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Schlagwort: Vernichtungskrieg (Seite 1 von 2)

Yeva Skalietska: Ihr wisst nicht, was Krieg ist

Ein besonderes Tagebuch aus der Ukraine, in dem eine Zwölfjährige über ihre ersten Tage in Charkiw während des russländischen Angriffskrieges berichte. Cover Kaur, Bild mit Canva erstellt.

Am Dritten Tag des Krieges hat die zwölfjährige Yeva bereits gelernt, die Entfernung von Explosionen anhand des Knall-Lautes abzuschätzen. Da ist sie schon nicht mehr in ihrer Wohnung in Charkiw, sondern mit ihrer Oma bei einer Freundin untergekommen. Zum Glück, denn schon einige Tage später trifft ein russländisches Geschoss die alte Unterkunft, reißt ein Loch in die Hauswand, den Balkon ab und zerstört die Küche.

Dank Smartphone gibt es davon auch ein Foto – es ist in ihrem Tagebuch Ihr wisst nicht, was Krieg ist, abgebildet. Für Yeva ist der Verlust mehr als nur ein materieller, es fühlt sich an, als wäre ein Teil ihrer Kindheit und damit von ihr selbst zerstört worden. Noch später, als sie bereits auf der Flucht nach Westen sind, hört sie, dass vom Wohnblock noch mehr zerstört wurde.

Wenn die Medien davon berichten, dass die Frontstadt Charkiw immer mehr zur Geisterstadt werde, stecken solche Geschichten dahinter; viele davon erahnt der Leser von Yeva Skalietskas Tagebuch aus den Kurznachrichten, die sie mit ihren Mitschülern austauscht. Die Ängste, die Unsicherheit und Verzweiflung, aber auch die Erleichterung, herausgekommen und in Sicherheit zu sein, sind spürbar.

Panikattacken lernt Yeva auch kennen, in Charkiw unter dem Eindruck des russländischen Beschusses, aber auch ganz im Westen der Ukraine, als sie in Uschorod an der ukrainisch-ungarischen Grenze angekommen sind. Statt Freude überfallen sie Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Ein Leben ist innerhalb weniger Tage völlig aus den Angeln gehoben worden. Die Intensität der Aufzeichnungen ist bedrückend, das Geschwafel selbst ernannter Pazifisten dagegen dosenhohl.

Yeva gelangt über Ungarn nach Irland, davon berichtet ein Teil ihres Tagebuches. Das ist übrigens sehr gelungen aufgemacht, drei schön gestaltete Karten informieren den Leser über den Fluchtweg Yevas, die Ukraine und Charkiw. Gerade auch junge Menschen können hier einen Einblick bekommen, wie es ist, wenn ein verbrecherischer Angriffskrieg den Frieden vertreibt. Das Vorwort von Marina Weisband ist sehr informativ – es spricht nichts dagegen, das Buch auch in der Schule zu lesen.

Yeva Skalietska: Ihr wisst nicht, was Krieg ist
Übersetzt von Dr. Alexandra Berlina
Knaur 2022
Hardcover 192 Seiten
ISBN: 978-3-426-28622-7

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Die Hellsichtigkeit des Tagebuchschreibers Stresau ist frappierend, besonders, weil er seine Rückschlüsse auf der Basis von propagandatriefenden Presseberichten gezogen hat. Seine Äußerungen stellen einen Kontrapunkt zu dem dar, was an propagandistischem Getöse bis heute das Bild der Zeit prägt – etwa zur berühmt-berüchtigten Sportpalast-Rede von Joseph Goebbels im Februar 1943. Cover Klett-Cotta, Bild mit Canva erstellt.

Ist es mutig oder töricht, Adolf Hitler in einem Tagebuch als »Oberidioten« zu bezeichnen? Hermann Stresau hat das getan, am 31.01.1944, dem Jahrestag der so genannten »Machtergreifung«. Als ich diese Passage las, war ich froh, dass niemand die Aufzeichnungen vorzeitig in die Finger bekommen hat, das hätte fatale Folgen für Stresau gehabt. Uns Nachgeborenen wäre ein kleiner Schatz entgangen, denn nicht anderes sich die Tagebücher Als lebe man nur unter Vorbehalt.

Der Autor Hermann Stresau eignet sich nicht als Heldenfigur des Widerstands, wie etwa Sophie Scholl oder Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Er ist konservativ, wenn die Rede auf die Rolle der Frau (»Weiber«) kommt, muss der moderne Leser tapfer sein; seine Haltung zur Weimarer Republik ist bestenfalls kühl, mit der Parteiendemokratie kann er so wenig anfangen wie mit linken Schriftstellern und dem Vertrag von Versailles.

Und doch hat er 1933 den Kotau gegenüber dem Regime verweigert, erhebliche wirtschaftliche Einbußen inkauf genommen, um sich eine innere Distanz zu wahren gegenüber dem Nazi-Regime. Das ist die Voraussetzung für seinen scharfen, analytischen und oft hellsichtigen Blick auf die Dinge, die schon seine Tagebücher 1933 – 1939 Von den Nazis trennt mich eine Welt auszeichnen. Den Kriegsausbruch 1939 hat er wenigstens befürchtet und doch ist er wie ein Hammerschlag auf ihn niedergegangen.

Morgens müssen wir uns eine Zentnerlast vom Herzen schieben, um aufstehen zu können. Wir erheben uns sonst immer frisch und munter um 6 Uhr, selten später, aber jetzt ist’s das Gegenteil: ein furchtbares Gefühl nach dem Erwachen, ein unbeschreibliches Grauen, ein Alpdruck, man möchte die Welt verfluchen. 05.09.1939

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Das bleibt der Grundtenor während der kommenden fünfeinhalb Jahre, bis das so genannte »Dritte Reich« im Mai 1945 in Schutt und Asche gesunken war und Millionen elendig verreckt, vertrieben oder versehrt waren. Selbst während der Phase, in der die Wehrmacht Sieg an Sieg reihte und auch Stresau mit einer militärischen Eroberung Englands oder der Niederwerfung der UdSSR rechnete, hat er sich von der Siegespropaganda nie anstecken lassen.

Das gehört zu den – ja – Ungeheuerlichkeiten der Tagebucheinträgen. Stresau hat von Anfang an gewusst, dass die USA (»Amerika«) den Ausschlag geben würde und ihm war klar, dass die Entscheidung nicht auf dem Schlachtfeld, sondern danach fallen würde. Frieden gibt es durch Verhandlungen – wohlgemerkt nach der militärischen Entscheidung – und er hat der Reichsführung um Adolf Hitler schlicht und ergreifend die Fähigkeit dazu abgesprochen.

Stresau hat sich von den militärischen Erfolgen beeindrucken, aber nicht blenden lassen; seine Erwartungen an die Wehrmacht waren zu hoch, aber selbst die höchsten Regierungsstellen in England (und den USA) haben es den deutschen Truppen zugetraut, die UdSSR niederzuwerfen und auch deshalb massive Unterstützung geliefert, ohne die die Rote Armee in noch größere Schwierigkeiten geraten wäre. Stresau befand sich also in guter Gesellschaft.

Es ist absolut faszinierend zu lesen, dass jemand derart unabhängig und zutreffende Einschätzungen treffen kann, wenn ihm nur das Propaganda-Geklingel der gleichgeschalteten Presse zur Verfügung steht. Der Schlüssel liegt im Nachdenken über das Geschriebene und Verschwiegene. Wenn berichtet wurde, dass sechzig feindliche Flieger abgeschossen wurden, hat Stresau daraus geschlossen, dass die Zahl der angreifenden Flugzeuge entsprechend hoch sein musste und auf dieser Basis auf die immense, ja übermächtige Leistungsfähigkeit der gegnerischen Wirtschaft rückgeschlossen. Hieß es im Wehrmachtsbericht »planmäßig«, übersetzte er das mit Verlangsamung, Stockung oder Stillstand der Vormarsches.

Lesen allein macht nicht klug, Nachdenken macht klug. Das zeigt sich auch an einer anderen Bemerkung, anlässlich der Feststellung Stresaus, die Zeitungsberichte und Haltung der Zeitgenossen wären unangemessen oberflächlich und unbekümmert. Der Tagebuchschreiber zeigt sich bestürzt darüber, wie Zivilisten begeistert über versenkte Schiffe nach Bombentreffern reden.

Aber wenn man sich da so in Norwegen vorstellt: ein Truppentransporter auf hoher See von schwersten Bombenkalibern getroffen, in Brand geraten, und man denkt an die Scenen, die sich dabei abspielen, und sieht dazu die vergnügten Gesichter auf der Straße – dann merkt man, in welcher Unwirklichkeit der Durchschnittsmensch lebt […], ohne zu spüren, daß dies alles des Teufels ist und vielleicht in einem allgemeinen Grauen enden wird. 30.04.1940

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Der alltäglichen Propaganda begegnet Stresau mit beißendem Spott, insbesondere den wissenschaftlich haarsträubenden, von den Nationalsozialisten zusammenphantasierten Germanenkult nimmt er genüsslich aufs Korn. Er würde gern wissen, warum alle kurze Haare trügen, denn als »alte Germanen müßten wir freien deutschen Männer nicht nur den Hut abnehmen, sondern auch die entsprechenden Locken ums arische Antlitz flattern lassen.«

Doch gibt es noch eine andere Ebene, die Stresaus Tagebücher wertvoll machen. Am 18. Februar 1943 hielt Joseph Goebbels im Sportpalast zu Berlin jene berühmte Rede, in der er die Frage in den Saal rief: »Wollt ihr den totalen Krieg?« Der Saal echote stürmische Begeisterung, man kann es sich auf Youtube heute noch ansehen – die Propaganda (!), die bis heute unser Bild prägt.

Stresau charakterisiert ähnliche Reden als »fiebrig« und konstatiert nüchtern: »Im Volk doch starke Beunruhigung zu bemerken.« Dieser kühle Kontrapunkt ist gar nicht zu überschätzen. Éric Vuillard hat in seiner mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Schrift Die Tagesordnung nachdrücklich darauf verwiesen, wie sehr die Gegenwart von Propaganda-Bildern aus der NS-Zeit geprägt ist – ein giftiger Nachhall der Vergangenheit. Stresaus klärende Worte bilden eine Art Gegengift dazu.

Ich wünsche nicht, daß wir den Krieg verlieren. Ich wünsche eher, daß wir ihn gewinnen, uns jedenfalls behaupten, und uns unsere verrückt gewordenen Führerbande entledigen. 29.5.43

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Natürlich ist Stresau auch Kind seiner Zeit. Dem Rassenwahn der »Nasolisten« steht er ablehnend gegenüber, die »Rasse« ist für ihn aber eine gewöhnliche Denkkategorie. Man stehe mit Artverwandten (England und Amerika) im Krieg, während die Verbündeten (Italiener, Japaner) einem so fremd wären. Wenn sich Stresau über Juden abfällig äußert, dann nicht wegen der »Rasse«, sondern weil ihm an einer Einzelperson etwas Konkretes missfällt, etwa Stefan Zweigs Essay über Hölderlin.

Der nächste große Schock ist der Überfall auf die Sowjetunion, in mehrfacher Hinsicht. Der »Alpdruck« der sich anbahnenden Niederlage, weil Deutschland »alles über den Kopf wachsen« werde, weicht bis Kriegsende nicht, allen zwischenzeitlichen Erfolgen zum Trotz. Wie betäubt sei man, angesichts des ins Endlose sich dehnenden, den ganzen Erdball umspannenden Krieges, der nicht – wie von Hitler behauptet – 1941 enden werde, sondern »nach 10 Jahren vielleicht.«

Von den Kriegsverbrechen, dem Genozid, dem sich anbahnenden Holocaust und dem drakonischen Gebahren in den besetzen Gebieten weiß Stresau recht früh. Interessant sind seine Quellen. Ein Arzt berichtet ihm von einem Offizier, der wegen »Kopfschmerzen« behandelt werden will. Es stellt sich heraus: Dieser Offizier hat mehr als 800 Zivilisten, Frauen und Kinder erschossen – das halte er nicht mehr aus. Stresau weiß obendrein um den Hunger der ausgeplünderten Gebiete (auch im Westen), um die »renitente« Bevölkerung und die »Widerspenstigkeit der Besiegten« überall.

Die ›Freiheit‹, die wir bringen, wäre ihnen alles andere als erwünscht.« 6.7.41

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Spektakulär sind die Schlussfolgerungen, die Stresau daraus zieht, die wichtigste: Der Krieg ist nicht zu gewinnen. Anders als jene Zeitgenossen, die sich von den militärischen Erfolgen in dieser Zeit haben blenden lassen, wusste der Tagebuchschreiber ganz genau, dass selbst bei einem umfassenden Sieg der Wehrmacht der Krieg noch lange nicht siegreich beendet werden könnte – ein Frieden erschien ihm völlig unmöglich.

Doch selbst die militärischen Aussichten beurteilt er nüchtern. Angesichts der größten Kesselschlacht an der Ostfront mit gewaltigen Verlusten für den Gegner macht er eine einfache Rechnung auf: Die Rote Armee habe vier Millionen Mann verloren, blieben noch sechszehn Millionen, die Industrie wäre hinter dem Ural, und die Versenkung alliierter Handelsschiffe im Nordmeer bedeute eine auf massive materielle Unterstützung für die UdSSR. Mit einem Wort: militärisch sei noch lange nichts gewonnen.

Es ist angesichts der Traumtänzerei in den hohen Stäben von Militär und Verwaltung, der braunen Partei und ihren Organisationen, der Presse und Wirtschaft geradezu bestürzend, wie ein Einzelner auf der Basis kümmerlicher, propagandatriefender Informationen durch kluges Nachdenken realitätsnahe Schlussfolgerungen zieht. Vor allem ist ihm klar, dass ein »Sieg« keineswegs glanzvoll ausfallen würde, im Gegenteil.

Grete und ich waren heute zwei Juden begegnet, mit ›Sternchen‹, und hatten uns schämen müssen. Darauf die Frage: wozu das alles, Kriege, Staaten usw., dieser ganze furchtbare Unsinn, wenn das zu nichts führt als solchen Lumpereien. 19.10.41

Was diesem Krieg zur Zeit eine besondere Note gibt, sind die systematischen Judendeportationen mit dem ausgesprochenen Zweck der Vernichtung der Unglücklichen. 18.11.41

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Nach der Niederlage bei Stalingrad verändert sich alles. Die Stimmung in der Bevölkerung sinkt drastisch, die Versorgungslage wird schlechter, die Vernichtung der deutschen Städte durch den Bombenkrieg schreitet immer schneller voran, während die gesamte Bevölkerung begleitet von fanatischen Worten in den Dienst des längst verlorenen Krieges gepresst wird.

Stresau muss zwangsweise in einer Fabrik arbeiten. Seine Beobachtungen und Betrachtungen sind erhellend, denn auch hier klaffen Propaganda und Wirklichkeit weit auseinander. Die Produktion leidet unter vielerlei Dingen, Chaos, Materialmangel, unqualifizierten Arbeitern, dem Auftreten des Sicherheitspersonals, das die ausländischen Arbeiter drangsaliert, und den ständigen Alarmen, die jede Nachtruhe über Monate und Jahre unmöglich machen.

Man müsse gar keine Sabotage üben, konzediert der Tagebuchautor, das erledige sich ganz von allein. Doch ist Stresau keineswegs zum Spott zumute, er ist innerlich zerrissen zwischen dem Wunsch, das Desaster möge sich noch abwenden lassen und der Einsicht, dass Deutschland und Europa immer weiter in den Abgrund rutschen. Für eine Zukunft nach dem Kriegsende sieht er schwarz, rechnet mit Jahrzehnten bitterer Lebensverhältnisse.

Ein besonderer Wert der Tagebücher liegt darin, dass sie zeigen, wie sehr sich der Krieg in den Alltag hineindrängt, während sich die Menschen bemühen, ihn zu verdrängen. Die Fluchten sind vielfältig, Literatur, Musik, Gespräche, abendliche Runden mit kulturellen Gesprächen, Affären, Alkohol bieten immer wieder eine Möglichkeit, dem alltäglichen Grauen zu entfliehen, ohne ihm zu entkommen.

Manche Schilderung aus den letzten Kriegsmonaten ist haarsträubend, etwa von Göttingen aus den Rauchturm der im März 1945 zerstörten Stadt Hildesheim zu beobachten: eine »riesige Rauchwolke, wie von einem Vulkan«. Nach der Befreiung Tage später folgen peu á peu die Nachrichten von den NS-Gräueltaten, noch nicht von der Massenvernichtung im Osten, sondern aus dem KZ Sachsenhausen. Diese sind so schauerlich, dass selbst ein kluger, aufmerksamer Beobachter wie Hermann Stresau notiert: »Kaum glaublich, aber es muß wahr sein.«

[Rezensionsexemplar]

Die Tagebücher 1933 – 1939 habe ich auch besprochen:
Von den Nazis trennt mich eine Welt

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt
Klett-Cotta 2021
Gebunden 594 Seiten
ISBN 978-3-608-98472-9

Daniel Schulz: Ich höre keine Sirenen mehr

Bewegende und erhellende Impressionen aus der Zivilgesellschaft im Krieg. Cover Siedler-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Krieg ist Chaos. Geordnete Bahnen zerbrechen, das Leben gerät im Wortsinne aus den Fugen, Menschen werden in die Flucht getrieben, verlieren die Orientierung und irren auf der Suche nach einer neuen im sprichwörtlichen Nebel des Krieges. Vor den Fenstern ein Feuerpanorama statt des gewohnten Anblicks – nicht nur in Charkiw, der Frontstadt, die medial oft im Schatten Kyjivs steht.

Am Ende des bewegenden Buches von Daniel Schulz fühlt der Leser das Chaos. Ich höre keine Sirenen mehr ich wie ein Echo aus der Ferne, das jenes ungeheuerliche Durcheinander des Krieges wiederklingen lässt, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat – wie die berühmten Hunde des Krieges Shakespeares. Schulz liefert keine Analysen, einordnende Hintergrundinformationen, strukturiert und selbstverständlich immens hilfreich, wie es andere Bücher über den Krieg gegen die Ukraine tun; er lässt die Menschen vor Ort ausführlich zu Wort kommen, während er sie begleitet.

Ich höre keine Sirenen mehr bietet vor allem Impressionen, Nachklänge, wie nach einem Konzert- oder Kinobesuch; Stil und Inhalt, Perspektive und Erzählhaltung wechseln, dankenswerterweise scheut sich Schulz auch nicht, seine vielfältigen, sehr persönlichen Erfahrungen einfließen zu lassen und zu offenbaren, dass seine Reise in die Ukraine, in den russländischen Angriffs- und Vernichtungskriegs auch ein Versuch ist, eine persönliche unspezifische Angst loszuwerden.

Die russischen Raketen, die Sirenen des Luftalarms, das Sterben der ukrainischen Soldat:innen und Zivilist:innen, sie reißen Lücken ins Gewebe der Gewohnheiten.

Daniel Schulz: Ich höre keine Sirenen mehr

Es geht sehr menschlich zu in dem Buch, für das ein sehr treffender Untertitel gewählt worden ist: Krieg und Alltag schließen einander aus, weil Krieg den Alltag zerbricht. Doch schon wenige Monate nach dem Tag, an dem der vollumfängliche Vernichtungskrieg Russlands begonnen hat, ist Alltäglichkeit überlebensnotwendig. Hierzulande ist oft von Kriegsmüdigkeit die Rede, eine fremdschambehaftete Eigendiagnose angesichts der Leistungen und Belastungen der Menschen in der Ukraine.

Ein Alltag mit seinen Routinen ist essentiell, anders wäre die irgendwann einsetzende Erschöpfung nicht zu bewältigen. Wir reden hier nicht von den Soldaten, der regulären Armee, wir reden von Freiwilligen, ungezählten Frauen und jenen Männern, ohne die der Krieg für die Ukraine einen schlechteren Verlauf genommen hätte. Auf mehr als 1.700 Neugründungen nach der vollumfänglichen Invasion im Februar 2022 beziffert Schulz die Zahl solcher Gruppen von Freiwilligen.

So beginnt Schulz’ Reise in Krieg und Alltag mit einem Blick auf das, was man gewöhnliche Zivilgesellschaft nennt. Wie »Alltag« und »Krieg« scheinen sich »Zivil« und »Krieg« auszuschließen, betrachtet man einen Waffengang als Krise, ist es nur folgerichtig, dass dem zivilen Sektor eine wichtige Rolle, ja: die Hauptlast zukommt. Die Ukrainer nennen es „ukrainische Anarchie“, mit der die Hilfen organisiert werden – unter kreativer Zuhilfenahme aller modernen Kommunikationskanäle, was den Leser staunen lässt.

Küchentische, […] sind neben den vom Staat und von Nichtregierungsorganisationen geführten Zentren die anderen wichtigen Orte, an denen ukrainische Freiwillige Nachschub und Hilfe organisieren.

Daniel Schulz: Ich höre keine Sirenen mehr

Das Chaos, von dem ein aus Deutschland stammender freiwilliger Frontsoldat berichtet, mag aus der Sicht des Bundeswehr-Veteranen problematisch sein, beim Umgang mit allzu knappen Ressourcen notwendig und hilfreich. Die spezifisch bundesdeutschen Klagen über die Folgen des Krieges verblassen doch zu Phantomschmerzen, wenn Daniel Schulz ausführlich schildert, wie Kunst- und Kulturschaffende ihre Fähigkeiten in den Dienst der ukrainischen Kriegführung stellen und gleichzeitig versuchen, die fürchterlichen Folgen für die dortige Zivilbevölkerung abzufedern.

Die Helfer sind dabei keineswegs unkritisch gegenüber dem Staat und seinen Makeln, etwa der grassierenden Korruption. Eine Gleichschaltung findet auch im Krieg nicht statt, es wirkt mehr wie ein temporärer Waffenstillstand; spürbar ist, dass nach dem Ende des Krieges die Reformforderungen wieder erhoben werden. Ob und wie weit diese tragen und zu strukturellen Veränderungen führen werden?

Einige Dinge sind von Krieg zu Krieg doch gleich oder zumindest ähnlich. Luftalarm. Autor Schulz muss erstaunt feststellen, wie sehr diese ignoriert werden – ein Motiv, das aus Tagebüchern des Zweiten Weltkrieges oder Augenzeugen bekannt ist. Ein Gesprächspartner aus der Ukraine versucht eine Begründung und zieht Parallelen zum Auto: Es gebe Unfälle, Tote und Verletzte, jeder wisse das und fahre trotzdem.

»Der Krieg ist bei allem Leid, das er bringt, auch eine Chance, unsere Seelen zu retten.«

Daniel Schulz: Ich höre keine Sirenen mehr

Dann geht es doch noch ein wenig an die Front. Kriege werden immer auf der Basis der Erfahrungen aus dem vorangegangenen begonnen und bringen gewöhnlich massive Überraschungen. Im Ersten Weltkrieg waren es Maschinengewehre und Flugzeuge, in der Ukraine sind es Drohnen. Die Bedeutung dieser kleinen Flugobjekte für Aufklärung und Kampf ist schon im Waffengang zwischen Armenien und Aserbaidschan immens gewesen, jetzt ist sie ungleich größer.

Es ist interessant zu sehen, wie die Anfänge nach dem Maidan und der russländischen Invasion der Krim bzw. des Donbas ausgesehen habe, wie Initiativen am Militär vorbei und parallel dazu vorangetrieben wurden, etwa bei der Ausbildung zum Drohnenfliegen. Auch in diesem Bereich zeigt sich der unheilvolle Einfluss des Krieges, der alles verschlingt – moderne Technik und die Menschen, die Dinge tun (müssen), die sie eigentlich vermeiden wollten.

Wir sehen nur, was wir verstehen; daher ist es sehr positiv, dass Schulz einerseits innerhalb seines gewohnten Netzwerkes (Kulturelite) unterwegs ist, sich aber bewusst auch anderen Menschen und Verhältnissen widmet. Das führt ihn in manchen Kapiteln an den Rand der Sprachlosigkeit, etwa zu jenen kargen Eindrücken von einem Parkplatz bei Saporischschja. Aber auch zu Menschen wie den Freiwilligen Andriy, der für deutsches Sicherheitsnetz-Denken geradezu abenteuerlich mutig agiert – immer mit der Begleitmusik der Sirenen.

[Rezensionsexemplar]

Daniel Schulz: Ich höre keine Sirenen mehr
Siedler Verlag 2023
Hardcover 272 Seiten
ISBN: 978-3-8275-0167-7

Sergej Gerassimow: Feuerpananorama

Die Eindrücke aus den ersten Kriegswochen sind bestürzend, Charkiw ist Frontstadt, hat früh Bekanntschaft mit russländischen Streubomben und Raketen gemacht und bot das titelgebende Feuerpanorama. Cover dtv, Bild mit Canva erstellt.

Erwachen im Krieg. Charkiw. Geräusche, die nichts anderem auf der Welt ähneln, Geräusche des Todes, des vorsätzlichen Mordes. „Ich habe es noch nie gehört, aber ich weiß, dass es das Atmen des nahenden Krieges ist.“ Man stelle sich vor, in einer Stadt, in der Nobelpreisträger gewohnt, studiert und gearbeitet haben, Anfang des 21. Jahrhunderts. Kann das überhaupt sein? Es kann. Es wirke wie ein Traum, aus dem man noch nicht aufgewacht sei; Angst – nein. Es herrscht das Gefühl von Unwirklichkeit.

Draußen Gefechtslärm. Artillerie. Panzer. Luftangriffe mit Flugzeugen und Raketen. Streubomben, die von der russländischen Armee gezielt über Wohngebieten eingesetzt werden. Man kann zusehen, wenn man in einem hohen Haus wohnt, aus dem Fenster heraus beobachten, wie der Krieg tobt. Eine ältere Dame, berichtet Gerassimov, hört dabei Heavy Metal, um das Dröhnen, Krachen des Krieges zu übertönen, der Versuch, zwischen sich und dem Gesehen Distanz zu bringen, es erträglich zu machen. Sie schläft in einer Gusseisen-Badewanne zum Schutz von Splittern und Schrapnells.

Das Kriegstagebuch Feuerpanorama von Sergej Gerassimov ist voll von derartigen Beobachtungen. Sie bringen den Krieg, seine Grausamkeiten und die Versuche, damit umgehen, nahe. Schlangen vor Geschäften werden nicht in Metern, sondern Wartezeit gemessen: »Die Schlange war nur dreißig Minuten lang.« Oft ist vorher klar, dass es nicht das Gesuchte gibt, doch reihen sich die Menschen ein. Warum?

Das ist die wohl am häufigsten gestellte Frage. Warum? Warum kann jemand absichtlich eine Geburtsklinik bombardieren? Warum das von Kindern überfüllte Theater in Mariopol zerstören? Viele der Antworten sind verstörend. Wenn etwa von »Putinophilen« die Rede ist, die sich die Realität zurechtbieten. Vor ihren Augen wird ihre Heimat, ihre Stadt (Charkiw) bombardiert – es wären Ukrainer, die das täten, papageien die Putinophilen nach. Was soll man da noch sagen?

Gerassimow schreibt noch in den ersten Kriegstagen, dass er die Menschen in Russland nicht hassen könne; er erinnert sich seiner Kindheit bei Kursk, einem Ort, dessen Umgebung ihm die schönsten Erinnerungen geschenkt habe. Tage später steigt er dann doch auf, der Hass, wie „schwarze Tinte“ vom Grund eines Sees. Ein passiver Hass auf einen russländischen Piloten, der Zivilisten bombardiert hat und abgeschossen wurde. Es könnte, gesteht er sich selbst ein, aktiver Hass werden, das Bedürfnis aufsteigen, diesem Piloten den Hals umzudrehen. Der Krieg verändert die Menschen.

Es ist das vierte Tagebuch (Im Schatten des Krieges, Als ich im Krieg erwachte) aus diesem Krieg – das zweite aus Charkiw – das ich gelesen habe. Ich konnte eine Menge Eindrücke durch die Augen des beobachtenden Autors sammeln, das Ausmaß der Zerstörungen in der Frontstadt, die hierzulande im Schatten von Kyjiw steht, der materiellen und ideellen Verluste, wird greifbar.

Sergej Gerassimow: Feuerpananorama
Übersetzt von Andreas Breitenstein
dtv 2022
Hardcover 256 Seiten
ISBN: 978-3-423-28315-1

Gwendolyn Sasse: Der Krieg gegen die Ukraine

Wer aus Bequemlichkeit den Begriff »Ukrainekrieg« verwendet, wird das nach der Lektüre dieses Buches infragestellen, wie vieles andere auch. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Der vollumfängliche Angriff Russlands ab dem 24. Februar 2022 gegen die Ukraine rückt erst mit Seite 98 dieses Buches in den Fokus. Damit berührt man schon einen wichtigen Punkt dieser Darstellung: Der Krieg lief bereits und trat da erst in seine dritte Phase ein. Die erste und zweite haben nach Einschätzung von Autorin Gwendolyn Sasse bereits im Jahr 2014 eingesetzt. Die Invasion mit Vernichtungsabsicht stellt also eine Eskalation dessen dar, was Russland schon seit Jahren praktizierte.

In ihrer sehr lesenswerten Schrift Der Krieg gegen die Ukraine klärt die Autorin sachlich, ausgewogen, wohlinformiert und fundiert über die Wurzeln dieses russländischen Kieges auf. Es mag umständlich erscheinen, auf den Begriff »Ukrainekrieg« zu verzichten, doch dafür gibt es gute Gründe: Das Wort ist ein Echo russländischer Propaganda, es assoziiert einen internen oder gar von der Ukraine ausgehenden Krieg, und verdeckt so die Wirklichkeit eines genozidalen Angriffs- und Vernichtungskrieges.

Sasse räumt en passant mit bei deutschen Sofapazifisten liebgewonnenen Unwahrheiten auf. Der unselige Sprachenstreit in der Ukraine wird durchleuchtet und schrumpft vom propagandistisch aufgeblasenen Scheinriesen zum Zwerg. In Deutschland mag es schwer nachvollziehbar sein, doch ist die sprachliche Realität in der Ukraine geprägt von einer »kontextabhängigen Bilingualität«. Manche sprechen tatsächlich nur die eine oder andere Sprache, andere wechseln zwischen Ukrainisch und Russisch abhängig davon, ob sie Zuhause oder anderswo sind; manchmal spricht eine Person Ukrainisch, die andere Russisch.

Ein Verständnisproblem besteht nur für begriffsstutzige und wirklichkeitsverschlichtende Deutsche. Schlimmer noch ist der Kurzschluss, ein Russisch sprechender Mensch sei auch pro-russisch eingestellt, was hanebüchener Nonsens ist. Die Identität ist nicht allein aus dem Sprachgebrauch abzuleiten – eine Binsenweisheit, die auch für Loyalität gilt. Ganz davon ab: Selbst wenn es gegenüber Kyjiw Vorbehalte oder Ablehnung gab, hieß das noch lange nicht, dass diejenigen automatisch für einen Anschluss an Russland wären.

Das Buch von Sasse räumt mit einer Reihe von Vorurteilen auf, auch was die vielbeschworene Nato-Ostererweiterung anbelangt. Das ist wohltuend in einer Welt, in der Medien auf Einschaltquoten schielen und handfeste Propagandisten in ihre Studios bitten. Überhaupt ist die Informationsdichte in dem kurzen Buch sehr hoch, es informiert über die Staatswerdung der Ukraine nach 1991, rückt absurde Formulierungen in rechte Licht. Die Krym war kein „Geschenk“ Chruschtschows an die Ukraine.

Naturgemäß ist das Ende des Krieges gegen die Ukraine offen. Trotzdem ist das Buch unbedingt lesenswert für alle, die sich noch einmal vor Augen führen wollen, was im Osten Europas gerade geschieht. Kriegszeiten sind immer auch Zeiten der Verunsicherung, doch da dieser Krieg eine lange Vorgeschichte hat und seit vielen Jahren auf niederschwelliger Ebene geführt wird, bietet die Lektüre auch eine Form der Sicherheit.

Besonders lobenswert ist, dass Sasse einen Ausblick auf die Folgen wagt. Monate nach der Niederschrift des Buches, als von einer umfangreichen Rückeroberung großer Gebiete durch die Ukrainer noch nicht die Rede sein konnte, geschweige denn von einer umfassenden Gegenoffensive, lesen sich die Punkte immer noch sehr stichhaltig und realitätsnah. Einige der Voraussagen haben sich mittlerweile bewahrheitet – ein weiteres Qualitätsmerkmal.

Gwendolyn Sasse: Der Krieg gegen die Ukraine
C.H.Beck 2022
Softcover 128 Seiten
978-3-406-79305-9

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