Im Dezember ist der Zeitpunkt gekommen, ein Resümee über das ablaufende Jahr zu ziehen. Wieder habe ich meine Lektüre durchgesehen und zehn Bücher ausgewählt, die mir am besten gefallen haben. Diese Auswahl ist nicht nur sehr subjektiv, sie unterstellt eine Klarheit, die gar nicht besteht. Ich hätte ohne Schwierigkeiten auch andere Bücher auswählen können, die es durchaus verdient hätten, in den Leseolymp aufgenommen zu werden.
Auf Instagram habe ich an einer Challenge unter dem Hashtag 12für2024 teilgenommen, mir bezüglich der Regeln einige kleine Freiheiten erlaubt. Statt nur bereits gekaufte Bücher habe ich auch einige Neuerscheinungen aus den Vorschauen aufgenommen. Elf der zwölf ausgesuchten Titel habe ich tatsächlich gelesen, einer ist durchgefallen, weil ich das Buch erst Weihnachten 2024 erhalten habe. Zu spät für die Lektüre der Biographie von Thomas Medicus über Klaus Mann.
Für das kommende Jahr habe ich zwölf neue Bücher (12für2025) ausgewählt, darunter auch das Buch von Thomas Medicus. Diesmal habe ich mich auf jene beschränkt, die bereits in den Regalen darauf lauern, endlich herausgenommen und gelesen zu werden. Die Auswahl ist recht bunt, einige der Sachbücher lese ich mit doppeltem Interesse, denn sie dienen auch als Recherche für meine laufenden und kommenden Schreibprojekte.
Wie es mit meiner Schriftstellerei aussieht und im abgelaufenen Jahr aussah, habe ich in einem längeren Beitrag unter dem Titel Auferstehung – Schreibjahr 2024 dargestellt. Wild bewegt war 2024. In einem Satz zusammengefasst: aus der Asche zum Größenwahn und ein Stück zurück.
Kurzbesprechung der Dezember-Bücher
Ein Buch über den Kriegsalltag als Mittel gegen das Gefühl von Ohnmacht und Überforderung angesichts eines Krieges? Andrej Kurkow lüftet den Nebel des Krieges und schildert in Im täglichen Krieg das Leben in der vom Krieg überzogenen Ukraine. Wie schon in Tagebuch einer Invasion ist der unaufgeregte, erzählende Stil des Autors der heimliche Star des Buches. Kurkow bleibt sich auch im Krieg selbst treu, er betreibt keine Propaganda, widmet sich auch schwierigen Themen. Wenn es etwa um Verrat und Kollaboration geht verknüpft er das mit Bienen. Diese zum Teil recht wagemutigen Brückenschläge erleichtern es dem Leser, an- und aufzunehmen, was der Krieg mit Menschen und Land anstellt. Es ist keine Verharmlosung des Terrorkriegs Russlands, das Gefühl von Ohnmacht und Überforderung verschwindet auch nicht. Wie könnte es! Aber sie werden auf ein Maß zurückgedrängt, auf dem sie nicht blockieren, sondern das Reflektieren aktivieren. Unbedingt lesen.
Recherchelektüre ist immer mit Überraschungen verbunden. Die Briefe, die Andrea van Dülmen in Frauenleben im 18. Jahrhundert gesammelt hat, bieten einen sehr spannenden, vielfältigen, weil vielstimmigen Zugang zu dem, was Frauen im Zeitalter der Aufklärung zu erdulden hatten. Einige Vor-Urteile werden tatsächlich bestätigt, ja noch übertroffen. Die Herablassung, mit der Männer über Frauen geschrieben und geurteilt haben, sind schauerlich. Die Begründung einer schlechteren Schulausbildung mit irgendwelchen zusammengesponnenen natürlichen Veranlagungen ist hanebüchen. Ausnahmen (»gelehrte Weiber«) gab es, aber die bestätigten wohl eher die Regel. Besonders gut haben mir einige Schreiben gefallen, die komplett aus meinem Erwartungsrahmen gefallen sind. Eine empfehlenswerte Sammlung.
David Grann hat mit seinem Buch Der Untergang der Wager wegen der dramatischen Begebenheiten einige Aufmerksamkeit erregt. Da die Ereignisse nur weniger Jahre nach der Handlung meiner Buchreihe um die Piratenbrüder spielt, hatte ich noch eine weitere Motivation, mich mit dem Schicksal der Wager zu beschäftigen. Der Leser wird in die Abgründe der Seefahrt Mitte des 18. Jahrhunderts eingeführt, Grann schildert schonungslos die grausligen Zustände an Bord eines Segler und führt den Leser in die Details der Seefahrt dieser Zeit ein. Die brutalen Verhältnisse stehen in krassem Gegensatz zu Jack Sparrow und dem Fluch der Karibik. Daraus rührt ein Teil der Spannung, denn für einen Leser des 21. Jahrhunderts ist es beinahe unvorstellbar, dass es überhaupt jemand geschafft hat, dieses Desaster zu überleben.
Gedichte pflegen ein Nischendasein im Literaturbereich. Auch in meinem Buchregal finden sich nicht allzu viele Lyrik-Bände, Trakl, Celan, Kästner, Baudelaire. Das war es auch schon. In der Stadtbibliothek (einem gefährlichen Ort für Menschen mit zu vielen ungelesenen Büchern) bin ich über den Sammelband Hundert Gedichte des Jahrhunderts gestolpert. Die Auswahl der von Marcel-Reich-Ranicki Lyrik wird ergänzt durch kurze Beiträge zu dem jeweiligen Gedicht. Das ist weit entfernt von betreutem Gedichte-Lesen, denn die Autoren sind selbst Literaten und pflegen einen sehr eigenen Zugang zum jeweiligen Poem. Der Leser bekommt also gleich beides: eine schöne Auswahl von Gedichten und einen bunten Strauß an Gedanken dazu. Sehr anregend. Ach, ja: Trakls Grodek. Eine niedergehende Lawine.
Seit rund einhundert Jahren ist unsere Welt unscharf. Was das heißt, werde ich hier nicht erklären, das könnte ich auch nicht. Andere hingegen schon. Etwa Tobias Hürter in seinem Buch Das Zeitalter der Unschärfe, das sich der umstürzenden Veränderung unseres Weltbildes zu Beginn des 20. Jahrhunderts annimmt. Es ist eine atemlose Jagd durch die Untiefen komplexer und sehr abstrakter Ideen, die aber essentiell sind für unsere Gegenwart. Gelegentlich findet sich das damals gewonnene Wissen auch in Romanen wieder, etwa in Der Schlachtenmaler von Arturo Perez-Reverte. Hürter spart auch die parallel exponentiell wachsende Dummheit nicht aus, die in Vernichtungskrieg und Zivilisationsbruch münden. Beide Linien sind nicht zu trennen, die Verstrickung der Physiker darin auch nicht.
„Woke“ gehört zu den Worten, die bei mir reflexartiges Augenrollen auslösen. Nicht etwa im Sinne rechtsreaktionärer Naseweise, sondern weil es einen ähnlichen Charakter hat wie „klassenbewusst“ oder „gerecht“ oder „christlich“. Für derart hehre Konzepte ist der Mensch zu klein. Nach dem 7. Oktober 2023 hat das schmerzlich bestätigt, als Menschen, die sich als „woke“ bezeichneten, den brutalen, enthemmten Terror in ihr „post-koloniales“ Weltbild hineinzwangen und im Blutsumpf des Antisemitismus versanken. Jens Balzer unternimmt den Versuch, diesen „moralischen Bankrott“ nachzuzeichnen, einzuordnen und einen Ansatz vorzuschlagen, wie man After Woke einen Neuanfang machen könnte. Sehr erhellend, für einen misanthropischen Leser wie mich aber auch ein Beleg, dass die großen Ismen immer in einer Art Gulag enden.
Der literarische Schlussstein Rath in der Buchreihe um den Kriminalkommissar Gereon Rath ist großartig. Schon der Prolog zeigt, in welche Richtung die Handlung geht; wir befinden uns im Herbst 1938, der Zivilisationsbruch der Nazis wird spätestens in der Reichspogromnacht am 9. November Realität. Wie schon in Transatlantik ist die eigentliche Reihen-Hauptfigur zu einer Nebenrolle verdonnert – er ist ja tot. Charly übernimmt, deren Ausgestaltung ich aber nicht ganz stimmig finde. Einerseits zu wenig berührt von dem, was andere zerbricht, andererseits zu stark in den Handlungsmustern gefangen, passt sie nicht recht in die ihr zugedachte Rolle. Doch das ist angesichts der Qualitäten des Romans eine Petitesse. Hochspannend und mit einem grandiosen Ende – ein gelungener Abschluss der Buchreihe. Chapeau!
Bloggestöber
Eine sehr interessante Seite ist die Topliste der deutschen Buchblogger auf dem Blog Lesestunden. Dort sind beim Schreiben dieser Zeilen 710 Blogs aufgeführt. Als Blogger kann man natürlich erst einmal schauen, wo das eigene Schätzchen gerade steht und wie sich das Ranking verändert hat. Wie es zur Platzierung kommt, wird auch erklärt – der Wert ermittelt sich aus dem Pagerank des Blogs und der Anzahl der Links, die zum Blog führen.
Es gibt noch ein paar Beiträge über die Sphäre der Buchblogger, etwa über die geographische Verteilung, die bevorzugten Genres, die Vernetzung und wer worüber schreibt. Diese Analyse der Buchblogosphäre ist sehr interessant, ein Besuch lohnt sich. Wer wissen möchte, wie sich das Buch-Bloggen entwickelt hat, wird im Artikel Die Entwicklung des deutschen Buchmarkts und wieso er vor massiven Herausforderungen steht fündig. Dort heißt es:
[…] dann gab es im Jahr 2020 in der Spitze fast 1400 Blogs. Im Jahr 2022 waren es zumindest noch knapp 1000 Blogs. Jetzt, im Jahr 2024, sind wir bei knapp 750 Buchblogs. Seit ihrem Höhepunkt hat sich also die Anzahl deutschsprachiger Buchblogs halbiert.
Lesestunden, 07. August 2024
Die Abwärtstendenz setzt sich also fort, ein paar Monate nach dem Erscheinen des Blog-Beitrages haben offenkundig wieder einige Blogs die Segel gestrichen. Interessant und lesenswert ist auch die Diskussion unter dem Beitrag.
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