicht von den Rezensionsschnipseln sagen, die Sarr in seinen Text einstreut. Das Feuilleton ist begeistert, neidisch, beleidigt, misstrauisch, vorwurfsvoll und rassistisch und auch vernichtend. Dem Autor ist es gelungen, diese Einschübe (und viele andere) organisch mit seiner Erzählung zu verweben, gleichzeitig den Fluss des Erzählens zu brechen – als handelte es sich um Steine in einem Strom.

Sarr spielt mit der Sprache und den Erzählperspektiven, der Leser darf sich immer wieder auf Neues einstellen, der gewohnte Gang des Erzählens wechselt, Perspektiven lösen sich auf, geschickt eingeflochten in die Handlung durch Erscheinungen und Assoziationen, wodurch die zeitlich und örtlich weit voneinander entfernt liegenden Ereignisse unmittelbar miteinander verknüpft werden. Als Leser ist man gut beraten, aufmerksam zu sein, sonst überhuscht man leicht jene kleinen Hinweise darauf, wer eigentlich spricht.

Inhaltlich hat mich ein Aspekt besonders beeindruckt. Die Geschichte, die mir in Studium und Lektüre so vertraut geworden ist, wird in diesem Roman aus einer ganz anderen Sichtweise geschildert, nämlich der mehrerer Senegalesen. Kolonialismus, kulturelle Assimilation und die Liebe zu einem Land, das als Beherrscher auftritt, für das der Beherrschte dennoch in den Krieg zieht. Einfach ist hier gar nichts, denn dieses Handlungsmotiv führt zu einem Kern von Die geheimste Erinnerung der Menschen.

»Mit Hilfe seiner afrikanischen Söhne und Brüder wird Frankreich den Krieg schnell gewinnen.«

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

Die Spurensuche, die Sarr in bemerkenswert abwechslungsreicher Weise ausführt, ist spannend, trägt kriminalistische bzw. allgemeiner formuliert investigative Züge. Die Hauptfigur jagt einem Phantom nach, das nicht gefunden werden will; ihm begegnet man, wenn er es will. Leider dichtet Sarr seinem Elimane intellektuelle und körperliche Eigenschaften an, die man ihm ab einem gewissen Punkt nicht mehr abnehmen möchte.

Sarr scheut sich nicht, die Grenzen zwischen Realität und Mystik verschwimmen zu lassen, das funktioniert zumeist, weil er diese Übertritte auf erklärbaren Ursachen fußen lässt – etwa Drogen, Fieber und natürlich Träume. Weniger fundamentiert sind die Äußerungen derjenigen, die sich mit dem Buch und seinem Urheber befassen, Elimane Wirkung und die seiner Schrift, die seine Leser wie ein Zauberelexir in – man muss es leider so deutlich sagen – schwülstige Verzückung versetzt.

Das Ende erscheint mir schwach, der letzte Satz regelrecht banal. Das ist immens schade, denn auf dem langen Weg dahin touchiert Sarrs Erzählen eine ganze Reihe hochspannender Aspekte, etwa die Erlebnisse seines Freundes Musimbwa, der über ein immens beklemmendes und bedrückendes Kindheitserlebnis berichtet und lang langem Kampf mit sich selbst eine radikale Abkehr von der europäischen Literatur-Kultur hin zu einer eigenen Tradition vollzieht. Das bleibt aber bloße Episode, wie viele andere Dinge, etwa den – scheinbar obligatorischen – Nazi-Auftritt und eine Halbsatz-Jagd nach selbigen Schurken im Nachkriegssüdamerika.

So bleibt ein zwiespältiges Empfinden zurück, auch wenn ich Die geheimste Erinnerung der Menschen insgesamt für durchaus lesenswert halte. Der Roman hat unbestreitbar Stärken, ist ungewöhnlich vielfältig in Stil und Form, die nicht zu Fingerübungen verkommen, sondern mit dem Inhalt verwoben bleiben, der überwiegend mit einer schönen Sprache dargeboten wird. Trotzdem bleibt der Eindruck, einen schwächeren Preisträgerroman des Prix Goncourt gelesen zu haben.

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen
aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Hanser Verlag 2022
Hardcover 448 Seiten
ISBN: 978-3-446-27411-2

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