Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Thriller (Seite 1 von 2)

Don Winslow: Frankie Machine

Politthriller sind das Kerngeschäft des US-Autors Don Winslow. Man hat immer das Gefühl, er weiß, wovon er schreibt. Cover Droemer, Bild mit Canva erstellt.

Ab und zu gönne ich mir ein Buch zum Schmökern. Gönnen heißt nicht, dass ich sonst wie ein Galeerensklave durch die Seitenmeere anstrengender Literatur rudere, sondern ganz bewusst meinen Kopf mit etwas Action und Unterhaltung fülle. Don Winslow ist immer eine gute Wahl, seine Bücher bieten Thrill und eben auch etwas mehr.

Bei diesem Thriller hat mich zunächst der Titel abgeschreckt, der – bei allem Respekt – ein wenig billig klingt. Im Original heißt er The Winter of Frankie Machine, das klingt besser. Insbesondere, weil die Handlung den Leser nach San Diego versetzt und man die endlosen Strände der amerikanischen Westküste eher nicht mit Winter zusammenbringt.

Nun steht Winter aber auch für das letzte Lebensviertel eines Menschen, jene Zeit, die oft Ruhestand genannt wird. Frank Macchiano ist das nur in einer Hinsicht, nämlich als Profikiller des Organisierten Verbrechens. Jenseits davon halten ihn vier Jobs, zwei Frauen und eine Tochter auf Trab.

Winslow breitet das Leben von Frankie gemächlich vor den Augen des Lesers aus, ehe er dieses aus den Fugen geraten lässt. Wie und warum das geschieht, enthüllt der Autor peu á peu genussvoll in Rückblenden, während eine gnadenlose Jagd entfesselt wird. Verrat, üble und überraschende Wendungen machen das Buch zum Pageturner, was mich besonders fesselt, ist das nie nachlassende Gefühl, dass Winslow sehr genau weiß, wovon er schreibt.

Don Winslow: Frankie Machine
Aus dem amerikanischen Englisch von Chris Hirte
Droemer 2018
TB 384 Seiten
ISBN: 978-3-426-30659-8

Volker Kutscher: Märzgefallene

Der fünfte Teil der Reihe um Kriminalkommissar Gereon Rath ist äußerst stimmungsvoll um einen sehr spannenden Fall gewoben. Cover KiWi, Bild mit Canva erstellt.

Gelesen – natürlich im März. Neunzig Jahre nach den Ereignissen, die den historischen Hintergrund für den fünften Mordfall bilden, den Kommissar Gereon Rath zu lösen hat; wann passt die Lektüre schon einmal so gut? Und wann ist ein Roman so gut informiert, versteht es, den Zeitgeist, braun und gewalttätig, so mitreißend einzufangen, ohne den Zeigefinger studienrätisch zu schwingen, sondern einen wirklich spannenden Kriminal-Thriller zu erschaffen?

Das Wort »Kulisse« wäre herabwürdigend, denn Volker Kutscher hat Märzgefallene so gestaltet, dass die historischen Ereignisse den Gang der Ermittlungen massiv beeinflussen. Rath und seine Verlobte, Charlotte Ritter, werden in den Mahlstrom der Ereignisse nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler hineingezogen, der Brand des Reichstags, die Grausamkeiten der zur Hilfspolizei aufgewerteten SA und die Durchdringung der Behörden durch die neuen Machthaber.

Vom Zauber und Charme der Weimarer Republik ist nicht mehr viel geblieben. Hakenkreuzfahnen allüberall, Aufläufe, brutale Gewalttaten, während viele Bürger versuchen, ihren normalen Alltag inmitten des radikal antidemokratischen Umsturzes zu leben, andere den neuen Machthabern in devoter Haltung entgegenkommen, sich anpassen, Opportunisten. Standfestigkeit führt aufs Abschiebegleis oder zieht Schlimmeres nach sich.

Der geschönte Krieg, für die Familie daheim.

Volker Kutscher: Märzgefallene

In beklemmenden Szenen zeichnet Kutscher nach, wie aus den Vorbänden bekannte Figuren, etwa der bereits geschasste Polizeipräsident Bernhard Weiß, um ihr Leben bangen müssen, wenn der braune Mob heranwalzt und von der Schutzpolizei nicht gehindert die Privatwohnung stürmt. Mit den Hauptfiguren, vor allem Charlotte Ritter, fühlt man die Hilflosigkeit und Ohnmacht, mit Gereon Rath die Neigung, Wegzusehen, Abzuwiegeln und Weiterzuwurschteln.

Wer nicht entkommen kann, nimmt Schaden an Leib und Leben. Das bekommt auch die Unterwelt zu spüren, die in Gestalt von Johann Marlow auch in diesem Teil wieder mitmischt, was dem Autor vielfältige kreative Spielräume eröffnet, die dieser weidlich nutzt. Auf diesem Weg nimmt Kutscher nämlich den Leser mit hinab ins Inferno der SA-Gefängnisse, in denen schon ganz zu Beginn des so genannten »Dritten Reichs« tausende gebrochen, versehrt und getötet wurden, nach unsäglichen Qualen.

Rath muss in diesem tobenden Durcheinander mehrfach seinen geschmeidigen Umgang mit Recht, Ordnung und Regeln unter Beweis stellen, um nicht zwischen den Mühlsteinen zermahlen zu werden. Bei allen Auseinandersetzungen zwischen dem sich unpolitisch gebenden Rath und der engagierten und klarsichtigen Charlotte Ritter geben beide dem Drang zu Extratouren allzu gern nach, um der Ödnis des Dienstes zu entgehen und den Fall voranzutreiben.

Dieser berührt einen Todesfall ganz besonderer Art, der seine Wurzel – wie so oft bei Kutscher – in der noch weiter zurückliegenden Vergangenheit. Märzgefallene bezieht sich auch auf Ereignisse aus dem März 1917, als während einer Rückzugsoperation gewaltige Zerstörungen im Frontgebiet angerichtet wurden. Dabei soll es zu einer folgenschweren Tat gekommen sein, die einen Beteiligten sechszehn Jahre später zu der Veröffentlichung eines Romans animiert, mit dem Titel: Märzgefallene.

»Die Operation Alberich«, sagte Roddeck. »Ich war seinerzeit mittendrin. Wir haben das Gebiet evakuiert, Straßen vermint, Schienen zerstört und in den verlassenen Dörfern Sprengfallen gelegt, Brunnen vergiftet und was sonst noch alles nötig war.«

Volker Kutscher: Märzgefallene

Volker Kutscher ist es wiederum gelungen, einen schlüssig aufgebauten, vielschichtigen Fall zu konstruieren, die unvermeidlichen Twists bei der Aufdeckung der Motive und Hintergründe erscheinen folgerichtig und logisch. Vor allem sind sie spannend und verwickelt, so dass auch Leser gewöhnlicher Krimis auf ihre Kosten kommen.

Doch ist die Atmosphäre, die Kutscher in seinen Märzgefallenen zu schaffen versteht, der heimliche Star dieses Romans. Wenn der Showdown naht, der verwickelte und komplizierte Fall gelöst ist und Rath eine Idee entwickelt, das Ganze zu einem halbwegs verträglichen Ende zu führen, wütet zeitgleich die berüchtigte Bücherverbrennung. Das ist keinesfalls nur Kulisse, aber selbst als solche wäre sie einfach großartig.

Eine Besonderheit kostet der Autor auch im fünften Band seiner Reihe voll aus: Kommissar Gereon Rath ist nicht pflegeleicht oder gar stromlinienförmig. Er hat ein gutes Händchen, Motive und Zusammenhänge aufzudecken, aber auch, sich persönlich in Schwierigkeiten zu bringen. Er ist katholisch in dem Sinne, dass Paris eine Messe wert ist – etwa durch Gefälligkeiten für und von dem Unterweltboss Johann Marlow. Diese Kooperation macht Rath faktisch zu einem bestechlichen Beamten.

Rath nickte.

Volker Kutscher: Märzgefallene

Die Ambivalenz reicht darüber hinaus in den politischen Bereich, dem die Hauptfigur mit naiver Verharmlosung und einem gehörigen Konservativismus begegnet. Das führt zu massiven Spannungen mit Charlotte Ritter, die als hehre Verteidigerin von Demokratie gezeichnet ist, Ohnmacht empfindet, Ekel und Trauer, während sie versucht, den herabstürzenden Trümmern des zerbrechenden Systems auszuweichen.

Für mich als historisch interessierten Leser sind die Verbindungen zu anderen Büchern faszinierend. Wunderbar ergänzend zu den ersten fünf Teile der Reihe ist etwa Höhenrausch von Harald Jähner, wer das Buch kennt, für den gewinnt die Handlung noch einmal beträchtlich an Tiefe. Das gilt bei der Lektüre von Märzgefallene auch für Uwe Wittstocks, Februar 33: Während Gereon Rath noch glaubt, es könne sich alles zum Guten wenden, hat ein Brain Drain durch massenhafte Intellektuellen-Flucht schon stattgefunden.

Weitere Romane der Buchreihe:
Volker Kutscher: Die Akte Vaterland.
Volker Kutscher: Lunapark.

Volker Kutscher: Märzgefallene
Kiepenheuer&Witsch 2014
Gebunden 608 Seiten
ISBN: 978-3-462-04707-3

John Buchan: Der Übermensch

Ein Klassiker im Wortsinne. Spannend. Atmosphärisch. Originell. Cover Elsinor, Bild mit Canva erstellt.

Zum Zeitpunkt dieser Buchbesprechung ist John Buchans Roman Der Übermensch einhundertzehn Jahre alt, beinahe so betagt wie Bilbo Beutlin zu Beginn von Der Herr der Ringe. Ein staunenswerter Schatz für Thriller-Leser, die schnell von der Atmosphäre und der spannenden Geschichte erfasst und bis zu ihrem Ende nicht mehr losgelassen werden. Man entdeckt so viel Vertrautes aus aktuellen Polit- und Spionagethrillern!

Selbstverständlich schlägt sich die Entstehungszeit in vielfältiger Weise in der Handlung nieder. Da wäre die Hauptperson, Edward Leithen, ein Angehöriger der britischen Oberschicht, die er in gewisser Hinsicht fast klischeehaft personifiziert. In seinem natürlichen Habitat London ist er als Anwalt und Parlamentarier tätig, sehr gut vernetzt, nicht nur durch die Mitgliedschaft in einem Club.

Eine Männerwelt, die einiges an Staub angesetzt hat; Frauen spielen in diesem Roman fast gar keine Rolle, von Ethel als züchtige Ehefrau eines Freundes abgesehen, die ihre Klugheit in Leithens Augen dadurch unter Beweis stellt, dass sie tut, was er ihr sagt. Dieser Roman besitzt aber auch wegen seines Alters eine Menge Charme, was nicht zuletzt an der – leicht gestelzten – Schilderung der Stadt liegt, aber auch an originellen Grenzüberschreitungen.

Die Aussicht auf eine Reise stieg bei ihm immer zu Kopfe wie Wein.

John Buchan: Der Übermensch

Die Hauptfigur gehört den Konservativen an, sein bester Freund Tommy ist Labour-Abgeordneter; auch ein wichtiger Unterstützer Leithens bei seinen Abenteuern, ein gewisser Chapman, gehört zur Labour-Fraktion. Der Ich-Erzähler macht sich über die Zweiwelten-Beziehung beider Parteien lustig: Öffentlich beharke man sich wie die Kesselflicker, privat pflege man freundschaftliche Beziehungen.

Leithens Freund Tommy  gerät in die Bredouille und bringt durch seinen leichtfertigen Aktivismus das Unheil und damit die Handlung in Gang. Ein Freund von ihm, Pitt-Heron, hat London und England geradezu fluchtartig verlassen, er scheint mit ebenso anrüchigen wie gefährlichen Kreisen kooperiert zu haben, die ihm nach Leib und Leben trachten.

Es entspinnt sich ein Spiel, das den Leser augenblicklich in Bann zieht. Leithen bleibt in London, während der Action-Teil des Romans in der Ferne, Russland, Buchara, stattfindet;  Hauptfigur und Leser werden nur durch kurze Nachrichten, etwa Telegramme, über den Fortgang der Jagd bruchstückhaft informiert. Leithen versucht, die Entwicklung durch logische Überlegungen zu konstruieren und sein eigenes Vorgehen darauf abzustimmen.

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie einen ungewöhnlichen Namen nur einmal zu hören brauchen, uns Sie werden ihm dann eine Zeitlang immer wieder begegnen?

John Buchan: Der Übermensch

Auf den ersten Blick sind es Zufälle, die Leithen voranbringen. Begegnungen, Beziehungen, Gespräche und die Rückschlüsse, die von der Hauptfigur gezogen werden – in Wirklichkeit fallen sie dem Spurensucher wegen seiner Hatz nach Zusammenhängen zu. Nur die Begegnung mit dem Erzbösewicht geschieht durch ein mittlerweile klassisches Motiv aus der Welt des Zufalls: Eine Automobilpanne zwingt Leithen zur Übernachtung in einem Landhaus.

Buchan gibt dem Widersacher, der als solcher offen agiert und gar nicht erst enttarnt werden muss, eine Stimme und die Möglichkeit, Leithen und Leser sein Weltbild (und damit die Ursache der ganzen Probleme) vorzuführen. Dabei geht der Autor geschickter vor, als viele moderne Thriller-Autoren oder Bond-Verfilmer, die den »Was bin ich doch genial«-Monolog vor der Showdown-Acitionszene deplatzieren.

Der Herr einer ziemlich nebulösen Geheimorganisation namens »Kraftwerk« (The Power-House, wie der englische Originaltitel lautet) lässt sich gegenüber seinem Gast in einer schaurig-gemütlichen Kaminzimmer-Düsternis darüber aus, dass man sich der Illusion hingäbe, die Zivilisation sei geschützt; diese Schein-Ordnung basiere aber auf Mittelmäßigkeit, einer Regierung voller zweitrangiger Figuren. Ein entschlossenes Genie werde das System umstoßen.

Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie brüchig diese Zivilisation eigentlich ist, auf die wir alle so stolz sind?

John Buchan: Der Übermensch

Damit bekommt der Gegner Leithens eine monströse Gestalt, weil er ebensolche Ziele verfolgt. Die Handlung touchiert ein wesentliches Motiv, das in variierender Form mehr oder weniger alle Politthriller bis in die Gegenwart berühren: Der dünne, verletzliche Firnis der Zivilisation, die 1913 natürlich ein etwas anderes Gesicht hat als 2023.

Nach dieser Begegnung nimmt der Roman Fahrt auf. Das sommerlich-leichtfüßige London wird für den Protagonisten zu einem Ort der Bedrohung, denn das »Kraftwerk«  ist ein kampfkräftiger, skrupelloser und mächtiger Gegner. Genretypisch gerät der Held in lebensbedrohliche Situationen, wird auf eine wunderbar dramatische Weise durch Londons Straßen gehetzt, während er versucht, seinen Häschern zu entkommen.

Der Übermensch von John Buchan ist sehr lesenswert für alle, die Polit- und Spionage-Thriller mögen. Natürlich atmet der Erzählstil noch das 19. Jahrhundert, für mich war es aber angenehm, einen klassisch erzählten Roman zu lesen. Nach dem Ende wartet noch ein ausführliches Nachwort von Martin Compart, das sehr informativ ist und den Leser die Bedeutung des Romans für das Genre vor Augen führt.

Ebenfalls in der Reihe erschienen & besprochen:
Fearing, Kenneth: Die große Uhr.
A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde.

John Buchan: Der Übermensch
aus dem Englischen von Jakob Vandenberg
Elsinor Verlag 2022
Broschiert 160 Seiten
ISBN: 978-3-942788-67-0

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Kenneth Fearing: Die große Uhr

Die große Uhr ist ein sehr spannender, unterhaltsamer Noir-Thriller aus den 1940er Jahren. Cover Elsinor-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Wer zu einem Klassiker greift, erwartet Patina. Kenneth Fearings Die große Uhr hat in dieser Hinsicht einiges zu bieten. Die Technologie der 1940er Jahre und die an die Zukunft geknüpften, einigermaßen ulkig anmutenden Erwartungen etwa; die Drinks und Rauchwaren immer und überall, vom anfangs aufscheindenden Frauenbild einmal ganz zu schweigen.

Im Fremden schärft sich aber auch immer das Bild der eigenen Gegenwart, als blicke man in einen verzerrten Spiegel, der neben den Unterschieden eben auch Bekanntes wiederkennen lässt. Die Medienkritik, die Fearing übt, lässt sich in vielerlei Hinsicht auf die heutige Zeit übertragen, aber auch seine Sicht der problematischen Seiten einer kapitalistischen Gesellschaft.

Im Kern handelt es sich bei dem Roman aber um einen Noir-Thriller, Spannung gibt es eine Menge, nach einer recht ausführlichen Exposition. Man darf dankbar sein, dass Die große Uhr nicht jene im Übermaß anzutreffende Erzähl-Struktur eines kurzen, dramatischen Häppchens zu Beginn mit nachfolgendem Rückblick aufweist, sondern – klassisch – erzählt. Spannungsjunkies, die schon nach einer halben Seite ihren Kick brauchen, sollten vielleicht besser die Finger von dem Roman lassen.

Ich glaube nicht an eckige Pflöcke in runden Löchern. Der Preis ist zu hoch.

Kenneth Fearing: Die große Uhr

Zwielichtig ist es von Anbeginn an. Die Hauptfigur, George Stroud, lebt in scheinbar wohlsituierten Verhältnissen: Frau, Kind, Job als Chefredakteur einer True-Crime-Zeitschrift, ein eigenes Häuschen in Aussicht. Doch das Selbstgespräch vor dem Spiegel im zweiten Kapitel lässt Abgründe erahnen, die Strouds Leben belasten, privat und beruflich.

Nicht nur Tagträume bilden einen illusorischen Weg aus der als unerträglich empfundenen Realität, der Protagonist ist ein notorischer Fremdgänger. Sein sexuelles Begehren wird ausgerechnet von Pauline Delos geweckt, der Geliebten seines Chefs Earl Janoth, beide landen gemeinsam im Hotelbett und das Drama, das sich von der ersten Seite ankündigt, nimmt seinen Lauf.

Ein jäher Wendepunkt setzt Spiel und Gegenspiel in Gang, das den Leser bis zum Ende in Atem hält. Dank der gelungenen Exposition der Handlung befindet sich George Stroud in einer vertrackten Zwangslage, er muss ein Ermittlungsteam auf sich selbst ansetzen – es ist nicht nur für ihn unheimlich, sein Ego Stück für Stück enthüllt zu sehen. Die gesuchte Person, also er selbst, steht unter Mordverdacht, und so muss Stroud alles tun, um den Fortgang der Suche zu behindern.

(…) stand ich vor dem Janoth-Building, das wie eine unsterbliche Gottheit aus Stein inmitten eines Häuserwaldes aufragt.

Kenneth Fearing: Die große Uhr

Sein eigenes (Fehl-)Verhalten zwingt ihn zu diesem Doppelspiel, er will vermeiden, dass er sein Leben oder seine Familie verliert. Welchen Wert diese hat, angesichts seines Lebenswandels, bleibt offen; er könnte nur um die bequeme bürgerliche Fassade besorgt sein oder aber angesichts des drohenden Verlusts ihre tatsächliche Bedeutung für ihn erkannt haben.

In jedem Fall reicht die Motivation, sich dem lebensgefährlichen Drahtseilakt auszusetzen. Gefahr droht, denn in der vom Takt der »großen Uhr« beherrschten Welt ist ein Menschenleben weniger wert als der ungestörte, reibungslose Fortgang der Maschinen.

Fearing erzählt aus wechselnden Perspektiven, was den Romanfiguren eine gewisse Mehrschichtigkeit  verleiht. So ist der Unternehmer Janoth zwar ein kapitalistischer Geschäftsmann, zugleich aber darauf bedacht, Qualitätsjournalismus in seinen Blättern zu fördern. Durch die Perspektivwechsel kommen außerdem Spiel und Gegenspiel zur Geltung, während die Handlung auf ihr Finale  zustrebt.

Ich kannte das Riskio und den Preis.

Kenneth Fearing: Die große Uhr

Im Hintergrund aber tickt die »große Uhr«, ein Sinnbild für die nimmermüden, allmächtigen Mühlen der kapitalistischen Welt, in der die Menschen gezwungen sind, ihr Leben dem Takt der Uhr anzupassen und nicht – wie es in der amerikanischen Verfassung heißt – nach Glück zu streben. Die Uhr ist aber zugleich ein Symbol der Sterblichkeit, der Tod liegt über der Existenz wie ein mächtiger dunkler Schatten, eine ewige Winternacht. Noir par excellence!

Die große Uhr ist der dritte Band einer Krimi-Reihe des Elsinor-Verlages, die Klassiker der Genres neu auflegt. Herausgegeben wird sie von Martin Compart, der zu dem Roman ein ausführliches Nachwort mit vielen interessanten Informationen zu Autor und Werk sowie Denkanstößen verfasst hat, die der sehr fesselnden und unterhaltsamen Lektüre rückwirkend noch mehr Tiefe verleihen.

Ebenfalls in der Reihe erschienen & besprochen:
Buchan, John: Der Übermensch.
A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde.


[Rezensionsexemplar; daher Werbung].

Kenneth Fearing: Die große Uhr
Aus dem Englischen von Jakob Vandenberg
Klappenbroschur 200 Seiten
Elsinor-Verlag 2023
ISBN 978-3-942788-71-7

Wolfgang Herrndorf: Sand

Ein wilder, brutal-ehrlicher und zielstrebiger »Wüstenroman«, der bar aller Romantisierung den Zufall zum Herrn über Leben und Tod macht. Cover Rowohlt-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Alle Menschen müssen sterben. In der Regel liegt der Zeitpunkt des Todes in einer unbestimmten Zukunft. Es gibt Ausnahmen: Freitod; Hinrichtung; Strafbataillon der Roten Armee oder Wehrmacht; Vernichtungslager; eine tödliche, nicht therapierbare Krankheit, wie ein Glioblastom, an dem der Autor Wolfgang Herrndorf litt; Folter. In diesen Fällen nimmt der gewöhnlich nebulöse Tod eine sehr konkrete Gestalt an.

Es handelt sich um unerbittliche, erbarmungslose Situationen. Sie verheeren denjenigen, der ihnen ausgesetzt ist. Es gibt Literatur, verfasst von jenen, die eine Ausnahme dieser Ausnahmen waren und überlebten, was niemand überleben kann; und es gibt Arbeit und Struktur, einen Blog, der als Buch herausgegeben wurde, in dem Herrndorf die Zeit von der Diagnose bis kurz vor seinem Freitod niederlegt.

Der Roman Sand, den der Schriftsteller seinen »Wüstenroman« nennt, ist zumindest in Teilen während dieser Phase verwirklicht worden. Er stellt in gewisser Hinsicht ein Echo dessen dar, was in Arbeit und Struktur dem Leser entgegentritt. Herrndorf ist sprachmächtig gewesen und hat dort die richtigen Worte und Sätze gefunden, um dem, was ihn bewegte, auf eine Weise Ausdruck zu verleihen, die oft genug wie ein durchdringender Speerstoß wirkt. Und genau so ist auch Sand.

Von jeder Romantik, was »die Wüste« anbelangt, allem Märchenhaften ist das Werk weit entfernt. Diestelig wäre ein schönes Attribut, denn es geht zur Sache, bisweilen blutig und brutal, vor allem aber fern aller Heimeligkeit. Dabei hat Herrndorf wunderbar originelle Einfälle und auf eine messerscharfe Weise offen. Der Mensch und das angeblich unteilbare Menschenrecht werden zu einer Zahl degradiert.

Wichtiger als ein Menschenleben? […] Nichts ist wichtiger als ein Menschenleben. […] Auch wenn es das Leben eines Lügners ist, das Leben eines Schmugglers, eines Idioten und Berufsverbrechers. Jedes Leben ist unbezahlbar, einzigartig und schützenswert – sagt der Jurist. Das Problem ist, wir sind keine Juristen. Wir stehen nicht auf dem Standpunkt, dass man das Leben nicht gegen andere Güter oder andere Leben abwägen kann. Wir sind eher so die Statistikabteilung und Statistikabteilung bedeutet, es besteht eine einprozentige Wahrscheinlichkeit, dass es so ist, wie du sagst. […] Es besteht aber auch eine neunundneunzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass das nicht der Fall ist. […] Neunundneunzig Prozent, dass wir hier den Weltfrieden sichern. […] Und nur ein Prozent, dass unser peinliches Verhör einen Rückfall ins Mittelalter darstellt.

Wolfgang Herrndorf: Sand

Nur ein Zitat in der Buchvorstellung diesmal, dafür eines mit Wucht. Ein anachronistisches Echo auf 9/11 und was sich die USA herausgenommen haben, als sich die Menschenrechte doch als teilbar erwiesen. Willkommen in der Wirklichkeit. Denn die wiedergegebenen Worte stammen aus der Romanzeit im Jahr 1972 und könnten eben auch begründen, warum die USA den Weg in die Dunkelheit eingeschlagen haben.

Ein Alptraum, dem der Leser nicht entkommt. Wann immer es scheint, als würde sich endlich etwas zum Guten wenden, dreht und wendet und windet sich alles wieder und die wilde, nicht enden wollende Jagd geht weiter. Erschöpft wie die Hauptfigur, die übrigens keineswegs am Anfang eingeführt wird – ätsch, ihr Schreibratgeber! – taumelt man Seite für Seite voran, die Glieder schwer, der Kopf erschöpft und das Gemüt von schwindender Hoffnung auf ein Happy-End getrübt.

Schon der Weg ins Buch ist verworren. Wer gewöhnlich durch sauber geflieste, geputzte und barrierefreie literarische Flure schreitet, behütet von Triggerwarnungen und austarierter Diversität, und alles darüber hinaus als unerträgliche Zumutung betrachtet, sollte diesen Roman besser meiden. Sand schmerzt. Wer einmal einen Sandsturm erlebt hat, weiß, wie schräg ins Gesicht gefegter Sand sticht. Man muss dazu keine Wüste aufsuchen, ein stürmischer Nachmittag an der dänischen Nordsee reicht. Und so ist dieser Roman.

Langsam und auf verschlungenen Wegen entblättern sich die Hinter- und Abgründe der Figuren in diesem Drama. Herrndorf inszeniert das als wildes, brutales Puzzle scheinbar sinnloser Schnipsel, Fetzen einer gemarterten Erinnerung. Dabei kommt es zu grotesken Begegnungen, etwa mit potenziellen Informanten, mehr oder weniger organisierten Verbrechern, der Staatsmacht und Geheimdiensten.

Wer schon eine Weile lebt und seine Zeit mit Büchern und Filmen gefüllt hat, wird unweigerlich einmal, wahrscheinlich recht oft mit der Situation konfrontiert worden sein, die für die meisten Menschen großen Horror beinhaltet. Jemand will etwas von einer anderen Person und setzt diese unter Druck indem er die Angehörigen bedroht, sei es direkt oder indirekt, durch das Ankündigen von Gewalttaten.

Eine brillante Idee findet sich im fortgeschrittenen Teil des Buches, wenn Herrndorf diese geradezu klassische Szenerie durch die Beigabe einer Zutat namens Amnesie zu etwas Neuem, beunruhigend Spannendem und Verstörendem aufwertet. Was, wenn derjenige, der durch Drohungen gegenüber seinen Verwandten gebeugt werden soll, sich nicht mehr an sie erinnert? Was, wenn die Befrager das nicht wissen können und das Verhalten falsch einschätzen?

Herrndorf hat in seinem »Wüstenroman« das Szenario integriert und gekonnt bis zum Äußersten exekutiert. Es verbietet sich, es hier aufzulösen, ja wie an meinen windigen Formulierungen zu sehen, auch jede Kleinigkeit, die darauf hindeutet, wem es widerfahren wird und was sich daraus entwickelt. Und doch zeigt diese Neuerung, was der leider früh verstorbene Autor für ein literarisches Potenzial mitgebracht hat.

Sand ist ein spektakuläres Buch, voller Verwicklungen, Knoten, die sich nicht lösen lassen, Fäden, die im Nichts zu beginnen scheinen und sich mit anderen verschlingen und wieder in der Luft flattern. Und im Hintergrund schimmert die Zeitgeschichte, wenn etwa abends die Nachrichten im TV gesehen werden und man hört: Olympia. München. Jüdische Sportler. Palästinensisches Volk. 50 Jahre sind vergangen und was hat sich eigentlich geändert?

Wolfgang Herrndorf: Sand
Rowohlt 2013
Taschenbuch 480 Seiten
ISBN: 978-3-499-25864-0

« Ältere Beiträge

© 2023 Alexander Preuße

Theme von Anders NorénHoch ↑

GDPR Cookie Consent mit Real Cookie Banner