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Schlagwort: Wehrmacht

George Orwell: Reise durch Ruinen

Einen unmittelbaren Eindruck von den Verhältnissen im untergehenden Nazireich erhält der Leser aus den Reportagen des englischen Schriftstellers George Orwell. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Die kurzen Texte, die in diesem schmalen Kompendium versammelt sind, haben es in sich. Neben vielen anderen Reportern, Schriftstellern und schreibenden Beobachtern machte sich auch Georg Orwell 1945 auf den Weg nach Deutschland. Der Krieg war noch nicht zuende, als er deutschen Boden betrat, voller offener Neugier – und schockiert, als er die Verwüstungen Kölns sah: Vom Ausmaß der Zerstörungen durch den Bombenkrieg war man auf den Inseln nicht informiert.

Die Unmittelbarkeit der Berichte, die Orwell für Zeitungen verfasst hat, sind ein großer Vorzug. Zwar bemüht sich der Brite um eine möglichst nüchterne Schilderung, reflektiert und analytisch, doch ist dem Ton anzumerken, wie sehr ihn die Eindrücke anfassen. Es sind nicht so sehr die Aspekte, die er in seinen Analysen richtig erkannt hat, sondern jene, bei denen er falsch lag, die ich mit großem Gewinn zur Kenntnis genommen habe. Sie geben einen Einblick in die Hoffnungen und Befürchtungen der Zeit.

Orwell war Teil jener Armeen, die Deutschland besetzten – die letzten Kriegsmonate waren ein apokalyptisches Gemetzel. In den Monaten Januar bis April starben Schätzungen zufolge mehr als eine Million deutscher Soldaten. Wer das im Hinterkopf hat, ist über den milden Tonfall mancher Berichte erstaunt: Die relative Ruhe auf dem Land, in dem das Leben weitergeht, als wäre der Krieg längst abgewickelt. Die Auflösung der Heeresgruppe C in Norditalien, als hunderttausende Landser zurück ins Reich strömten, wird genauso bildhaft geschildert wie die erschütternden Berichte über die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen.

Als Teil der Koalition der Sieger über ein Deutschland, das Europa unterworfen hat, schildert Orwell auch, wie anders sich die Franzosen im Vergleich zu den Engländern oder Amerikanern verhalten haben. Als Beispiel wählt er Stuttgart . Kritik und der Versuch, die französischen Handlungen unwillig mit der Besatzungszeit durch die Deutschen zu erklären, gehen Hand in Hand. Plünderungen, bewaffnete Auseinandersetzungen, wahllose Gefangennahme deutscher Zivilisten und mangelndes Engagement beim Aufbau einer Militärverwaltung bilden nur einen Teil der Kritikpunkte.

Dank des vorzüglichen und kenntnisreichen Nachworts von Volker Ullrich, der die Berichte ausführlich kommentiert und einordnet, zudem eine ganze Reihe weiterer interessanter Fakten und Aspekte nennt, weiß der Leser auch, was Orwell verschweigt: Es kam zu massenhaften Vergewaltigungen durch die in Stuttgart einrückenden französischen Verbände, mehr als eintausend Anzeigen wurden aufgegeben – die Dunkelziffer dürfte immens sein.

Ich kann dieses Buch nur empfehlen, denn es bietet über die unmittelbaren Eindrücke nach Kriegsende hinaus noch weitere tolle Beiträge. Orwell setzt ich zum Beispiel essayistisch mit der Person Hitlers auseinander, in dem er einen Monomanen sieht. Ganz besonders gelungen ist seine Besprechung eines Buches von Thomas Mann, die ein sehr schönes Beispiel für die Schreibkunst und das zugrundeliegende Verständnis George Orwells ist.

George Orwell: Reise durch Ruinen
Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff
C.H. Beck 2021
Hardcover 111 Seiten
ISBN: 978-3-406-77699-1

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Autor Andreas Fischer ist ein ganz besonderes Buch gelungen, kein Roman im eigentlichen Sinne, aber ein großer Wurf aus meiner Sicht. Cover eschen4verlag, Bild mit Canva erstellt.

Vier Wochen brauchte es nur, um von »Heil unserem herrlichen Führer« zu »Es ist grauenhaft.« zu gelangen. Zwei Zitate aus Feldpostbriefen, jene Schreiben, die von den Soldaten der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges an ihre Lieben daheim geschrieben wurden. Günther heißt der Urheber, der Anfang Dezember 1941 voller begeisterter Erwartung endlich Richtung Ostfront in Marsch gesetzt wird, um dort von der Kriegsrealität blitzartig ernüchtert zu werden. Zwei Tage später ist er schon tot.

Diese beiden Schreiben finden sich in der Mitte des grandiosen Buches Die Königin von Troisdorf, sie bilden das Gravitationszentrum des gesamten Themas, das Andreas Fischer aufarbeitet. Er hat sein Werk als Roman bezeichnet, tatsächlich finden sich auch fiktionale, erzählende Passagen inmitten der vielfältigen Erinnerungsimpressionen und Dokumenten wie Briefen und Postkarten; Fotos spielen im Text eine besondere Rolle, abgebildet sind keine – das geniale Cover-Motiv bleibt solitär.

Fischer lässt seine Passagen munter durch die Zeit springen, er wählt einen nüchternen, sachlichen Rahmen, indem er jeden Abschnitt mit Jahreszahl beginnt, oft gefolgt von einer Ortsangabe und einem oder mehreren kleinen Sätzen. Bei den Dokumenten geht der Autor noch einen Schritt weiter, beschreibt Papier, Form, Poststempel, Briefmarke, Schrift und gibt weitere Erläuterungen zu dem, was folgt. Schreiben als Sezieren.

1961.
Troisdorf.
Ich bin einige Wochen alt.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Diese Form ist eine brillante Entscheidung. Sie distanziert das Geschilderte und verhindert, dass Inhalt und Thema in einem überemotionalen, gefühlstriefenden Morast versinken. Der Leser wird auch genug durchgerüttelt, denn was Andreas Fischer zu berichten hat, führt in ein finsteres Tal, das er als Kind durchschreiten musste. Die Verlierer des Verwüstungskrieges haben ihre Wut an der nächsten Generation ausgelassen; und der übernächsten – unmittelbar oder mittelbar.

Der Vater des Autors ist selbst Soldat gewesen, er hat im Gegensatz zu dem zitierten Günther und dem eigenen Bruder Herbert das große Schlachten überlebt, obwohl es ihn am Ende sogar noch in den Strudel der Ardennenoffensive gerissen hat. Die Person, die abends von der Arbeit ausgelaugt am Küchentisch sitzt, raucht und säuft, den alten Ideologien, Verschwörungserzählungen und Feindbildern treu geblieben ist, lässt sich kaum in Einklang bringen mit dem, was an anderer Stelle über ihn zu lesen ist: charmant, wissbegierig, sprachgewandt, freundlich, offen. Frauentyp.

Was hat diesen krassen Wandel bewirkt? Was diese unsäglich Ehe initiiert? Vater Reinhold verhält sich höchst befremdlich und wechselhaft gegenüber Andreas, Mutter und Großmutter, die er »Hindenburg und Ludendorff« oder »Kaltmamsellen« nennt, sind ihm gegenüber von einer gleichbleibenden Kälte. Ein ungeliebtes, verachtetes, unerwünschtes Kind, einer »von seiner Sorte« reiche, heißt es. Es wirkt keineswegs übertrieben, wenn Andreas glaubt, in ihren Augen wäre er ein »Drecksack« und seine (Un-)Taten wären «Verbrechen«.

Jeder Protest, jedes Aufbegehren verhallt.
Hindenburg und Ludendorff kennen keine Gnade.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Wie kann man in einer solchen Umgebung aufwachsen? Wie überleben? Eine weitere, große Stärke des Buches liegt darin, dass es – auch dank der Form – nicht in eine rauschhafte Abrechnung oder gar einen rasenden Amoklauf des erinnerten Schmerzes abgleitet, sondern den Lichtblicken Raum gibt. Andreas hat seine Tante Hilde, und – vom haltlosen Jähzorn abgesehen – durchaus auch seinen Onkel Bruno, der ihn zwar einmal fürchterlich verprügelt, aber im Grunde auch respektiert.

Es gibt in der Kälte durchaus wärmende Momente, auch sein Vater hat einige positive Erinnerungen hinterlassen. Das väterliche Meisterstück bestand darin, seinem fünfzehn Jahre alten Sohn den Auszug in eine Art Schutzraum zu gestatten – mit seiner Hilfe baut sich dieser den Dachstuhl in jenem Haus aus, in dem das familieneigene, gut laufende Fotoatelier untergebracht ist. Dort verbringt er seine Tage, irgendwann auch die Nächte und entzieht sich dem kontrollierenden Zugriff von Oma und Mutter.

Vater Reinhold hat Andreas’ »Testament« gefunden, eine achtseitige Abrechnung, verfasst anlässlich aufkeimender Suizid-Gedanken, und aus diesem alarmierenden Fund eine bemerkenswerte Schlussfolgerung gezogen. Sie steht in Kontrast zu jenem alltäglichen Wüten, zum Beispiel als der Sohn in der Schule mit den Abgründen des Vernichtungskrieges konfrontiert wird: Reinhold leugnet die Fakten rundherum ab, diffamiert sie als alliierte Propaganda und stellt eine rechtsextreme Verschwörungserzählung dagegen.

Andreas hat das große Glück, dass er an eine vernünftige Lehrerin gerät, die ihn zunächst den Unsinn vortragen lässt, ehe sie ihm ruhig widerspricht; eine Bibliothekarin, die ihn mit der nötigen Literatur über den Holocaust versorgt, sodass er sich selbst ein Bild machen kann; einen Geistlichen, der ihm eine Erklärung dafür liefert, warum sein Vater eine Lüge der Wahrheit vorzieht. Am Ende steht eine eigene Meinung, die im Gegensatz zu dem väterlichen Nonsens steht. So geschieht Bildung, gedeihen Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit, das Pendant zum emotionalen Rettungsanker.

Der Hass meiner Oma auf mich durchzieht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach wie ein bestialischer Gestank, dessen Quelle nicht zu orten ist. Ich bin zu klein, um Überlegungen anzustellen, wo die Ursache liegen könnte. Der Gestand ist völlig normal, ganz selbstverständlich gehört er zu meiner Welt wie das Geschäft meiner Eltern, das weiße Schulgebäude und Vaters Schnapsflasche im Kühlschrank.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern sind gestört und im Grunde kaputt. Andreas Fischer stellt viele Fragen, ohne unbedingt eine Antwort zu geben oder auch nur zu versuchen. Was für ein Glück, denn so bleibt es dem Leser überlassen, selbst nach welchen zu suchen – oder auch nur zu lesen. Dankbarerweise verzichtet der Autor auch auf die Niederungen jeder Gut/Böse-Verschlichtung, die Widersprüche sind klar und bleiben unaufgelöst.

Dieses Buch ist auch ein ganz wunderbares Beispiel dafür, wie ein Inhalt seine passende Form gefunden hat. Man kann fast dankbar sein, dass der Autor keinen Verlag gefunden hat, der ihn möglicherweise genötigt hätte, seine Lese-Kost zu einem gefälligen, leicht verschlingbaren Literaturbrei zu pürieren; der Inhalt verlangt geradezu nach einer sperrigen Form. So ist Die Königin von Troisdorf ein großer, geradezu royaler Wurf.

Wer eine Zweitmeinung zu dem Roman einholen möchte, den verweise ich gern auf die sehr gelungene, ausführliche und etwas anders fokussierte Buchbesprechung auf dem generell empfehlenswerten Blog: Horatio-Bücher.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf
eschen 4 verlag 2022
Hardcover 473 Seiten
ISBN: 978-3-00070-369-0

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter

Diese Familiengeschichte des niederländischen Autors hat es in sich, es ist eine atemlos voranschreitende Erzählung voller Wendungen und Konflikte. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

»Verhältnis« – ein wunderbares, vielschichtiges Wort. Es kann die Beziehung zwischen Menschen bezeichnen, im Plural dient es dazu, die allgemeinen Lebensumstände zu benennen, schließlich steckt noch das Verhalten darin, das mehr oder weniger dazu beiträgt, die Verhältnisse zu beeinflussen und umgekehrt. Außerdem wird es oft mit einer außerehelichen Liebschaft gleichgesetzt.

All das findet sich in diesem Buch von Alexander Münninghoff. Die Verhältnisse sind auf allen Ebenen verwickelt, verworren, atemberaubend wechselhaft und von der ersten bis zur letzten Seite spannend und vor allem dynamisch. Der Stammhalter hält den Leser bei der Stange, es ist ein Pageturner ohne Action, man kann sich nur schwer lösen.

»Schwarz und bedrohlich glänzend, auf der einen Seite ein schwarz-weiß-rotes Emblem und auf der anderen zwei grellweiße Blitze.«

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter

Ich werde erst gar nicht den Versuch unternehmen, so etwas wie eine inhaltliche Zusammenfassung zu bieten – das bliebe in allen denkbaren Fällen unzulänglich.

Schwerpunkt und Kern ist der Zweite Weltkrieg, denn dieses epochale Gemetzel auf dem europäischen Kontinent hat für die Familie des Autors dramatische Folgen. Sie ist im Baltikum, in Riga ansässig, dort reich geworden und Teil der gehobenen Gesellschaft. Deutsche, Schweden und Niederländer bilden die wirtschaftliche (und politische) Elite, die Letten sind das Fußvolk – wenn man die gesellschaftlichen Verhältnisse stark vergröbert zeichnet.

Dank des Hitler-Stalin-Paktes geraten die baltischen Staaten unter den Einfluss der brutalen Sowjetmacht, die 1940 mit militärischen und polizeilichen Mitteln die Eigenstaatlichkeit der baltischen Länder beendet und jeden, der nicht in ihr politisch-ideologisches Konzept passt, tötet, inhaftiert oder verschleppt. Eine traumatische Erfahrung, bis in unsere Tage wirkt das Echo in den wieder selbstständigen Staaten nach.

Für die Familie des Autors geht die Katastrophe glimpflich aus. Der »Alte Herr« Joannes, also der Großvater von Alexander (Bully), ist weit über die Landesgrenzen hinaus bestens vernetzt, wodurch er drei Tage vor dem Angriff der Wehrmacht auf Polen davon aus Berlin erfährt. Da er auch von Hitlers und Stalins Teufelspakt weiß, kann er Schlimmeres verhindern und die Seinen sowie einen Teil des Vermögens in Sicherheit bringen. Die Niederlande, aus der er ursprünglich ausgewandert ist, wird zur neuen (alten) Heimat auserkoren.

Sehr zum Verdruss von Frans: Der Sohn von Joannes und Vater von Alexander hasst die Niederlande, in die ihn der »Alte Herr« mit brachialen Methoden hineinzwingen will. Das geht gründlich schief, Frans wendet sich Deutschland zu, tritt der Waffen-SS bei, nimmt am Feldzug im Osten teil, wird mehrfach verwundet und ausgezeichnet und überlebt, weil er trotz seiner tief empfundenen Kameradschaft und Treue im Herbst 1944 schließlich desertiert.

»Das wahre Gesicht des Krieges, wie es sich mir in der halbdunklen Diele vor der Treppe in Hans’ Elternhaus zeigte, macht kopflos.«

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter

Sein Vater laviert zwischen den Fronten. Die SS-Mitgliedschaft seines Sohnes und dessen Kampf an der Ostfront nutzt er während der Besatzungszeit für gute Beziehungen zu den Deutschen, während er gleichzeitig mit dem britischen Geheimdienst und Widerständlern Kontakte unterhält, ja selbst tätig wird; das Geschäft läuft derweil trotz des Krieges weiter – nach dem Krieg nutzt er die schwarzuniformierte Vergangenheit Frans’, um diesen unter Druck zu setzen.

Damit ist nur eine von vielen, einander überlagernden, miteinander verwickelten und nicht enden wollenden Konfliktlinien in dieser Familie genannt, wenn auch eine wesentliche: Die Auseinandersetzung zwischen dem erfolgreichen und völlig skrupellosen bzw. gefühlskalt-egoistisch agierenden Tycoons und seinem Sohn um die gewünschte und passende Identität.

Während Frans durch seine Kollaboration in Schwierigkeiten gerät, wird Enkel Alexander zum Stammhalter erwählt und auf rabiate Weise in Position gebracht. Unnötig zu sagen, dass auch am Ende alles mehr oder weniger scheitert, die hochfliegenden Pläne zerschellen an den Verhältnissen im eingangs genannten Sinne. Es wird geliebt, gehasst, fremdgegangen, geprasst, in großer Not gelebt, geflohen, betrogen und intrigiert – ein turbulenter Strudel an Ereignissen, denen der Leser folgen darf.

»Bei uns wurde ein Deutsch der Höflichkeit und Sanftmut gesprochen, eine Sprache, von der man sich gut vorstellen kann, dass sie sich auch für tiefschürfende Gedanken und Poesie eignet, nicht nur für Kriegshetze und Propagandagedröhn. In meiner Erinnerung ist die deutsche Sprache, die auch meine erste war, ein zärtliches Säuseln, ein leises Flüstern, denn es kam ja aus dem Mund meiner Mutter.«

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter

Münninghoff zeichnet auch das Bild einer untergegangenen Welt. Eigentlich müsste man Welten sagen, denn der Zweite Weltkrieg hat davon eine ganze Reihe in den Abgrund gestürzt, aus dem sie nie wieder hervorkommen werden. Neben vielem anderen unterscheidet auch das einen Familienroman wie Der Stammhalter von TV-Serien-Schund, denn wie vor 1939 die unwiederbringlichen, heute unvorstellbaren europäischen Verflechtungen aussahen, wird hier auf wunderbare Weise erlebbar. Außerdem gilt für beinahe alle und alles in diesem Buch: »Doch es wurde nichts mehr gut.«

[Rezensionsexemplar]

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
C.H. Beck-Verlag 2023
Taschenbuch 334 Seiten
ISBN: 978-3-406-79624-1

Eine Begegnung im Sommer 1944

Im preisgekrönten Roman Die französische Kunst des Krieges von Alexis Jenni gibt es eine Schlüssel-Szene, die mir seit dem ersten Lesen unvergessen geblieben ist.

Frankreich 1944: Ein französischer Widerstandskämpfer und ein deutscher Offizier stehen sich gegenüber. Zwei Meter trennen sie, unüberwindliche zwei Meter, nicht zuletzt wegen des Stacheldrahts. Der Deutsche ist der Gefangene, der Franzose sein Bewacher. Zwei Antagonisten, wie man sie aus hunderten von Büchern und Filmen kennt, eine saubere Trennung nach Gut und Böse. Einfach und schön.

Doch so einfach ist es nicht, glücklicherweise, sonst wäre der Literatur eine Textstelle entgangen, die für mich ein Schlüsselmoment darstellt. Sie entstammt dem genialen Roman Die französische Kunst des Krieges von Alexis Jenni, der den Leser in ein Spiel mit Antagonismen hineinzieht, an dessen Ende diese augenscheinlichen Klarheiten gewichen sind.

Der Franzose und der Deutsche kennen sich von einer Begegnung aus dem Jahr 1943. Der Offizier hat den Vater des Widerständlers, der einen Laden unterhält, trotz seiner Schwarzmarktaktivitätn davonkommen lassen. Warum er das getan habe, erkundigt sich der Franzose. Alle hätten Schwarzhandel betrieben, den einen hätte er bestraft, den anderen eben nicht, meint der Deutsche.

Willkür, mit achselzuckender Gleichgültigkeit eingestanden.

Das ist erst der Auftakt, denn der Offizier war bei einer Aktion beteiligt, bei der ein ganzes Dorf ausgelöscht wurde. Jedem historisch halbwegs Informierten wird der Name Oradur sûr Glane etwas sagen, diese brutalte Vernichtungsaktion war keineswegs das einzige Verbrechen dieser Art in Frankreich.

Der Deutsche erklärt, das man Terror ausgeübt habe, um gegen den Maquis vorzugehen. Eine »militärische Taktik« sei das, die gezielt die Zivilisten ins Visier nähme, um Schrecken zu erzeugen – allein Maquisarden zu töten würde nicht reichen. Ein »raffiniertes Instrument«, um den Partisanen die Unterstützung zu unterziehen  – durch »unpersönlichen Terror«.

Bis zu diesem Punkt ist alles bekannt und gewöhnlich – doch das ändert sich schlagartig und macht diese Textstelle zu einem Schlüssel des gesamten Buches, für mich auch darüber hinaus.

Der Deutsche erkundigt sich, was der Franzose an seiner Stelle getan hätte. Der wehrt die Frage lakonisch ab, in dem er darauf verweist, das er eben nicht an der Stelle des Deutschen gewesen sei. Er habe alles getan, um nicht an seiner Stelle zu sein.

Eine Haltung, die auch von Nachgeborenen in abgewandelter, angepasster Form vorgetragen wird, sie findet in der Formulierung von der »Gnade der späten Geburt« oder dem briefeschreibenden Sofapazifismus ihren Niederschlag. Mit diesem Kniff ist man auf der Seite der Guten.

»Das Rad dreht sich, junger Mann.«

Alexis Jenni: Die Französische Kunst des Krieges

So lautet die Antwort des Deutschen. Sie ist zunächst einmal nichts anderes als eine bildliche Umschreibung, dass die Geschichte nicht stehenbleibt, sondern weitergeht. Eben noch Herr gewesen, jetzt Gefangener, eben noch derjenige, der über das Schicksal entscheidet, jetzt im Ungewissen über das eigene Schicksal, über das von anderen entschieden wird. Der Franzose hat den Platz des Deutschen eingenommen.

Es ist ein Rollentausch, der – nach Ansicht des Offiziers – durchaus die Möglichkeit beinhaltet, eben auch in anderer Hinsicht an seine Stelle zu treten, wenn der Franzose wie er selbst zuvor »für Ordnung sorgen«, also die gleichen schrecklichen Dinge tun oder anordnen müsse.

Das ist eine Warnung, eine Prophezeiung – wir müssen nicht so tun, als kennten wir nicht den Gang der Geschichte: Indochina. Algerien. Orte des Schreckens, an denen Franzosen fürchterliche Dinge getan und Verbrechen begangen haben. Ihre Gegner, das soll nicht verschwiegen werden, auch.

Der Deutsche hat noch einen Ratschlag parat.

»Das Rad dreht sich. Nutzen Sie Ihren Sieg aus, Ihren noch ganz neuen Sieg, nutzen Sie den schönen Sommer aus. 1940 war das schönste Jahr meines  Lebens. Danach war es nicht mehr so schön. Das Rad dreht sich.«

Alexis Jenni: Die französische Kunst des Krieges

Indochina und Algerien sind die Orte, an denen sich diese Prophezeiung verwirklicht, denn die Ereignisse dort waren alles andere als »schön«. Zu diesem Zeitpunkt weiß der Leser des Romans längst, was in Algerien geschehen ist, von jenem Blutzoll unter Zivilisten, er weiß, dass hier tatsächlich eine Art Stabwechsel vollzogen wird.

Eben noch Opfer, dann Sieger und wenig später Täter.

Das Motiv der Ordnung, für die gesorgt werden muss, der Rollentausch von Herr und Knecht, Sieger und Besiegtem ist eine Art Stabwechsel. Interessanterweise ist mir dieses Motiv  jüngst in einem anderen Roman schon einmal begegnet, wenn John Glueck in Steffen Kopetzkys Propaganda die amerikanische Armee durch den Kampfkontakt mit der  deutschen Wehrmacht selbst ein wenig in diese Richtung driften sieht – mit verheerenden Folgen, nämlich in Vietnam.

Was also bleibt von jenem schönen, einfachen, gefälligen und äußerst bequemen Antagonismus, von dem anfangs die Rede war? Er löst sich auf, die klaren Konturen verschwimmen. Die Prophezeihung des deutschen Offiziers, dass die Freude über den militärischen Sieg von kurzer Dauer sein und ein Rollentausch erfolgren könnte, hat sich als richtig erwiesen.

Alexis Jenni geht noch einen Schritt weiter: Er stellt seiner Hauptfigur, dem Franzosen Victorien Salagnon, im Verlauf der Handlung zeitweise einen anderen Deutschen zur Seite, der mit ihm in Indochina  gegen den Vietminh kämpft. Eben noch Feind, nun Waffenbruder in einem brutalen, ungerechten und dummen  Kolonialkrieg, in dem die Franzosen von den Vernichtungskriegern adaptieren, wie man Terror gegen die Zivilbevölkerung einsetzt.

In Algerien haben sie dann eine eigene Kunst des Krieges entwickelt; Krieg und Kolonie gehen dennoch verloren. Alexis Jenni betreibt damit keineswegs eine Form der Verharmlosung von Verbrechen, die in der NS-Zeit in den von der Wehrmacht eroberten und besetzten Ländern verübt wurden; ganz im Gegenteil. Er verweist darauf, dass Geschichte nichts Statisches ist, die Rollen werden immer wieder neu verteilt.

© 2023 Alexander Preuße

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