Wenn man den siebten Band einer Buchreihe aufschlägt und ein Gefühl der Heimkehr aufkommt, in ein Haus, das so wohlvertraut und (!) etwas verändert, fremd, neu wirkt, dann ist man wohl gefangen. So geht es mir mit Marlow von Volker Kutscher: Teil sieben seiner Reihe um Ober(!)kommissar Gereon Rath macht einfach Spaß, die Erzählung läuft sich nicht tot, weil Personen und Konstellationen Veränderungen durchlaufen, außerdem wird wieder ein historisches Großereignis in die Handlung integriert: der Nürnberger Parteitag 1935. Rassengesetze als Stichwort. Vor allem aber gerät das Leben des Gereon Rath endgültig ins Rutschen.
Azteken? Was auf den ersten Blick wie eskapistische Lektüreabschweifung wirkt, ist brandaktuell. Die Tendenz, Menschen zu bestimmten Zeiten auf ihre Rolle als Opfer zu reduzieren, ist und bleibt ungebrochen. Das hat auch Vorteile – kann man sich etwa herausnehmen, für sie das Wort zu ergreifen. Auch die Azteken werden in diese Rolle gedrängt, als indigenes Volk, das von den Spaniern ausgelöscht wurde. Die Wirklichkeit ist vielfältiger, vor Cortés & Co. haben die Azteken das gemacht, was alle Menschen immer und überall machten: um die Macht gekämpft. Dabei wiesen sie alle Zeichen einer Hochkultur auf, die das Pech hatte, auf eine sehr viel weiterentwickelte Kultur zu treffen. Fünfte Sonne* von Camilla Townsend ist ein großartiges Buch voller überraschender Facetten!
John Mair hat nur ein einziges Buch geschrieben und das hat es in sich. Der Thriller Es gibt keine Wiederkehr ist ein wilder Ritt durch eine politische Verschwörung, in die ein Unbeteiligter durch einen großen Zufall verwickelt wird. Die Hauptfigur Desmond Thane ist das Besondere an diesem Roman, denn es handelt sich um einen sprunghaft, völlig unberechenbar agierenden Menschen, der seine Umwelt – und den Leser – immer wieder überrascht. Die Verschwörung, mit der er konfrontiert wird, erinnert ein wenig an die frühen Bond-Filme, Thane hingegen ist ein absoluter Anti-Held.
Immer mal wieder lese oder schaue ich etwas, das man dem Genre Endzeit zuordnen könnte. Die Straße von Cormac McCarthy gehört dazu, aber auch Outbreak, Terminator, Twelve Monkeys. Naheliegend also, einen Blick in den Essay von Ingo Reuter über Weltuntergänge zu werfen, in dem sich der Autor dem Phänomen nähert. Mir hat die Lektüre gefallen, ich habe einige sehr anregende Gedanken gefunden, außerdem drei Lesetipps.
Was mich an Bournville* von Jonathan Coe angesprochen hat, kann ich rückblickend nicht mehr so genau sagen; ich denke, ein britischer Blick auf britische Befindlichkeiten in einem leichtfüßig, ironischen Tonfall, mit Spott, einer Prise schwarzem Humor, etwas nebeltrüber Melancholie und ein wenig Politik. Das ist genau das, was der Roman leider viel zu selten liefert, dabei böten sich vielfache Möglichkeiten. Doch die Idee, die Geschichte in sieben Ereignissen zu erzählen, engt den erzählerischen Spielraum zu sehr ein.
Die Grundanlage von Die Blaue Liste aus der Feder von Wolfgang Schorlau ist gar nicht so schlecht. Haurtfigur Dengler, ehemals BKA, nun Privatermittler, erlebt seinen Start in der neuen Rolle durch einen verwickelten Fall, der ihn in die Zeit der Deutschen Wiedervereinigung und der hoch umstrittenen Treuhand führt. Das Verschwörungsraunen nehme ich als würzige Prise gern in Kauf, doch mit dem Showdown und dem plötzlich Hard-Boiled-Detective Dengler mochte ich mich nicht anfreunden. Das Finale wirkt wie ein Nietzsche-Aufkleber auf einem Opel Manta.
Eine wundervolle, stimmungsvoll illustrierte Weihnachtsgeschichte hat Jaroslav Rudis gemeinsam mit Jaromír 99 geschaffen. Um die in Prag herumstreifende Hauptfigur sammelt sich eine kleine Truppe merkwürdiger Zeitgenossen, die gemeinsam einige Zeit die Straßen, Plätze und Kneipen unsicher machen. Es gibt viele Begegnungen, Weihnachten in Prag* lebt und atmet die Wärme, die man nur in der winterlichen Kälte empfinden kann. Es spricht nichts dagegen, das Büchlein auch nach Weihnachten zu lesen; oder im nächsten Jahr, vielleicht als kleines Ritual an Heiligabend.
Mit dem Sachbuch Die Ukraine und wir von Sabine Adler setze ich meine lockere Lesereihe Ukraine Lesen fort. Die Autorin nimmt nüchtern, sachlich, aber unerbittlich und detailliert das Versagen Deutschlands und seiner politischen Eliten in der Ukraine- und Russlandpolitik auseinander. Insbesondere die SPD, aber auch Teile der CDU unter Merkel und Teile von Wirtschaft, FDP und ehemaligen Stasi-Mitarbeitern zeichnen verantwortlich für das Desaster, das trotz aller Bekundungen den brutalen Angriffs- und Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine begünstigte.
Briefe aus dem Krieg* von Ernst Jandl eröffnet eine neue Rubrik auf meinem Blog, denn Briefe als Format spielten bislang keine Rolle. Das schmale Bändchen mit einer Reihe, meist sehr knapper Schreiben Jandls an seinen Vater, zeigt einen Menschen, der versucht, den Fronteinsatz durch augenscheinliche Konformität hinauszögert; das Einreihen ist verbunden mit dem Versuch, Grenzen auszuloten, was Jandl durchaus hätte Standgericht einbrocken können. Darüber und andere Zusammenhänge informiert ein einleitendes Vorwort und eine Chronik.
Blog-Monat Dezember
Im Dezember war es etwas ruhiger auf meinem Blog, wie alle anderen war ich mit Weihnachten und vielen unvollendeten Dingen beschäftigt, zwar habe ich fleißig Buchbesprechungen und Kurzrezensionen geschrieben, im Backend meines Blogs ist ein kleiner Stau entstanden. Entsprechend sind im Dezember die Besprechungen von Büchern am häufigsten aufgerufen worden, die ich schon früher geschrieben habe.
Das Kompendium »Alles ist teurer als ukrainisches Leben« ist wieder Spitzenreiter, dicht gefolgt von dem Roman Aufklärung von Angela Steidele und dem ebenso monumentalen wie grandiosen Werk Frühling der Revolution von Christopher Clark. Viel Aufmerksamkeit hat auch mein Beitrag Sonnenaufgang erhalten, der sich mit einem Zitat von Lichtenberg befasst, dass ich meinem Erstling Eine neue Welt vorangestellt habe.
Was ich nicht gemacht habe, ist einen Ausblick auf das, was die Verlage in ihren Vorschauen für das Frühjahr 2024 zeigen. Dazu fehlte mir die Zeit, allerdings ist meine Auswahl bislang auch recht überschaubar – was mich keineswegs traurig stimmt, denn so bleibt mehr Zeit für andere Bücher, die ich bereits gelesen habe und unbedingt vorstellen möchte.
Gern weise ich aber auf fleißige Buchblogger hin, die sich mit den Vorschauen befasst und eine Sammlung von Büchern erstellt haben, die sie interessant finden – einfach dem Link folgen und schmökern.
Blick in die Verlagsvorschauen – bei Literaturreich
Vorschaufieber Frühjahr 2024 – bei Buch-Haltung
Neben selbst gekauften Büchern und Rezensionsexemplaren nutze ich Bibliotheken als Quelle für Lektüren. Daher bin ich sofort aufmerksam geworden, als ich auf den Text Bibliotheken im Kreuzfeuer stieß, der sehr lesens- und bedenkenswert ist. 2023 ist das Jahr gewesen, in dem sich die Bücherverbrennung durch die Nazis zum 90. Mal nähert – eine besonders drastische Form der Zensur, mit dessen (Un-)Wesen sich Marius Müller auseinandersetzt.
Fack ju, Pushkin!
Soll man russische Literatur lesen?
Nö.
Das wäre die kurze Antwort. Eine etwas längere würde ein „aber“ einfügen, denn tatsächlich gibt es schon russische Literatur, die aktuell lesenswert ist. Ein Buch habe ich in diesem Jahr gelesen und besprochen, das Tagebuch vom Ende der Welt, das eine seltene, von Propaganda kaum getrübte Innenansicht aus dem Russland des Vernichtungskrieges gibt.
Das gehört zu den Ausnahmen, denn das Tagebuch macht dem Leser im Westen eines klar: Es ist nicht nur Putins Krieg, der in der Ukraine, gegen die Ukrainer und den gesamten demokratischen Westen geführt wird. Große Teile der Bevölkerung stehen hinter diesem völlig enthemmten Kriegstreiben. Die Folgerungen daraus sind unbequem – eine davon: Russland muss verlieren. Es geht nicht nur um eine militärische Niederlage in der Ukraine, Russland führt seit vielen Jahren einen verdeckten Krieg auf verschiedenen Ebenen.
Ein wichtiger Schritt in die Richtung ist meines Erachtens, dass man sich endlich mit dem Nicht-Russland befasst und Literatur aus der Ukraine und anderen Staaten Osteuropas liest. Die ist übrigens manchmal auch „russisch“, weil es Ukrainer gibt, die auf Russisch schreiben. Andrej Kurkow zum Beispiel. Der Autor aus Kyjiw hat bei einer Lesung anlässlich des Göttinger Literaturherbst einige interessante Dinge zum Gebrauch des Russischen gesagt – wer Russisch in der Ukraine spricht ist keineswegs pro-russisch oder gar Russe, wie viele Schlichtgestalten im Westen glauben.
Ukraine verstehen wäre angesichts solcher Missverständnisse Grund genug, ukrainische Literatur statt russischer zu lesen. Die Zeit ist das knappste aller Güter, diese Ressource zu verteilen zwingt zu Entscheidungen – lese ich Dostojewski, Tolstoi, Puschkin oder Zhadan, Kurkow, Maljartschuk? Oder noch besser ein Kompendium, in dem zahllose Autoren der Ukraine und Osteuropas zu Wort kommen; außerdem jene, die das Land oft bereisen, auch in Kriegszeiten, und darüber berichten?
In solchen Kompendien wird die Frage übrigens diskutiert und man erhält eine ganze Reihe von Antworten darauf, wie man mit der russische Literatur umgehen könnte. Die Sensibilisierung dafür, dass russische Klassiker keineswegs harmlos, sondern Ausdruck eines imperialen Anspruchs und einer Überlegenheit der Russen und ihrer Kultur sind, ist wesentlich. Auch Säulenheilige wie Solschenizyn geraten dabei unter die Räder.
Gerade als Deutscher mit Blick auf die alptraumartigen Abgründe der NS-Zeit ist es mir wichtig, den Betroffenen zuzuhören. Der angeblich vergangenheitsbewältigende Blick richtet sich allzu sehr auf Moskau, was ja auch sehr viel bequemer (und mit Blick auf Rapallo und den Hitler-Stalin-Pakt eine Art historischer Gewohnheit) ist, als sich auf verschiedene Sichtweisen einzulassen. Ganz nebenbei kommt das auch bei dem nach Einfachheit und Bequemlichkeit lechzenden Wahl-Publikum besser an.
Tatsächlich steht bei mir noch ein wenig russländische Literatur im Regal – allerdings ist die ukrainische mittlerweile vorbeigezogen. Und das ist auch gut so, denn das Fanboy-Geheul um die angeblich überwältigende Hochkultur russländischer Literaten lässt mich müde lächeln. Ist das so? Gibt es in der englisch-, spanisch-, französisch-, deutschsprachigen oder jenen vielen kleineren Sprachräumen wirklich nichts Vergleichbares?
Niemand muss russische Literatur lesen, auch wenn man nicht ukrainische (polnische, belarusische, lettische, litauische, estnische, moldawische, georgische, ukrainische usw.) Bücher lesen möchte, gibt es genug anderes. Wer es tut, entscheidet sich bewusst dafür, mitten im Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und den demokratischen Westen. Man kann das machen, wer wäre ich, das jemandem zu untersagen. Ich aber lasse von allem an russischer Literatur die Finger, bis diese entputinisiert ist, lautet das Motto: Fack ju, Pushkin!
Danke fürs Verlinken! Und ein gutes, buchreiches neues Jahr! Viele Grüße, Petra
Gern geschehen und auch ein lesenfreudiges Jahr 2024! Alexander