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Volker Kutscher: Marlow

Ein großartiger Kriminalroman vor einer bedrückenden historischen Kulisse ist Volker Kutscher mit »Marlow« gelungen, dem siebten Fall von Gereon Rath. Cover Piper, Bild mit Canva erstellt.

Den Lesern der Romanreihe um den Kriminalkommissar Gereon Rath ist der Name Marlow natürlich bekannt. Dr. M, Unterweltboss in Berlin, undurchsichtig, durchtrieben, gnaden- und gewissenlos agierend, wobei er sich korrupter Polizisten bedient, um seine Ziele zu erreichen. Eines seiner besonderen Kennzeichen ist jener Chinese, der ihm als Chauffeur dient.

Wenn der siebte Teil der Reihe nun den Namen des Gangsters als Titel trägt, weckt das einige Erwartungen. Aus dem Vorgängerband klingt noch das Echo der Ereignisse nach, die Rath an und über seine Grenzen gebracht haben, ein erbarmungsloses und brutales Machtspiel hat ihn in die Enge getrieben, aus der er nur mit Mühe herausgekommen ist.

Rath hat beruflich und privat Federn gelassen und feststellen müssen, dass seine Beziehungen zur Unterwelt mindestens ebenso problematisch sind wie die neuen Spielregeln unter dem Hitler-Regime. Andere kommen mit den politischen Umwälzungen unter den Nazis besser zurecht. Johann Marlow tatsächlich noch nicht aus dem Spiel zu sein.

Ist er auch nicht, so viel darf an dieser Stelle wohl verraten werden. Um den Namen „Marlow“ hat Kutscher eine wirklich schöne Geschichte gesponnen, die zurückreicht in den Ersten Weltkrieg und die koloniale Zeit davor, als Deutschland in Afrika, dem Pazifik und eben auch China koloniale Gebiete besaß. Der Chinese in Marlows Fahrdienst ist nicht vom Himmel gefallen, das „Doktor“ vor dem »M« auch nicht.

Bei den Sanitätern kennt man den Tod nur als den der anderen.

Volker Kutscher: Marlow

Jeder habe seine Geschichte, heißt es immer, wenn es darum geht, eine Erklärung für Verhaltensweisen von Menschen zu finden. Das gilt auch für Romanfiguren wie Marlow, dessen Härte auf Zeiten zurückgeht, die im historischen Bewusstsein der Gegenwart gar keine Rolle mehr spielen. Wer weiß denn noch, wie deutsche Freikorps im Baltikum nach 1918 gewütet haben?

Es gehört zu den wunderbaren Eigenschaften der Romane um Gereon Rath, dass der Leser immer wieder mit diesen halb vergessenen historischen Umständen konfrontiert wird, ohne dass der Kriminalroman zu einer drögen Geschichtsstunde ausartet. Marlow erzählt davon, wie jemand in der Schmiede aus Krieg, Landsknechtdasein, grausamer Disziplin und emotionaler Kälte zu einem brutalen Ganoven wird.

Aus den vielschichtigen Spiel und Gegenspiel des Vorgängerbandes Lunapark ist die Hauptfigur Rath nicht unbeschadet hervorgegangen, das gilt auch für seine Frau Charlotte und in gewisser Hinsicht auch für ihren Pflegesohn Friedrich. Erfreulicherweise ist es Kutscher gelungen, das fortzuschreiben.

Ein subalterner Kollege blafft Rath ungewohnt offen wegen seiner Art an, seine Sekretärin sagt ihm daraufhin die Meinung, was bislang vor allem seine eigene Frau getan hat. Das setzt sich in Marlow auch fort, allerdings nimmt die Schärfe zu. Deutschland ist ein Unrechtsstaat, gelenkt von Verbrechern, viele suchen das Weite, andere beginnen, die Möglichkeit zu erwägen, um der sich ausbreitenden Dunkelheit zu entfliehen.

Einer musste es Ihnen ja mal sagen.

Volker Kutscher: Marlow

Rath wird am Anfang der Erzählung zu einem Verkehrsunfall gerufen, eigentlich ein Fall für weniger qualifiziertes Polizeipersonal, doch ein Unfallzeuge behauptet, es habe ein Mordversuch auf ihn stattgefunden. Zur Klärung wird der in Ungnade gefallene Kommissar Rath ausgewählt, eine undankbare Aufgabe.

Dank leichtfertiger Neugier unterläuft ihm jedoch ein Lapsus, denn der angebliche Unfall war keiner, wie der Leser schon im Prolog erfährt, aber auch nicht der vom übereifrigen Zeugen vermutete Mordanschlag, sondern eine gezielte Tötung. Ein Zufallsfund brisanter Dokumente im schrottreifen Auto bringt Rath in eine unschöne Lage, die er zunächst einmal mit einem Trick bereinigen kann.

Ein Irrtum, wie sich zeigt, denn der Kommissar wird immer tiefer in eine lebensgefährliche Auseinandersetzung zwischen Himmlers SS / SD und Göring verwickelt. Bei der Ausschaltung der SA zogen die Kontrahenten noch an einem Strang, doch im NS-Deutschland kämpfen die Ränge hinter Hitler um die Macht, ein Konflikt der neuen Eliten, der ohne jede Gnade mit größter Rücksichtslosigkeit geführt wird.

Die erste Ahnung, etwas falsch gemacht zu haben, überkam ihn, als er den Aufdruck »Geheime Reichssache« auf den beiden Aktenmappen las, die er aus dem braunen Umschlag zog.

Volker Kutscher: Marlow

Rath versucht auch hier lange Zeit, sich durchzulavieren, was jedoch schwieriger wird, weil die Skrupellosigkeit seiner Gegenspieler die Spielräume schrumpfen lässt. Nolens volens muss er  nach Nürnberg fahren, der Stadt der Reichsparteitage und pompösen Aufmärsche, um eine haarsträubende Wiederbeschaffung der Akten durchzuführen, notdürftig getarnt vom Besuch seines Sohnes Friedrich, der mit der Hitlerjugend dorthin marschiert ist.

Dabei macht Rath eine erschütternde Erfahrung, als er Zeuge wird, wie Hitler im Auto an Spalier stehenden Volksmassen vorüberfährt und alles in ekstatischen Jubel ausbricht – der eigentlich unpolitische Kommissar wird davon mitgerissen. Eine gespenstische Szene, die so gut gelungen ist, dass der Leser den gewaltigen Sog zu spüren glaubt, dem sich der Protagonist nicht entziehen kann.

Er reißt wie alle anderen den Arm in die Höhe, immer wieder, »und dann hörte er, wie das Wort »Heil!« aus seinem Mund kam.« Rath versteht die Welt und vor allem sich selbst nicht mehr. Niemand hat ihn dazu gezwungen, den blutigen Gruß zu entbieten, niemand auf ihn geachtet, denn der vorüberfahrende Hitler hat alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie ein Schwarzes Loch im Weltall alles Licht. Trotzdem hat Rath sich hinreißen lassen.

Er, Gereon Rath, der in Berlin den Deutschen Gruß verweigerte und verschlampte, wo immer das nur möglich war, stand hier in Nürnberg am Straßenrand und riss getragen von der Masse und ihrem Rhythmus in einem fort den rechten Arm hoch.

Volker Kutscher: Marlow

Der NS-Staat etabliert sich, durchdringt auf propagandistische oder gewaltsame Weise den Alltag der Deutschen, die sich ihm immer schwerer entziehen können. Das ist möglicherweise die eigentliche Geschichte, die Kutscher en passant erzählt. Dabei sind die Ereignisse schwerwiegende genug, denn auch Charlotte Rath ist als Privatermittlerin und Anwaltsgehilfin mit Fällen befasst, die von der dunklen Zeit bestimmt werden.

Vor allem aber holt Charly die eigene Vergangenheit ein, denn die ist mittelbar mit dem Fall Raths eng verwoben, aber auch mit dem, was der ehemalige Oberkommissar und jetzige Privatermittler Böhm mit sich herumträgt – die „Kellergeister“, Fälle, die Polizisten nicht wieder loslassen wollen. Alles verstrickt sich immer weiter ineinander, dank der Umstände und schrumpfenden Spielräume ist eine „Lösung“ ferner denn je.

Auch Gereon Rath hat seine Kellergeister – einer davon ist Johann Marlow, der ihn seit vielen Jahren als nützlichen Polizisten schmiert und für seine Zwecke ausnutzt; davon hat auch Rath etwas, oft war ihm der Kontakt in die Unterwelt hilfreich. Die Nazis haben eigentlich dem Verbrechen den Kampf angesagt, doch kann ein Verbrecherregime, das seine Gegner in Mafia-Manier liquidiert, ernsthaft dieses Ziel verfolgen?

Was Rath da in seinen Händen hielt, war eine akkurat auf den Bügel gehängte SS-Uniform.

Volker Kutscher: Marlow

Das ist die übergeordnete Frage, die sich bei der Lektüre immer wieder stellt. Kann man überhaupt »anständig« bleiben in einem verbrecherischen System? Kann man sich darauf zurückziehen, nur Polizist zu sein, kein Nazi? Rath hat in Nürberg eine erschütternde Antwort bekommen, aber auch Böhm, Gennert und Charlotte müssten sich diese Frage stellen. Geben sie sich nicht einer Illusion hin?

Johann Marlow jedenfalls hat einen sehr konsequenten Weg beschritten, sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren. Kurioserweise war er bereits außer Landes, doch hat er in den USA nicht reüssieren können und ist zurückgekehrt. Auf seine Weise profitiert er vom Unrechtsstaat, gewissen- und skrupellos, wie er ist. Dabei gerät er mit Gereon Rath aneinander, eine Zweckgemeinschaft zerbricht und es wird für den Protagonisten höchst bedrohlich.

Da noch drei weitere Romane folgen, ist es keine Überraschung, dass Rath am Ende davonkommt. Mit heiler Haut? Wohl kaum. Kutscher inszeniert das Finale von Marlow mit einem tollen erzählerischen Kniff, der diebische Freude aufkommen lässt, bis ganz am Ende das böse Erwachen folgt. Eigentlich möchte man nichts mehr, als sofort in den nächsten Band einzutauchen – doch das ist schon der drittletzte und der letzte lässt wohl noch auf sich warten. Also: Geduld.

Weitere Romane der Buchreihe:
Volker Kutscher: Die Akte Vaterland.
Volker Kutscher: Märzgefallene.
Volker Kutscher: Lunapark.

Volker Kutscher: Marlow
Piper Verlag 2018
Gebunden 518 Seiten
978-3492055949

Göttinger Literaturherbst 2023 – Nachlese

Fünf Bücher kann ich ohne Bedenken empfehlen, eines interessiert mich nicht und eines war eine Enttäuschung. Ein wenig Festspielatmosphäre, tolle Veranstaltungsorte, gute Lesungen mit interessanten Autoren und überwiegend guten Gesprächspartnern.

Der Applaus klingt noch im Ohr: Gerade erst habe ich die Veranstaltung mit Bonnie Garmus verlassen, die mit ihrem Roman Eine Frage der Chemie einen Bestseller gelandet hat. Das Buch kenne ich nicht und werde es auch nicht lesen, mich hat vor allem interessiert, wie eine Lesung verläuft, wie die Kommunikation funktioniert, Moderatorin und Vorleserin ihre Aufgabe lösen und das Publikum reagiert. Das war sehr aufschlussreich.

Ich bin zu insgesamt acht Veranstaltungen gegangen, was den Festival-Charakter des Göttinger Literaturherbst in Spurenelementen erlebbar machte. Das gilt besonders für den Freitagabend vorletzte Woche, als ich zunächst Daniel Kehlmann für Lichtspiel und direkt im Anschluss Andrej Kurkow mit Samson und das gestohlene Herz erleben durfte. Zwei Lesungen direkt nacheinander – geht das? Ja, ganz prima sogar.

Zweimal bin ich unvorbereitet zu einer Lesung aufgebrochen, im Falle von Ralf Rothmann an seinem Buch Die Therorie des Regens durchaus interessiert, was sich nach der Lesung jedoch erledigt hatte. Einen Roman werde ich von dem Autor sicher lesen, Im Frühling sterben steht schon im Regal bereit. Die Lesung war dennoch alles andere als eine Enttäuschung, Gespräch und Vortrag haben unterhalten, es gab kluge Fragen seitens des Gesprächspartners und aus dem Publikum.

Das ist ein gutes Stichwort, denn bei der Lesung von Andrej Kurkow wirkte der Gesprächspartner – nun, sagen wir: indisponiert. Das Gespräch versandete im Nebel des Ungewissen – glücklicherweise hatte das Publikum Fragen, die wie ein kommunikativer Rettungsring wirkten. Die Nachfragen erlaubten dem sehr sympathischen und gut Deutsch sprechenden Autor viel zu erzählen – auch zu anderen Romanen, von denen ich mir gleich einen gekauft habe. Graue Bienen, die wenigen Worte, die Kurkow darüber verloren hat, klangen sehr interessant.

Leichtigkeit heißt nicht oberflächlich

Leichtigkeit prägen Kurkows Samson-Romane wie auch Kehlmanns Lichtspiel, in Steffen Schroeders Planck – oder wie das Licht seine Leichtigkeit verlor, ist das Wort sogar Teil des Titels. Ganz besonders trifft es auch auf den Roman Aufklärung von Angela Steidele zu, wenngleich der Titel auf sperrige Kost schließen lässt. Mehrfach wurde thematisiert, wie die Schriftsteller ganz planmäßig versucht haben, die Lesbarkeit durch Elemente der Leichtigkeit zu erhöhen.

Aber Leichtigkeit ist nicht mit oberflächlich zu verwechseln! Leider habe ich bei mehreren Besprechungen und Rückmeldungen zu einigen Romanen schon merken müssen, dass zu leichtfertig, vielleicht auch zu flüchtig gelesen wurde. Das ist schade, denn die Leichtigkeit gibt dem Leser den nötigen Raum, um über die schweren Dinge der Handlung nachzudenken – das gilt für dieses Quartett, das ich nachdrücklich zur Lektüre empfehlen möchte.

Das gilt auch für den Brocken von einem Buch namens Der Frühling der Revolution von Christopher Clark. Der Historiker beleuchtet die Revolution von 1848/49 aus einer gesamteuropäischen Sicht, was eine Menge neuer Sichtweisen und Erkenntnisse öffnet, darunter einige hochspannende, die Revolutionsträumer wie eine kalte Dusche ernüchtern sollte. Sklavenbefreiung – eine gute Sache, aber mehr als ein Teufel steckt im Detail, zum Beispiel, wenn die Sklavenhalter gar keine Weißen sind, sondern Schwarze bzw. Angehörige einer Mischbevölkerung.

Eine Enttäuschung gab es auch: Felicitas Moklers Vortrag über das hochspannende Thema Kosmologie schöpfte wie ihr Buch nicht aus, was möglich wäre. Kurioserweise fehlt es an sprachlicher Präzision, didaktisch ansprechender Struktur und thematischer Verflechtung. Ich lese ihr Buch trotzdem, denn für meine Intention ist es durchaus geeignet: Ausloten, wo die Grenzen meines Verstehens sind.

Alles in allem bin ich sehr zufrieden und hoffe auf ein ähnlich gutes Programm im kommenden Jahr.

Göttinger Literaturherbst 2023

Meine glorreichen Sieben – das sind die Veranstaltungen des Göttinger Literaturherbstes 2023, auf die ich mich am meisten freue. Das Programm ist in diesem Jahr großartig, vielleicht schaue ich mir noch die eine oder andere Sache zusätzlich an, denn – von der ewig-hässlichen Stadthalle (brrr) einmal abgesehen – gibt es viele sehr schöne, atmosphärische Veranstaltungsräume.

Heute beginnt für mich der Göttinger Literaturherbst 2023 mit einer zweifellos großartigen Veranstaltung: Der Historiker Christopher Clark spricht über die Revolution von 1848/49 in Europa – womit das Thema aus seinen nationalen Brutkästen geholt wird. Clark hat ein voluminöses Buch zu dem Thema verfasst, das Frühling der Revolution betitelt ist. Wie in seinen berühmten und diskutierten Die Schlafwandler wird der Leser mit neuen Perspektiven konfrontiert, los geht es mit der Revolution in – nein, nicht Paris – Palermo (nach einem Vorspiel in der Schweiz).

Es ist das einzige historische Sachbuch meines persönlichen Programms, das – wie man sieht – vier Romane, ein historisches und ein naturwissenschaftliches Sachbuch sowie ein Kompendium mit einem sehr persönlichen Zugang zum Thema Schreiben umfasst.

Thematisch geht es historisch-politisch zu. Aufklärung von Angela Steidele ist zum Glück kein Buch über die Abgründe des Sexualkundeunterrichts, sondern führt den Leser ins 18. Jahrhundert, ein Historischer Roman, auf den ich mich sehr freue (danke noch einmal an Marius Müller von Buch-Haltung für die schöne Besprechung).

Andrej Kurkow lässt seine Helden Samson und Nadjeschda durch die blutigen Wirren des »Bürgerkriegs« im Gefolge des Ersten Weltkrieges in Kyjiw (Kiew), Ukraine, taumeln. Dabei ist es ihm in seinem ersten Teil gelungen, die Gewalt anklingen zu lassen, ohne in Voyeurismus zu verfallen; stattdessen wählt er einen plüschigen Ton, was die Ereignisse nicht weniger grausam, aber erträglicher gestaltet. Auf den zweiten Teil bin ich sehr gespannt – den werde ich allerdings erst im Anschluss lesen können.

Der Roman Lichtspiel von Daniel Kehlmann lässt den Leser am bewegten Leben des Regisseurs W.G. Pabst und zahlreichen anderen Zeitgenossen teilhaben. Schon das erste Viertel des Romans zeigt, was Kehlmann gelungen ist: Er hat eine leicht lesbare (laut Wolfgang Herrndorf eine unterschätzte literarische Qualität) und wirksame sowie angemessene Erzählform gefunden, ohne ins Seichte abzugleiten. 

Das lässt sich auch über Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor von Steffen Schroeder sagen, der den Leser in die Zeit führt, zu der das Hitlerreich in den Todeskampf eintrat und sich seine Monstrosität nach dem gescheiterten Attentat Stauffenbergs nur noch durch einen Sieg der alliierten Truppen beenden ließ. Plancks Sohn ist ihm Mahlwerk der Gestapo und SS gefangen, der Tonfall der Erzählung bleibt dabei in einer gewissen Weise lakonisch, sarkastisch, boshaft-heiter.

Bei Lichtspiel und Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor wird ganz nebenbei immer auch deutlich, was Deutschland bzw. die deutschsprachige Welt der 1920er Jahre verloren hat, als das braune Pack die Macht übertragen bekam. Ich weigere mich jedoch, diese Romane als »wichtig« zu bezeichnen, weil sie »uns« etwas für unsere eigene Zeit zu sagen hätten oder eine Warnung bereithielten. »Wir« haben »uns« noch nie davon beeindrucken lassen.

Ralf Rothmann hat mit seiner Theorie des Regens ein Kompendium seiner Notizen aus vielen Jahrzehnten zusammengestellt. Hier werde ich ganz ohne vorherige Lektüre an der Veranstaltung teilnehmen, von Rothmann habe ich noch kein einziges Wort gelesen. Ich bin voller Neugier, auf das Gespräch und darauf, wie es ist, völlig unbedarft zuzuhören.

Schließlich noch eine Form des wissenschaftlichen Eskapismus. Felicitas Mokler hat ein Buch veröffentlich, dessen Titel für sich selbst spricht: Die Evolution des Universums: Vom Urknall bis in die Ewigkeit. Als alter Science Fiction-Leser und Teleskop-Sternegucker (es ist kalt in klaren Herbst- und Winternächten) lasse ich mich gern auf den neuesten Stand der Kosmologie bringen. Wobei – verstehen werde ich sicherlich nicht alles, doch darum geht es gar nicht. Die eigenen Grenzen des Verständnisses kennenzulernen, ist meines Erachtens oft genauso wertvoll, wie das Verstehen selbst.

Steffen Kopetzky: Damenopfer

Dieser wunderbare Roman nähert sich der historischen Person Larissa Reissner auf eine ebenso ungewöhnliche wie gelungene Weise. Cover Rowohlt Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Der König ist die wichtigste, die Dame die mächtigste Figur auf dem Schachbrett. Fällt der König, ist das Spiel unwiderruflich verloren, fällt die Dame, bedeutet das in der Regel einen fast vernichtenden Verlust für die betroffene Seite. Fast! Ein gezieltes Damenopfer kann in seltenen Fällen auch einen Sieg erzwingen. Wenn beispielsweise für die geopferte Dame ein Bauer zur gegnerischen Grundlinie vorrücken und gegen eine neue Dame eingetauscht werden kann; oder falls es gelingt, den König der Gegenseite nach dem Opfer zwingend Schachmatt zu setzen.

Das höchste und wirkungsvollste: das Damenopfer.

Steffen Kopetzky: Damenopfer

Bauer und Dame teilen sich auf dem Schachbrett das Schicksal, Figuren in einem Spiel zu sein, dessen Verlauf andere bestimmen. Das gilt auch jenseits des Schachbretts: Der Lebenspfad Larissa Reissners windet sich zwischen Revolution und bolschewistischem Putsch 1917, dem brutalen Bürgerkrieg in Russland und den Häutungen der Herrschaft Lenins hindurch und endet jäh, als sich das blutige Haupt Stalins an der Spitze jenes Staates erhebt, der das Paradies auf Erden versprach und eine nie dagewesene Hölle schuf.

Der Leser folgt in Steffen Kopetzkys Damenopfer dem Schicksal Larissa Reissners für die Jahre 1922 bis 1926, was sich beinahe wie eine Falschaussage anfühlt, denn es suggeriert eine Art voranschreitenden Pfad. Das Lesen fühlt sich aber mehr an, wie ein Gang durch Hogwarts: Die Richtung des Schreitens ändert sich wie die schwingenden Treppen der Zauberschule, während zu dem Vorübergehenden aus den an der Wand hängenden Gemälden gesprochen wird. Zeitgenossen, die auf irgendeine Weise mit Reissner zu tun hatten, kommen zu Wort, mal Ho-Chi-Minh, mal ein erlesener Kreis britischer Experten im Rahmen einer Sitzung, die Dichterin Anna Achmatowa, Leo Trotzki.

Diese Form der Installation verweigert dem Leser das gemächliche und komfortable Abtauchen in eine fiktionale Erzählwelt, immer wieder bricht der Erzählstrom, wird man herausgerissen und konfrontiert mit kommentierenden, (ab-)wertenden, bewundernden, trauernden und befremdenden Äußerungen über die Hauptfigur. Die gewinnt dabei an Gestalt, in einer Weise, wie es mit einer anderen Erzählstruktur nur sehr schwer und umständlich umzusetzen wäre.

Larissa Reissner tritt dem Leser als vielfarbig schillernde Person entgegen, Kommunistin aus bürgerlichem Hause, eine Schönheit mit französischem Parfum und Zigarren aus London, hochfliegende Ideale, eskapistischer Freiheitsdrang mit einem Hauch Femme fatale und einem scharfen Verstand  – fast das Idealbild der jungen, emanzipierten Frau der 1920er Jahre. Sie ist eine starke Frau; und sie scheitert tragisch, mit ihr auch die Revolution und ihre Ideale.

Solche Solitäre wie Larissa waren selbst am Nachthimmel Groß-Berlins selten wie schweiftragende Kometen.

Steffen Kopetzky: Damenopfer

Um Spannung im banalen Sinne geht es in Damenopfer nicht. Kopetzky verzichtet, auf was sich viele Romanschreiber frohlockend gestürzt hätten. Eine fehlgeschlagene Revolution in Deutschland, ein kommunistischer Aufstand ohne jede Aussicht auf Erfolg, Verschwörungsraunen von Verrat, zwielichtige, wetterwendische Opportunisten-Politik, die einen Pakt mit dem eigentlichen Todfeind (Reichswehr) schließt – das alles bildet den politischen Mahlstrom, der Larissa Reissners Leben umtost und sie fortreißt.

Die montierende Romanstruktur stellt zeitlich, räumlich und inhaltlich getrennte Ereignisse und Begebenheiten einander direkt gegenüber. Im ersten Kapitel, das mit der klassischen Märchenfomel »Es war einmal …« überschrieben ist, steigen 1922 ebenso kühne wie idealistische Pläne, Träume und Ambitionen in den klaren, blauen Himmel über Afghanistan auf, strahlend bunte Heißluftballons.

Ein Kapitel später wird der Leser nach dem Höhenflug in den Dreck geschleudert, ein finster-grau-trüber Februar in der real-existierenden Sowjetunion, »Totengräber« gehen ans Werk, heben das Grab aus, in dem der Leichnam der völlig unvermutet verstorbenen Heldin bestattet werden soll. Ein irrer Kontrast, angereichert durch abwegige Gedankenflüge einer Flucht von der Erde, einer unbewohnbaren, menschenunwürdigen Erde.

Also war Totengräber mit Sicherheit der falsche Name, man war doch vielmehr Geburtshelfer.

Steffen Kopetzky: Damenopfer

Die Dramaturgie der beiden Anfangskapitel ist einigermaßen gnadenlos. Afghanistan ist als Ort des Handlungsauftakts ohnehin eine Überraschung, doch klärt sich bald, warum er so gut gewählt ist. Reissner ist Teil der sowjetischen Delegation in diesem Land, das als einziges den jungen, bolschewistischen Staat anerkannt hat. Kein Wunder angesichts der herrschenden Ideologie und den Unbilden des wütenden Bürgerkrieges, in dem die westlichen Mächte kräftig mitmischen.

Die aktivistische und idealistische Larissa richtet ihren scharfen geopolitischen Blick auf den britischen Imperialismus, das globale Weltreich ist ihr ein Dorn im Auge – sie hält es für die Zwingfeste der Ausbeutung des Proletariats und will es stürzen. Dabei stößt sie auf die  Pläne eines deutschen Offiziers namens Oskar von Niedermayer, die einen Angriff auf die britische Kolonie Indien von Afghanistan aus durchspielen – ein gefundenes Fressen für Reissner, die sich alsbald auf die Suche nach dem Urheber dieses Vorhabens macht.

Man trifft sich, später, sehr viel später im Buch, um ein geheimes Projekt voranzutreiben, im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee, jenen Kräften, die knapp zwei Jahrzehnte später den blutigsten und brutalsten Krieg gegeneinander führten.

Dem geht eine lange, gewundene Annäherung voraus, die für Larissa Reissner auch eine Distanzierung von dem darstellt, was sie zunächst enthusiastisch vertreten hat. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits unendlich viel verloren, es hat sich bewahrheitet, was der spanische Schriftsteller Javier Marías in seinem Opus Magnum Dein Gesicht morgen warnend geäußert hat:

Niemand weiß je, was er in Gang setzt, unter keinen Umständen, und alles kann zu jedem beliebigen Zweck dienen, zu diesem und zum Gegenteil.

Javier Marías: Dein Gesicht Morgen

Im Spiel der Macht dienen Ideen nicht selten als Rechtfertigung unerhörter Grausamkeiten. Hätte Karl Marx ahnen können, zu was seine Ideen in den Händen Lenins und Stalins entarteten? Hätte die Afghanistan-Larissa ahnen können, wem sie in die Hände spielt, um ihr Ziel, die Niederwerfung des anglo-amerikanischen Kapitalismus und die globale Revolution zu erreichen?

Schwerwiegende Fragen, die leicht in stiefeliges Stapfen münden könnten. Steffen Kopetzky ist jedoch nicht nur ein enorm bildstarker Autor, sondern versteht es auch, seiner Sprache mit ironisch-komischen Wendungen Leichtigkeit zu verleihen. Bei aller Tragik um das Schicksal Larissa Reissners ist die Lektüre von Damenopfer ein Genuss. Ganz am Ende sorgt eine Postkarte aus dem Jahr 1948, dem Jahr der Berlin-Blockade, mit einem optimistischen Schlachtruf für einen lichten Funken im Abgrund.

[Rezensionsexemplar]

Steffen Kopetzky: Damenopfer
Rowohlt Berlin 2023
Gebunden 448 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0151-6

Jason Lutes: Berlin

Eine epische Grafic Novel erzählt die Ereignisse der dem Abgrund entgegentaumelnden Weimarer Republik aus vielen, spannenden Perspektiven. Cover Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Volker Kutscher, Autor der von mir sehr geschätzten Romane um den Kriminalkommissar Gereon Rath, ist es zu verdanken, dass ich auf diesen Schatz aufmerksam geworden bin. Seine lobenden Worte auf dem Cover dieses wahrlich dicken Schinkens haben mich zu einem zweiten Blick bewogen, obwohl ich mit Grafic Novels bislang nicht so viel anfangen konnte.

»Ein opus magnum, eine Sinfonie der Großstadt, eine Comic-Sinfonie.« Kutschers Worte erweisen sich als wahr: Die Lebensumstände im Berlin der Jahre 1928 bis 1933 werden vielschichtig erzählt und ganz wundervoll ins Bild gesetzt. Die Darstellung wirkt karstig, garstig, schwarz-weiß und frei von allem Glamour.

Freunde von »Babylon Berlin« werden möglicherweise die Nase rümpfen, denn in Lutes Berlin gibt es keine Charlotte Ritter; die Figuren bilden ein breites, widersprüchliches Spektrum der Bevölkerung und sozialer Schichten ab, Jason Lutes hat es meisterhaft verstanden, in kargen Zeichnungen ihre Befindlichkeiten einzufangen.

Geschickt werden Ereignisse und Begebenheiten neben- und nacheinander montiert, Lutes verzichtet zum Glück auf jede Form moralinsaurer Belehrungen. Trotzdem bezieht »Berlin« klar Stellung gegen die brutalen, grobschlächtigen und in ihrem Wesenskern gar nicht so unähnlichen Gewaltextreme der Zeit.

Vor- und Nachwort geleiten den Leser, außerdem findet sich in der Gesamtausgabe noch ein sehr interessantes Interview mit dem Zeichner. Toll hat mir das Berlinern einiger Figuren gefallen und – soviel darf gesagt werden – es endet trotz der Machtübertragung an Hitler 1933 nicht alles in depressiver Schwärze.

[Ein Bibliotheksfund, daher unbezahlt]

Jason Lutes: Berlin
aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders
Berlinerisch von Lutz Göllner
Carlsen Verlag 2019
HC 610 Seiten
ISBN 978-3-551-76820-9

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