Gleich zwei enttäuschende Bücher sind mir im August in die Finger geraten. Der geopolitische Atlas Die Welt der Gegenwart* sorgte bei mir im Kapitel über den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zu erheblichen Irritationen. Außredem war der Thriller Die Toten vom Gare D´Austerlitz eine Enttäuschung gewesen, sicher auch, weil ich mich auf dieses Buch wegen der ungewöhnlichen Handlungszeit sehr gefreut habe. Mein Exemplar ist in eine Büchertelefonzelle gewandert, wie ich aus verschiedenen Blog-Beiträgen ersehen konnte, gibt es Leser, die den Roman mögen.
Ebenfalls ungewöhnlich, aber ganz herausragend erzählt ist Der Empfänger von Ulla Lenze. Hier habe ich mich gefragt, ob viele der negativen Bewertungen auf den einschlägigen Sternchen-Portalen vielleicht auf eine falsche Erwartungshaltung zurückgehen. Ja, Agenten spielen eine Rolle, aber es ist kein Thriller, den die Autorin geschrieben hat.
Sehr unterhaltsam, spannend und anregend sind die beiden Krimis um die Navajo-Police von Tony Hillerman, die ich gelesen habe. Zwei weitere warten noch in meinem Regal – in den Herbstferien werde ich spätestens dazu kommen. Großen Spaß haben die Erzählungen von Oleksij Tschupa gemacht, mit Märchen aus meinem Luftschutzkeller habe ich erstmals auf meinem Blog einen Beitrag zu der von mir gewöhnlich stiefmütterlich behandelten Erzählform geschrieben. Es wird nicht der letzte sein.
Die vergleichsweise geringe Zahl der gelesenen Bücher und von auf meinem Blog veröffentlichten Besprechungen hängt mit meiner Arbeit an den beiden noch ausstehenden Piratenbrüder-Bänden zusammen, aber vor allem mit ausgedehnten Wanderungen an hochsommerlichen August-Tagen. Im Kopf bin ich längst mit meinem nächsten Projekt, einer Fantasy-Buchserie, befasst. Eine schöne Beschäftigung beim Gehen.
Im August wurden vor allem ältere Beiträge nachgefragt, etwa die Besprechungen zum Auftaktband um die Navajo-Police von Tony Hillerman Tanzplatz der Toten. Die geheimste Erinnerung des Menschen (Mohamed Mbougar Sarr), Vom Ende der Einsamkeit (Benedict Wells) und Die Tagesordnung (Éric Vuillard) sind und bleiben die Dauerbrenner auf meinem Blog, was das Interesse der Besucher anbelangt. Ganz oben ist dabei allerdings noch immer der großartige Roman Wie später ihre Kinder von Nicolas Mathieu.
Kurzbesprechung der August-Bücher
Der größte Vorzug von Die Welt der Gegenwart* von Émilie Aubry und Frank Tétart ist, dass der Leser einen schnellen Überblick über eine ganze Reihe wichtiger globaler Konflikte erhält. Die Beiträge sind mit sehr vielen, informativen und leicht zugänglichen Karten versehen, die erklärenden Texten versuchen, die komplexen Konfliktlinien darzustellen. Dass es zu Verkürzungen und Verzerrungen kommt, ist unvermeidlich, bedauerlich ist allerdings, dass ausgerechnet der Teil, der sich mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine befasst, eine sehr problematische Darstellung bietet. Kreml-Narrative, lupenreine Propaganda und das Aufkochen längst überkommener Ansichten (russischsprachig = pro-russisch) prägen diesen Teil, es wirkt, als würden die Autoren auf Teufel komm raus versuchen, eine gewisse »Ausgewogenheit« herzustellen. Im Vernichtungskrieg gibt es derlei nicht. Leider werden auch in anderen Bereichen zweifelhafte Formulierungen gebraucht, ausgerechnet auch in jenem über Israel.
Einen wirklich wunderbaren Roman hat Ulla Lenze mit Der Empfänger geschrieben. Das Thema war für mich ganz neu: Ein in die USA ausgewanderter Deutscher namens Josef (Joe) Klein wird in den späten Dreißigerjahren nolens volens zum Spion für Hitlerdeutschland. Als Amateurfunker sendet er geheime Nachrichten nach Europa. Er wird von den Amerikanern verhaften, früh genug, um nicht hingerichtet zu werden; nach dem Krieg wird er nach Deutschland, abgeschoben. Die Autorin hat Kleins Weg in die Bredouille und die unfreiwillige Rückkehr in ein ihm völlig fremdes Land in einer sehr schönen, bildkräftigen Sprache beschrieben, die sehr viel Wert auf die Zwischentöne, Grauzonen und Widersprüchlichkeiten legt. Spannende, atmosphärische und tragische Literatur, an der mir ganz besonders die immer wieder aufschimmernde Freude Joes über das vielfältige Leben in New York gefallen hat. Empfehlenswert besprochen wird Der Empfänger bei literaturleuchtet und Buch-Haltung.
Erzählungen gehören nicht zur bevorzugten literarischen Form, wie man bei einem Blick auf mein Buchregal oder meinen Blog unschwer erkennen kann. Ab und zu unternehme ich aber gern einen Ausflug in diesen Bereich, so bei Märchen aus meinem Luftschutzkeller von Oleksij Tschupa. Der Leser folgt den Geschehnissen von Personen, die in einem Haus im Osten der Ukraine wohnen, genauer gesagt im Donbass. Von Wohnung zu Wohnung arbeitet sich das Buch vor, manchmal sind die Geschichten direkt miteinander verbunden, wenn ein Geschehnis aus einer vorangegangenen Erzählung aus einer anderen Perspektive zumindest erwähnt wird. Nicht nur so bekommen die Erzählungen einen inneren Zusammenhang, das über das gemeinsame Wohnen in einem Haus hinausgeht. Manchmal sind die Erzählungen wild und schäumend, manchmal auf eine melancholische Weise trist.
Im dritten Teil seiner Krimi-Reihe um die Navajo-Police übernimmt Jim Chee die Ermittlungen. Das geht weniger dramaturgische als rechtliche Gründe. Wer ein wenig in den Teasern für die nächsten Bücher stöbert, findet schnell heraus, dass Joe Leaphorn bald wieder zurückkehrt und gemeinsam mit Chee auf Verbrecherjagd geht. In Zeugen der Nacht muss sich Chee mit einem merkwürdig belanglos erscheinenden Diebstahl beschäftigen, der jedoch im Zentrum einer Serie an Todesfällen zu stehen scheint. Wie die ersten beiden Romane ist Tony Hillermans Krimi angereichert mit mythischen Motiven der indianischen Gemeinschaft, sanftem Spott und sehr spannenden Passagen. Wie in den Vorgängerbänden macht der Tanz auf der Grenze zweier völlig verschiedener Kulturen besonderen Spaß. Die Buchreihe ist eine Entdeckung.
Glücklicherweise hatte ich vier Romane von Tony Hillerman vorrätig und konnte mit Dunkle Winde gleich noch einen lesen. Eine verwickelte Geschichte beschäftigt den Officer der Navajo-Police, Jim Chee: Ein Windrad wird immer wieder beschädigt. Während er auf der Lauer liegt, um den Täter zu fassen, geht ein Flugzeug in unmittelbarer Nähe nieder. Im Wrack ein Sterbender, unweit davon ein Toter. Nicht der einzige, denn eine unidentifizierbare Leiche wird in einiger Entfernung auch noch aufgefunden. Schließlich ist da noch der seltsame Diebstahl – alles zusammen eine harte Nuss für Chee, der selbst auch noch in Verdacht gerät. Der Schlüssel liegt im Verständnis der Motive, für einen Navajo schwierig, wenn es sich bei den Tatverdächtigen um Weiße oder Hopi handelt. Kulturelle Gräben gibt es auch zwischen den indianischen Gemeinschaften. Großartig erzählt.
Eine Enttäuschung ist der Thriller Die Toten vom Gare d´Austerlitz gewesen, auf den ich mich vor allem wegen des zeitlichen Rahmens sehr gefreut habe. Leider hat Autor Chris Lloyd seine Hauptfigur, den Inspecteur Éduard (Eddie) Giral, als irrlichternden Polizisten gestaltet, der allzu oft die Fäuste fliegen lässt, nicht kommunizieren kann, den selbstmitleidigen einsamen Wolf mimt und unglaubwürdig agiert. Das gilt auch für seine Mitstreiter, Widersacher und neutrale Personen, gleichgültig ob es sich um Flüchtlinge, Franzosen oder Deutsche handelt. Der Sohn der Hauptfigur gleicht eher einer grotesk verzerrten Karikatur. Ab der Mitte des Romans ging auch die Spannung verloren, die vielen abrupten Wendungen ermüden. Schade, denn aus der Idee hätte etwas Großartiges entstehen können.
*Rezensionsexemplar
Bloggestöber – »White Trash«
Genau weiß ich nicht mehr, wann ich zum ersten Mal mit dem Begriff »White Trash« in Berührung gekommen bin. Wahrscheinlich bei der Lektüre meiner damaligen Tageszeitung, sicher aber durch den Film 8 Mile von 2002 um den Rapper Eminem und seine »Trash-Mom«, die in einem Wohnwagen ihre Existenz fristet. Die musikalische Umsetzung der Wohnsituation “Mom´s living in a trailor” zur Musik von “Sweet Home Alabama” werde ich wohl nie vergessen.
Wohnwagensiedlungen gehören zu den klassischen Stereotypen im Zusammenhang mit »White Trash«. Seit 8 Mile bin ich immer wieder auf die Umstände der verarmten, hoffnungs- und aussichtslosen Lebensumstände gestoßen, die sich mit dem Begriff »White Trash« verbinden. Ebenso klassisch wie großartig etwa in der Fernsehserie »The Wire«, aber auch in diversen Romanen, vor allem Thrillern und Krimis bis hin zu dem großartigen Sachbuch Das Imperium der Schmerzen über die verheerende Opioid-Katastrophe in den USA.
Nach der für mich völlig überraschenden Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA habe ich 2017 eine ganze Reihe von Büchern über die Vereinigten Staaten gelesen, darunter Hillbilly Elegy eines gewissen J.D. Vance. Ja, genau der. Tatsächlich haben mich einige der Schilderungen (zwischen langatmigen, eher langweiligen und sehr merkwürdigen Passagen) beeindruckt.
Zurückgeblieben ist ein Eindruck, wie groß der soziale und gesellschaftliche Graben zwischen der Unterschicht und der Mittel- bzw. Oberschicht ist, gar nicht zu reden von den wirklich reichen Zeitgenossen. Schul- und Universitätsbildung reichen nicht, ein Verhaltenskodex muss erlernt werden, ebenso eine Sprache und das Verständnis dessen, was überhaupt gemeint ist. Das hat Vance in dem Buch nachvollziehbar dargelegt.
Wie groß solche Probleme sind, kann man auch bei der fiktionalen Figur Phillip (“Lip”) Gallagher in der großartigen Serie Shameless beobachten, der während seiner Zeit an einer Hochschule keineswegs an seinen intellektuellen, sondern vor allem an den Gepflogenheiten, geschriebenen wie ungeschriebenen Gesetzen scheitert.
Das alles schimmert auch bei Hillbilly Elegy durch, an dessen Existenz ich durch einen sehr lesenswerten Beitrag von Kaffeehaussitzer erinnert wurde. Lesen würde ich es heute nicht mehr, seit der Autor seinen Kotau vor Donald Trump gemacht hat. Es gibt jede Menge Alternativen.
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