Ein klares Highlight gab es in diesem Monat, doch sind alle hier vorgestellten Bücher absolut lesenswert. Cover beim jeweiligen Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Was für ein schöner Zufall! Parallel zu Marseille 1940* von Uwe Wittstock habe ich Die Nacht von Lissabon von Erich Maria Remarque gehört. Der Roman bildet eine großartige Ergänzung zum Sachbuch, denn er erzählt von jenen Fliehenden, die nicht auf irgendwelchen Listen standen, nicht zu den promienten Künstlern gehörten, die gerettet werden sollten. Frappierend, wie dramatisch die Wege sind, die von den Protagonisten bis ins gelobte Land USA bewältigt werden müssen, wie sehr es nötig, ja zwingend ist, den Pfad des Rechts zu verlassen, zu lügen, bluffen, tricksen und vor allem von Glück und der Macht des Zufalls begünstigt zu werden. Das alles reicht nicht, um am Ende in ein glückliches Leben einzuziehen, weder in Lissabon noch jenseits des Atlantiks. Absolut lesenswert!

In Deutschland nimmt das Gejammer um Kriegsmüdigkeit im Jahr drei nach dem umfassenden Angriff der russischen Armee auf die Ukraine immer mehr zu, politisch wird geredet und auf Wahlergebnisse geschielt, die Vertreter der alten und allzu bekannten Muster einer gescheiterten Ostpolitik kriechen wieder aus ihren Schlupflöchern hervor, getrieben von der Sehnsucht nach eine Zeit, die nur wegen intensiven Wegsehens als gut erinnert wird. Es ist nötig, sich zu vergewissern, worum es eigentlich geht. Aus dem Nebel des Krieges (hrsg. von Kateryna Mishenko, Katharina Rabe) liefert das durch viele sehr gute und hilfreiche Beiträge, etwa von jenen (Binnen-)Flüchtlingen, die 2022 zum zweiten Mal nach 2014 fliehen mussten. Der Krieg währt für die Ukrainer bereits zehn Jahre, sie benötigen massive militärische, wirtschaftliche und politische Unterstützung und keinen »germanozentrischen Provinzialismus, der Ohne-mich-deutsche-Michel, der sich heraushält, wenn es hart zugeht«, wie Karl Schlögel es formuliert. Recht hat er.

Nach Uwe Wittstocks Februar 33 geht es nun ins dramatische Jahr 1940. Der Krieg ist seit einigen Monaten von einer Drohung zur Realität geworden, doch was ab Mai des Jahres über Frankreich hereinbricht, hätte kaum jemand vorhergesehen. Die Wehrmacht zermalmt die französische (niederländische und belgische) Armee einschließlich des britischen Expeditionskorps’  innerhalb weniger Wochen. Millionen Menschen werden zur Flucht getrieben, darunter zahllose Deutsche, für die es bereits die zweite, dritte oder vierte Flucht ist. Es geht um Leben und Tod, Gestapo und SS lauern auf ihre Chance. Wittstock schildert in Marseille 1940* haarsträubende Fluchtgeschichten recht bekannter Kreativer in diesem Jahr, denen eine – mir völlig unbekannte – amerikanische Organisation rettend unter die Arme greift. Ein großartiges Buch!

Einen Ausflug in den Mittleren Westen der USA unternimmt der Leser mit Das Band, das uns hält von Kent Haruf. Der Roman erzählt in der Retrospektive die Geschichte zweier Farmerfamilien in Holt, einer fiktionalen Siedlung im Bundesstaat Colorado. Im Mittelpunkt steht Edith Goodnough, die zu Beginn des Romans im Krankenhaus liegt. Der Ich-Erzähler berichtet von ihrem Leben am Gängelband, das sie nie losgelassen und mit einer ganzen Reihe von Tragödien und erbarmungswürdigen Lebensumständen geschurigelt hat. Der Roman ist über weite Strecken unterhaltsam, in manchen Passagen übertreibt es Haruf allerdings mit der Vorbereitung der nächsten „überraschenden“ Katastrophe, hier hätte eine Raffung gut getan. Das Ende finde ich allerdings sehr gelungen.

Das große Wort »Nie wieder!« ist seit Jahrzehnten entkernt und zu einer hohlen Phrase heruntergekommen. Nicht erst die desaströse Kommunikation vieler deutscher Politiker und »Intellektueller« um den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine seit Februar 2022 ist dafür verantwortlich; der Sündenfall geschah in den 1990er Jahren auf dem Balkan, als ein brutal mordendes und schändendes serbisches Kriegsvolk über Bosnien herfiel. Der Westen sah zu, Europa und Deutschland, die UN verweigerten die nötige militärische Hilfe. Was das für die Menschen vor Ort bedeutete, hat Tijan Sila in Radio Sarajewo geschildert, eine fiktionalisierte Erinnerung an selbst Erlebtes. Neben der Kriegszeit wirft der Leser einen Blick in die Lebenswelt, die noch einige sehr archaische Züge trägt. In Europa! In den 1990er Jahren!

Der Holocaust blockiert manchmal die klare Sicht auf andere historische Schandtaten, die von Deutschen begangen wurden. Der Zivilisationsbruch lässt Vieles schrumpfen, was in anderen Nationen (u.a. weil sie viel früher Nation waren) umstritten ist. Kolonialismus etwa, einschließlich genozidaler Kriege, aber auch Sklaverei. Deutsche hatten ihre Finger tief im brutalen Geschäft des Menschenhandels. Eine ganze Reihe von Facetten wird in den vielfältigen Beiträgen zu Die Sklaverei und die Deutschen* von Jasmin Lörchner und Frank Patalong aufgegriffen, der Leser dieses Buches wird mit dem Thema sicher oftmals erstmalig konfrontiert. Umso wichtiger, dass es mit diesem Buch die Möglichkeit dazu gibt.

Die Ballade vom Abendland ist der Schwanengesang des Alten Europa, der französische Autor Éric Vuillard befasst sich mit dem Weg in den Ersten Weltkrieg und dem Gemetzel selbst. Wie gewohnt geht es meinungs- und ausdrucksstark zur Sache, oft assoziativ und forciert, dann aber wieder unterbrochen von Passagen, die wie Slow-Motion wirken. Etwas bedauerlich ist, dass Vuillard hinter dem zurückfällt, was Christopher Clark in seinem Werk Die Schlafwandler auf die historiographische Tagesordnung gesetzt hat. Manches in der Ballade klingt daher ein wenig atonal, wenn es um die Serben und den Kriegsschuld-Komplex geht. Doch das Wesentliche bleibt: jene vernichtende Gewalt der Urkatastrophe Europas.

Wer keinen Humor hat, sollte besser nicht zu Der kleine Grenzverkehr von Erich Kästner greifen. Hier wird ein Schelmenstück erzählt, das mindestens mit einem Augenzwinkern zu lesen ist. Kästner nutzt weidlich die Möglichkeiten der Sprache zu lustigen, sarkastischen und manchmal auch ein wenig boshaften Bemerkungen. Die ganze Geschichte hat einen so federleichten Kern, dass man getrost die Suche danach unterlassen kann; es ist ein Spiel auf der Bühne Salzburgs, das Kästner selbst als großes Theater schildert. Die Geschichte spielt 1937, als Österreich noch unabhängig war, daher ist die Hauptfigur wegen Devisenvorgaben gezwungen, in Deutschland zu nächtigen und per kleinem Grenzverkehr nach Salzburg zu pendeln.

Blog-Gestöber

Der Blick in die Blog-Statistik führt immer wieder zu Überraschungen. Wenig verwunderlich ist, dass meine Besprechung von J.R.R. Tolkiens The Lord of the Rings die größte Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, ebensowenig das Interesse an dem Beitrag zu Uwe Wittstock, Marseille 1940. Verblüffend jedoch, dass zwei recht betagte Beiträge ebenfalls ganz oben stehen: Mohamed Mbougar Sarr, Die geheimste Erinnerung der Menschen und Érich Vuillard, Die Tagesordnung wurden verblüffend oft angesteuert.  Warum? Mir ist das ehrlich gesagt rätselhaft.

Erfreulich ist, dass die Seiten über meine eigene Schreiberei, insbesondere mein jüngst veröffentlichtes Buch Vinland – Piratenbrüder Band 4 und das nächste, Totenschiff – Piratenbrüder Band 5, von den Besuchern meines Blogs oft angesteuert wurden. Vinland hatte einen erfreulichen Start, die Vorbestellungen zeigen, dass es einer Reihe von Lesern gut gefallen hat. Totenschiff ist fertig für den Buchsatz, wie es aussieht, klappt es mit der Veröffentlichung am 20. September 2024.

Im vergangenen Jahr habe ich einen schönen historischen Venedig-Krimi von David Hewson gelesen, nach Der Garten der Engel gibt es in diesem Jahr Die Medici-Morde, wieder ein Krimi aus der Lagunen-Stadt; das Buch hat Marius Müller von Buch-Haltung besprochen. Auf seinem Blog gibt es noch etwas Interessantes zu entdecken: Western gehören nun gar nicht zu meinen bevorzugten Genres (habe ich jemals einen gelesen?), aber Elmore Leonards Letztes Gefecht am Saber River klingt wirklich interessant.

Bald ist es wieder soweit: Mückenalarm! Bei Elementares Lesen gibt eine knappe Besprechung zu einem Büchlein über die kleinen Plagegeister: Günther Wessel, Mücken. Und nein – ich werde jetzt nicht kalauern, wozu man das Buch bei der Outdoor-Lektüre möglicherweise noch benutzen könnte.

Bei Literaturleuchtet wird die Hörbuchversion von Uwe Wittstocks Marseille 1940 besprochen, die sich sehr viel stärker mit Varian Fry befasst, als ich es in meinem Beitrag getan habe. Das stellt eine gute Ergänzung dar, außerdem gibt es noch zwei weitere Leseempfehlungen, Modicks Sunset mochte ich sehr. Und der Sprecher Julian Mehne trägt mir gerade Imperium der Schmerzen gekonnt vor.

Es wird düster und sehr spannend im fünften Teil meiner Abenteuerreihe.