
Auch im achten Teil der historischen Kriminalreihe um Gereon Rath wird der Leser hervorragend unterhalten. Olympia ist ungeheuer spannend, Volker Kutscher gelingt es, die missliche Lage, in der sich der Protagonist am Ende des Vorgängerbandes befindet, auf die Spitze zu treiben. Mehr als drei Jahre nach der Machtergreifung endet das ewige Lavieren Raths, aber auch Charly und Fritze müssen feststellen, dass sie auf gewohnte Weise nicht weiterkommen. Der Schatten des Nazi-Regimes wird immer finsterer, die propagandistisch ausgeschlachteten Olympischen Spiele sind nur eine zeitlich begrenzte Lücke in der schwarzen Wolkendecke.
Mit Tagebuch einer Invasion setze ich die Lektüre über den Krieg Russlands gegen die Ukraine im Spiegel von Tagebüchern, Berichten und Essays fort. Andrej Kurkow ist einer der bekanntesten Autoren des Landes, er sieht sich als ethnischen Russen, der auf Russisch schreibt. Der Krieg ist in mehrfacher Hinsicht ein tiefer Einschnitt in sein Leben, Flucht aus Kyjiw, Schreibblockade bei fiktionaler Literatur, verschärfte Beschämung wegen des Russischen. Die Beiträge beleuchten das und viele andere Aspekte in einer Weise, dass der Krieg näher rückt, dessen Auswirkungen spürbar werden, auch wenn man im sicheren Deutschland sitzt.
Ein klarer Befehl: Überlebende von torpedierten Schiffen dürfen nicht an Bord eines U-Bootes genommen oder abgeschleppt werden. Es ist Krieg und Teil des Krieges ist das Töten von Menschen, oft auf brutale Weise. Der Roman Comandante bringt einen italienischen U-Boot-Kommandanten in die Lage, in der er eine Entscheidung treffen muss; er hilft den Schiffbrüchigen, trotz des Befehls, wegen eines höheren See-Rechts. Der spannend und aus ungewöhnlich vielen Perspektiven erzählte Roman von Edoardo de Angelis und Sandro Veronesi nimmt sich des Themas mit Blick auf die Gegenwart an und lässt den Leser nachdenklich zurück.
Ein Augenöffner ist das Buch von Anne Applebaum für mich gewesen. Die Verlockung des Autoritären befasst sich mit der Entwicklung von Polen, Ungarn, England und den USA in den zurückliegenden 25 Jahren, Abstecher nach Spanien, Frankreich und Italien runden den Streifzug ab. Es geht um grundlegende Fragen, woher der Drang nach autoritären Regierungsformen, die Mechaniken, die sie begünstigen, und natürlich auch, ob ein Ende der Demokratie vermeidbar ist. Deutschland spielt keine Rolle, als Leser kann man selbst die Frage stellen, ob und was übertragbar ist. Eine sehr wichtige Lektüre! Unbedingt empfehlenswert.
Physik! Wer jetzt meint, Reißaus nehmen zu müssen, bitte sehr. Ich habe Die Stunde der Physiker von Ernst Peter Fischer mit großem Gewinn gelesen. Nein, liebe Studienräte, ich habe nicht alles verstanden, schon gar nicht so weit, dass ich es wiedergeben könnte. Doch deswegen greife ich auch nicht zu solchen Büchern, sondern weil ich gern wissen möchte, wo meine Verständnisgrenzen liegen und einen Eindruck gewissen möchte, wie es jenseits davon aussieht. Was ich noch in der Schule gelernt habe, ist 19. Jahrhundert, Atommodelle, die zwischen 1922 und 1932 ersetzt wurden. Faszinierend die Gleichzeitigkeit von genialer Wissenschaft á la Planck, Bohr, Einstein, Heisenberg und dem populistischen Geschwurbel von Oswald Spengler.
Der zweite Teil der Romanreihe um Samson aus dem Kyjiw des Jahres 1919 ist leider nicht so gut gewesen, wie der Auftakt. Samson und das gestohlene Herz habe erwartungsfroh begonnen, war meine Leselust doch nicht zuletzt durch eine Lesung mit Autor Andrej Kurkow geweckt worden, doch nach wirklich gutem Beginn zerfaserte die Handlung auf eine seltsame Weise. Sie geriet krautig, die anfängliche Erzähllinie verblasste und das Geschehen mäanderte mehr, als es voranschritt. Gern hätte ich hier Positives geschrieben, mochte ich Samson und Nadjeschda doch gern. So bleibt die Hoffnung auf den dritten Teil.
Lohnt sich eine genaue Analyse der Rhetorik, derer sich die Rechten, insbesondere der AfD bedienen? Um die genau geplante Wirkung der Reden zu durchschauen, ist Was heißt hier »wir«? von Heinrich Detering hervorragend geeignet. Damit wird man niemanden erreichen, der bereits in den Fängen des braunen Gesindels ist, aber alle anderen werden mit dem nötigen sprachlichen Rüstzeug versehen, wie gefährlich es ist, dass Vertreter der Rechten allzu oft die Öffentlich-Rechtlichen Medien als Plattform nutzen können, um ihr Gift unwidersprochen oder hinterfragt zu verbreiten.
Ein Kleinod im besten Sinne ist Fall, Bombe, Fall von Gerit Kouwenaar. Die Novelle, die bereits 1950 erschienen ist, spielt im Jahr 1940 und schildert wie der siebzehnjährige Karel den Schritt der Niederlande in den Krieg vollzieht. Die Verschränkung zwischen Coming of Age und dem dräuenden Schrecken des deutschen Überfalls ist großartig. Nirgendwo sonst habe ich das Niemandsland zwischen Frieden und Krieg, wenn der eine verschwunden, der andere noch nicht angekommen ist, was alles zutiefst unwirklich erscheinen lässt, so atmosphärisch gelungen beschrieben gesehen. Ein Kandidat für das »Buch des Jahres 2024«.
Blog-Gestöber
Im Februar war meine Besprechung des Romans Comandante* von Edoardo De Angelis und Sandro Veronesi am stärksten nachgefragt. Wunderbar, denn das Thema ist aktuell und die Hauptfigur mit ihrem Kriegerethos ungewöhnlich. Kurios ist, dass mit Die wahre Geschichte der Wikinger von Neil Price ein Sachbuch auf dem zweiten Platz gelandet ist, das ich schon vor einigen Monaten besprochen habe. Es gehört zu meinen beiden Favoriten des Jahres 2023, also ist das kein Grund für Traurigkeit.
Ein Grund für das Interesse ist sicher, dass dieses monumentale Werk über die Nordmänner in einigen Artikeln über mein nächstes Buch Vinland – Piratenbrüder Band 4 erwähnt wird, die ebenfalls oft angesteuert wurden. Price hat noch einige Dinge zu meinem Roman beigetragen, auf den letzten Drücker (Walhalla-Sessrumnir), aber vor allem einen Grundgedanken fundamentiert: Zwischen Wikingern und Piraten gab es Berühungspunkte und Gemeinsamkeiten.
Trotzdem ist es ein Wagnis gewesen, einen Roman auf zwei Zeitebenen zu schreiben, ein Spaziergang im Wald hat letztlich die Entscheidung gebracht. Es handelt sich immerhin um den Mittelband einer Heptalogie um die Piratenbrüder Joshua und Jeremiah, bricht mit der Erzählstruktur und beeinflusst damit den folgenden Band, Totenschiff – Piratenbrüder Band 5, mit dem wieder auf eine Zeitebene zurückgekehrt wird. Der würde sich ohne die besondere Erzählstruktur von Teil 4 anders lesen.
Vinland erscheint am 20. März 2024.

Auf dem dritten Rang in der Lesergunst liegt die Besprechung eines Sachbuches zu einem Thema, das mir sehr am Herzen liegt: Anne Applebaums Die Verlockung des Autoritären. Die Autorin geht der Frage nach, warum so viele Menschen antidemokratischen Trommlern hinterherlaufen, wie es dazu kommen konnte, dass nach dem Sieg über die menschverachtende Sowjetunion 1990 die Demokratie nicht weiter auf dem Vormarsch war, sondern immer mehr autoritäre Regime sich etablieren konnten. Die Antworten sind wenig erfreulich.
Leseförderung
Zwischen 2012 und 2022 ist die Zahl der Buchkäufer in Deutschland um elf Millionen auf 26 Millionen gefallen. Das ist eine dramatische Entwicklung. Die Lektüre von Büchern hat unbestreitbare Vorzüge für den Lesenden, nicht nur im Gegensatz zum flüchtigen Hinwegfliegen von Mini-Beiträgen in den Sozialen Medien. Entsprechend schauerlich sind die Zahlen.
Immer wieder wird auf die Notwendigkeit der Leseförderung hingewiesen. Marius Müller (Buch-Haltung) hat in einem Beitrag die Idee einer Bücher- und Bildungsnation propagiert und eine ganze Reihe interessanter und wohl hilfreicher Vorstellungen zum Thema Leseförderung unterbreitet. Und ja: Bildung hängt von der Sozialen Herkunft ab, die Chancen, die sich daraus ergeben, auch.
Mir käme es nie in den Sinn, derlei infrage zu stellen. Leseförderung zum Erwerb von Kernkompetenzen ist zentral. Die Realitäten in der Schule sehen allerdings anders aus. 300 Seiten recht großzügig bedrucktes Lesewerk ist schon viel zu viel – für die Schüler und auch für die Portemonnaies der Eltern. Zehn Euro pro Buch ist das Maximum (kostenlos wäre besser)! Flatscreen-TV, Smartphone, Fernreise usw. müssen ja auch bezahlt werden.
Damit wären wir wieder bei der Herkunft. Wie sollte Schule gegen das vorgelebte Wertemodell des Elternhauses ankommen? Wie gegen die Algorithmen der großen Plattformen (und Streaming-Dienste)? Die sprechen das Belohnungssystem des Menschen gezielt an, sie leben von der Aufmerksamkeit, melken die Menschen regelrecht und entziehen ihnen das Kostbarste, was sie haben: Zeit.
Ein Buch kann da nicht mithalten, selbst mit dem quietschigsten Farbschnitt nicht, denn gelesen werden muss ja trotzdem. Das ist zunächst einmal bis zum Erwerb von Lesekompetenz nichts, was das Belohnungssystem anspricht.
Selbst wenn das Kind aus einem lese- und förderfreudigen Haushalt kommt, gibt es keine Garantie, dass es klappt. Aus nächster Nähe konnte ich beobachten, wie aus einem Lesemonster ein konsequenter Buch-Abstinenzler wurde. Dafür brauchte es nur wenige Wochen, Bücher und Lesen sind seitdem unrettbar verloren.
Mir liegt es völlig fern, aus diesem Beispiel auf die Gesamtheit zu schließen und etwa das Konzept oder den Sinn von Leseförderung infrage zu stellen. Leseförderung ist und bleibt wichtig und sollte massiv unterstützt werden. Sie hat nur mit mächtigen, ja überlegenen Gegnern zu kämpfen, die gar kein Interesse daran haben, dass es mehr Leser gibt.
Im Grunde genommen müsste Leseförderung mit eine Regulierung der Nutzung von SoMe-Plattformen usw. einhergehen, sonst wird das Fördern wie Heizen bei geöffnetem Fenster im Winter sein.
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