
Verlage sind Unternehmen und handeln wie jedes andere Unternehmen auch. Sie sind keine Kultur- oder gar Bildungsinstitutionen, sie verfolgen primär Ziele, die aus betriebswirtschaftlichen Überlegungen hervorgehen. Gesellschaftliche Aspekte spielen eine untergeordnete Rolle. Es wird outgesourct, Kosten werden gesenkt (KI), Abläufe optimiert und aggressives Marketing (auf der Basis von Algorithmen) betrieben. Mit einem Wort: Ein Verlag macht im Kern das Gleiche wie etwa Amazon. Wirtschaftlichkeit ist dabei nichts Schlechtes, sondern das Fundament jeder Unternehmensexistenz.
Das sollte man im Auge behalten, wenn man sich mit dem Thema Verlage und Qualität von Literatur befasst. Verlage können mit Blick auf die Wirtschaftlichkeit keine Gralshüter literarischer Qualität sein, nicht nur Quell für Innovation, Progression oder Originalität. Ein Streifzug durch die Verlagsprogramme bestätigt das. Was dort an Ähnlichem und Austauschbarem präsentiert wird, ist bemerkenswert; inhaltliche Schmalspur-Massenproduktionen verpackt in knallige, ewig-gleiche Cover und farbenfrohe Buchschnitte gibt es reichlich. Umtost wird das alles von dramatisch-himmelstürmenden Lobesworten, unter »genial«, »brillant«, »Meisterwerk« oder »wichtig« geht es nicht.
Ist ein outgesourctes Lektorat für einen Verlag per se besser als eines für einen Selbstpublizierenden? Ich habe Zweifel. Doch selbst wenn das so ist, heißt »besser« nicht gut. Ein »besseres« Lektorat macht aus einer literarischen Ente noch lange keinen Schwan. Auch ein (freier) Lektor unterliegt wirtschaftlichem Druck, eine wie auch immer beschaffene literarische Qualität ist zwangsläufig zweitrangig. Das gilt erst recht für Übersetzungen, dicke Kostenbrocken in der Bilanz. Welcher Verlag wird der Verlockung der KI widerstehen, auch wenn das zu Lasten literarischer Qualität geht?
Und welchen Stellenwert kann Qualität in einer Welt haben, in der der fünfhundertste Aufguss der gleichen Geschichte noch immer Leser findet? Viele (international) erfolgreiche Buchreihen, deren Anfangsbände originell sind, erschöpfen sich in wiederholten Erzähl- und Handlungsmustern. Leser wollen nicht unbedingt überrascht, herausgefordert und schon gar nicht gegängelt werden. Sie suchen risikoscheu nach (scheinbarer) »Sicherheit«. Wer bei der Buchproduktion auf die Verkaufszahlen schaut, erliegt schnell der Versuchung, nur noch den vermeintlichen Leserwillen zu bedienen – bald mittels KI, die Bestseller vorhersagt.
Wer nun glaubt, ich sänge hier das Hohelied des Selbstpublizierens, irrt. Das wäre irrlichternder Nonsens, der eine sehr bequeme Weltsicht bedient, in der Gut und Schlecht einander gegenüberstehen müssen. Denkbar wäre ja auch Schlecht und Schlechter. Schon ein kleiner Streifzug durch Buchanfänge macht schnell manche Zumutung selbstpublizierter Bücher sichtbar. Auch Selbstpublizierer unterliegen den Mechaniken des Marktes, auch sie müssen auf die Kosten schauen. Die mantraartig vorgetragene Behauptung, ein Lektorat mache ein Manuskript besser, hilft wenig, wenn es nicht refinanziert werden kann.
Der Blick auf die Cover, Buchschnitte und bevorzugten Genres zeigt gerade auch bei Selbstverlegern einen erstaunlichen Konzentrations– und Konformitätsprozess. Die bisweilen lautstark behauptetet Progressivität und Diversität im Eigenverlagswesen wird gelegentlich auch unter Selbstublizierern als bloße Attitüde bekrittelt. KI wird von der Mehrheit – wie bei Verlagen – zur Kostensenkung und Ausstoß-Erhöhung verwendet, von Skeptikern gegenüber diesem Buch-Erstellen »Offenheit« eingefordert. Kritik begegnen viele KI-Schreiber mit einer Abwehrhaltung, die an Raucher bei Diskussionen um gesundheitliche Folgen des Tabakkonsums gemahnt.
Selbstverständlich gibt es Ausnahmen, Schattierungen sowohl bei Verlagen als auch bei Selbstpublizierern. Und das ist der Punkt: Die Kategorien »Verlag« oder »Selbstverlag« sind im Grunde irrelevant für jene, die nach Qualität, Originalität, Progressivität oder Relevanz suchen. Es ist ein Versuch, eine zunehmend unübersichtlichere Welt zu vereinfachen und diese Vereinfachung zu rechtfertigen. Man kann hier fündig werden und da, man kann hier enttäuscht werden und da.
Die Zukunft in Gestalt von KI, also Programmen, die sich entlang von Wahrscheinlichkeiten (!) hangeln und daher für einen dramatischen Konformitätsschub auf Seiten der Buchschreiber und -publizierer sowie der Leser sorgen werden, sieht auf beiden Seiten – pardon! – so richtig sch***e aus.
Ich lese selbst aktuell ausschließlich Bücher aus Verlagen, meine Bücher veröffentliche ich jedoch selbst. Ein Widerspruch? Vielleicht. Vor allem ist es aber eine Frage der Zeit und damit der Ökonomie. Mehr als einhundert ungelesene Bücher, hunderte, die noch einmal gelesen (und auf dem Blog) vorgestellt werden wollen. Aus den Vorschauen suche ich mir zweimal im Jahr fünfzig bis sechzig Bücher heraus und versuche, mich auf fünf zu beschränken. Gelegentlich stöbere ich in selbstverlegten Werken, lese den Romanbeginn, irgendwann werde ich auch mal wieder eines vollständig lesen. Interessante Titel und Themen gibt es.

Kurzvorstellung der April-Bücher:
Vor ein paar Jahren las ich in der Sueddeutschen Zeitung einen Beitrag über Historische Romane. Zwei davon kaufte ich mir, neben Alejo Carpentier Die Explosion in der Kathedrale auch Der schwedische Reiter von Leo Perutz. Es ist kein Zeichen von Unbildung, diesen Namen nicht zu kennen. Perutz werde wenig gelesen, erfuhr ich in meiner Stammbuchhandlung. Ein Jammer, denn nach drei weiteren Büchern des Autors darf ich sagen: ein Großer. Ein Vergessener obendrein, wie man dem Buch Über Leo Perutz von Daniel Kehlmann entnehmen kann, das in der Reihe „Bücher meines Lebens“, herausgegeben von Volker Weidermann erschienen ist. Kehlmann ist ein engagierter Verfechter des vergessenen Autors Perutz. Seine paraphrasierende Annäherung an Nachts unter der steinernen Brücke zeigt sehr schön auf, warum das so ist. Perutz’ Hauptwerk ist höchst ungewöhnlich, ein Roman in Erzählungen, der auch etwas über seinen Schöpfer und sein tragisches Schicksal erzählt.
Auf den ersten, flüchtigen Blick scheint es sich bei Nachts unter der steinernen Brücke von Leo Perutz um eine Sammlung unzusammenhängender Erzählungen zu handeln. Einige Figuren tauchen jedoch mehrfach auf, was angesichts der Perspektivwechsel und Zeitsprünge vielleicht nicht sofort auffällt; der Ort des Geschehens bleibt jedoch gleich: Prag, um das Jahr 1600 herum, das Verhängnis des Dreißigjährigen Krieges wirft seinen langen Schatten voraus. Die Menschen selbst, vom Kaiser Rudolf bis hin zum reichen Juden Meisl treiben die Geschichte auf ihren untergründig, vielschichtig miteinander verflochtenen Lebenswegen voran. Durch die zerklüftete Form werden die Verbindungen auch für die Handelnden erst auf den zweiten, dritten Blick sichtbar, wenn es zu spät ist, der Schaden unwiderruflich angerichtet. Die Fiktion verweist auch darin auf die Wirklichkeit.
Mit der Graphic Novel Die letzten 100 Tage Hitlers* begibt sich der Leser auf eine Reise in den Mahlstrom des apokalyptischen Untergangs des so genannten »Dritten Reichs«. Das Buch setzt am 15. Januar 1945 ein, die Ardennen-Offensive ist krachend gescheitert, die Westalliierten stoßen Richtung Rhein vor, während die Rote Armee im Osten den Durchbruch erzwingt und bis an die Oder vorrückt. »Kriegführung bis fünf nach zwölf« nennen das Historiker sehr treffend. Wie das ausgesehen hat, zeigt die Graphic Novel in teilweise dramatischen Bildern. Immer wieder steht Hitlers aberwitziges Gerede im Hauptquartier kontrastierend zu dem, was in der realen Welt geschieht. Es war nicht nur Hitlers Krieg, die Eigeninitiative bei den unsäglichen Gewalt- und Mordtaten ist erschütternd. Ein Manko ist, dass die fürchterlichen Gewalttaten der Roten Armee gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung außen vor bleiben. Doch ist der Rest nicht nur anlässlich des 80. Jahrestages ein sehr guter Beitrag, um einen schonungslosen Eindruck von der Realität im untergehenden »Tausendjährigen Reich« zu bekommen.
Enttäuschend war der Roman Das große Spiel* von Richard Powers. Der vielversprechende Beginn weckte die Erwartung einer komplexen und vielleicht auch dramatischen Auseinandersetzung mit brandaktuellen Themen wie KI, Ökologie, Erderhitzung und (kolonialer) Ausbeutung. Vor allem der Ort, die kleine Insel Makatea im Pazifik, weckt die Vorfreude auf das Buch. Doch fokussiert sich die Erzählung auf die Freundschaft zwischen den Protagonisten Rafi und Todd, zu denen sich noch Ina gesellt. Vieles wird nur angetippt, alles bleibt sehr oberflächlich, sei es Schach, sei es das Startup-Tech-Wesen, verziert mit einer bisweilen überzogen wirkenden Sprache. Völlig losgelöst erscheint die Figur der Evelyne Beaulieu, die bis zum Ende seltsam künstlich, substanz- und gehaltlos wirkt. Die »Wissenschaft«, die sie angeblich betreibt, ist nur vorgeschützt, behauptet; stattdessen ist sie mehr eine fotogene Taucherin, deren langatmige Beschreibungen der Unterwasserwunder staunen lassen soll und doch furchtbar ermüdend ist.
Der Untertitel des Buches von Thomas Meyer über Hannah Arendt* bezeichnet sie als „Denkerin des 20. Jahrhunderts“. Schon nach ein paar Seiten wird der Leser damit konfrontiert, dass die Gedanken Arendts in der Gegenwart noch immer diskutiert werden, auf eine durchaus emotionale Weise umstritten sind. Nicht nur das geflügelte Wort von der „Banalität des Bösen“ ist bekannt. Fünfzig Jahre nach ihrem Tod scheinen die Überlegungen Arendts etwas für unsere Gegenwart zu sagen zu haben, insofern stellt sich die Frage, ob sie vielleicht auch eine Denkerin des 21. Jahrhunderts ist? Meyers Buch öffnet die Tür zur Person Hannah Arendt und ihren Werken. Notgedrungen sehr knapp, kann und soll das nicht die eigene Lektüre ersetzen, der Leser erhält einen Fahrplan, der schließlich auch keine Reise ersetzt.
Von Friedrich-Christian Delius habe ich bereits eine Reihe von Büchern gelesen, die Romane und längeren Erzählungen gefallen mir auch wegen ihrer großen, erzählerischen Dichte. Zwischen dem, was erzählenswert ist, schweigt Delius, wenn man so will. Dem Schweigen widmet der Autor ein ganzes Buch. Die sieben Sprachen des Schweigens enthält drei längere, essayhafte Beiträge, in denen es um das Schweigen geht. Delius berichtet über eine Schriftsteller-Tagung in Israel, auf der er einen Textauszug seines Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde vortrug, mit überraschenden Folgen. Im zweiten Teil geht es um einen Spaziergang mit Imre Kertész in Jena und die Gedankenschleife, die das auslöste. Der Schlussteil schildert Denkfolgen eines Delirs nach einer Operation. Der Leser bekommt in diesem Buch nicht nur Bedenkenswertes vorgesetzt, es schildert auch den Gang des Schreibens. Ganz nebenbei gibt es Glanzlichter, etwa Worte: »die Bequemdenker, die Begriffszufriedenen, die Klischeemaler«. Es ist das dritte Buch meines Lesevorhabens 12für2025.
Fabelhaft fabulierend ist der Roman Grand Tour von Steffen Kopetzky. Er schickt seine Leser auf eine nicht enden wollende Reise durch Europa, die Hauptfigur, Leo Pardell, nimmt nämlich in großer Not einen Job als Schlafwagenschaffner an. Eigentlich sollte er in Buenos Aires weilen, doch nur die willentlich um einige Stunden verstellte Zeit seiner Armbanduhr ist das Einzige, was den Trip über den Atlantik zumindest virtuell schafft. Die erzählte Wirklichkeit spielt sich in Europa, vorzugsweise in Zügen, Bahnhöfen, Hotels, Spielkasinos, der Erinnerung und weiten Gedankenflügen ab. Eine ganz besondere Uhr spielt in diesem verwickelten Geschehen eine zentrale Rolle: Die Handlung spielt 1999, der Jahrtausendwechsel naht und mit ihm die große Stunde einer Uhr, deren »Komplikation«, also mechanische Funktion, das Ereignis nachvollziehen kann. Auf ihrer Spur ist ein Sammler, dessen Weg Pardell kreuzt – wie so mancher anderer wundervoll gezeichneten Figur. Ganz am Ende bricht der Virus tatsächlich aus, in einem Lokal, auf dem Brenner, zur Jahrtausendwende. Neben Propaganda und Damenopfer ein weiterer, spektakulärer Roman von Steffen Kopetzky.
Blog Gestöber
Zu den Orten, die ich in den vergangenen Jahren oft aufgesucht habe, gehören Bücherschränke. In Göttingen gibt es zwar auch welche, doch dort komme ich selten vorbei; dafür in einem kleinen Ort bei Göttingen, den ich regelmäßig beim Wandern durchquere. Dort steht eine alte Telefonzelle mit Büchern, die für mich zumeist uninteressant sind und leider oft in einem schauerlichen Zustand.
Ein Hinweis, dass dies keine »Blaue Tonne« (für Altpapier) wäre, zeigt, wie manche Zeitgenossen ihre persönlichen (oder ererbten) Schätzchen mit wertvollen Büchern verwechseln. Ich habe also darauf geachtet, dass kein Buch aus meinen Regalen dort landet, das älter als die Nullerjahre ist. Von den mittlerweile mehr als 250 Büchern, die ich aussortiert habe, sind nur einige Dutzend in der Bücherzelle gelandet und zumeist innerhalb weniger Tage verschwunden. Sie haben also Leser gefunden – angesichts der Konkurrenz, ist das kein Wunder.
Daher bin ich sehr froh, diesen Bücherschrank entdeckt zu haben; ein weiterer ist zuletzt bei einer Wanderung jüngst hinzugekommen, der etwas besser sortiert ist. Dort werde ich sicher einmal ein Buch hintragen, wenn es wieder eines gibt, das sich aus meinen Regalen verabschiedet. Das ist eine zufriedenstellende Weise, sich von Büchern zu verabschieden. Die Mehrzahl wandert jedoch in den Müll bzw. in die echte Blaue Tonne.
Bei www.lesestunden.de gibt es eine Karte mit Bücherschränken, die einen raschen Überblick erlaubt, wo in der Nähe welche zu finden sind. Eine schöne und hilfreiche Sache, denn so habe ich zwei weitere Orte entdeckt, die ich bei meinen Wanderungen regelmäßig ansteuere und wo ich einen Bücherschrank finden kann. Sehr fein!
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