
Angesichts des rasanten, tiefgreifenden Wandels, den die Welt durchläuft, fällt es mir ein wenig schwer, an dieser Stelle den gewöhnlichen Blogbeitrag zu schreiben. Wozu auch? Habe ich etwas zu sagen, das nicht irgendwo anders gesagt ist? Der Chor an Meinungen ist dank der schönfärberisch Soziale Medien genannten Quassel- und Trollplattformen zu einer überbordenden Kakophonie angeschwollen. Schweigen, Zuhören, Nachdenken und Handeln erscheinen mir nicht als bessere Alternativen.
Besonders schwer fällt mir das Vorstellen von Büchern, die mehr oder weniger direkt etwas mit der dramatischen Dynamik der Veränderung zu tun haben. Natürlich möchte ich niemandem verwehren, auch zu besonderen Terminen wie dem Jahrestag der Befreiung von Ausschwitz oder dem zum Beginn der vollumfänglichen Invasion Russlands in der Ukraine die passende Lektüre vorzustellen. Auch die Bundestagswahl oder der orangefarbene Elefant im Porzellanladen der internationalen Politik sind Anlass, auf hilfreiche Bücher hinzuweisen.
Aber bewirkt das etwas? Ich habe mich schon oft bei der Lektüre von Büchern gefragt, für wen sie eigentlich geschrieben wurden, wen sie erreichen wollen – etwa bei Wozu Rassismus? des von mir sehr geschätzten Aladin El-Mafaalani. Nur jene, die mit der dort vertretenen Weltsicht etwas anfangen können, kaufen oder leihen solche Bücher; niemand, der eine ganz andere Haltung vertritt, kann auf diese Weise überzeugt, ja auch nur erreicht werden.
Auch bei Büchern gibt es das Problem der Echo-Kammer, wenn auch weniger ausgeprägt als in den Schwatz- und Pöbelplattformen. Bücher sind in der Lage, komplexe, widersprüchliche, ungeklärte und somit offene Sachverhalte in ihrer Vielschichtigkeit darzustellen. Kein Posting kann das. Insofern können auch jene, die grundsätzlich eine große Schnittmenge mit der Weltsicht eines Autors haben, von dem Buch erheblich profitieren. Lesen lohnt sich in diesem Sinne – doch das alles ändert nichts.
Natürlich ist die Verlockung des Autoritären auch in der CDU, FDP, BSW und Die Linke in der von Anne Applebaum beschriebenen Weise anziehend und die Warnungen von Timothy Snyder in seinem Buch Über Freiheit lassen die Alarmglocken schrillen. (Ausgerechnet im 250. Jahr des Beginns des Unabhängigkeitskrieges fällt die US-Demokratie in sich zusammen – was für eine Ironie des Schicksals!)
Doch wer schert sich um die Inhalte solcher Bücher? Die Verantwortlichen in den genannten Parteien streben Macht an, sie wollen diese gewinnen und erhalten. Sie wissen genau, was sie tun und wie sie das in einem dichten, medialen Nebel verschwinden lassen können. Wer durch die Sozialen Medien streift und dort jemandem außerhalb der eigenen »Weltsicht-Blase« begegnet, steht vor einem tiefen, unüberwindbaren Graben stehen, der jede Form der Kommunikation unmöglich macht.
Bücher können diesen nicht überwinden. Das gilt auch für Blogbeiträge. Das ist selbstverständlich kein Grund, auf die Lektüre von Buch und Blog zu verzichten, nur sollte man etwas zurückhaltend sein, wenn es um Attribute wie »wichtig« geht.
Kurzvorstellung der Februar – Bücher
Eine Empfehlung bei Instagram hat mich auf diesen Thriller aufmerksam gemacht. Die Übermacht von Stefan Grebe ist rasant erzählt und beschäftigt sich mit China. Anders als Russland wird uns das zur Weltmacht strebende asiatische Land in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch mehr beschäftigen, als vielen Zeitgenossen vielleicht bewusst ist. Das Buch mag zwar fiktional sein, die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fundamente für die Handlung sind solide gegossen und geben der Handlung die nötige Authentizität. Deutschland und Europa befindet sich in Bezug auf China politisch auf dem Holzweg, eine Diagnose von Experten, die nach der Lektüre dieses Thrillers mit viel Gehalt gefüllt ist. Mir haben die Hauptfiguren ausnehmend gut gefallen, die atemberaubende Dynamik der vor allem in Deutschland und China spielenden Handlung macht das Buch zum sprichwörtlichen Page-Turner. Manche Dinge möchte man gar nicht wahrhaben, was ein großes Lob darstellt. Für Freunde von Polit-Thrillern eine klare Empfehlung.
Dem Leben Klaus Manns haftete etwas Atemloses und Getriebenes an. Lange vor seiner Emigration im Jahr 1933 war er faktisch ohne festen Wohnsitz, er lebte in Hotels und Pensionen, war eigentlich immer unterwegs. Aber vor seinem Exil hatte er immer die Möglichkeit, zuhause unterzukommen. Der erzwungene Fortgang aus Deutschland entwurzelte also auch den Nomaden und verschärfte die vielfältigen Krisen: Drogen und Todessehnsucht. Was in der Weimarer Zeit noch rauschhaftes Spiel gewesen war, wurde zu einem Teufelskreis. Rauschaft war auch das Schreiben, die Romane waren rasend schnell geschrieben, neben zwei autobiographischen Schriften kamen ungezählte publizistische Beiträge, Briefe und das Tagebuch hinzu. Ein Leben als Symbol einer aus den Fugen geratenen Zeit, wie Thomas Medicus in seiner vorzüglichen Biographie Klaus Mann. Ein Leben meint.
Wahrscheinlich war es der kuriose Titel des Buches, der mich auf den Thriller aufmerksam gemacht hat: Der grillende Killer. Das weckt neben Irritationen auch eher unangenehme Assoziationen, doch die Tötungen werden in herkömmlicher Scharfschützen-Manier per Gewehr vollzogen. Der Leser wird mitten in die Handlung hineingestoßen und muss sich in der von Chang Kuo-Li erschaffenen Welt erst einmal orientieren. Asiatische Namen erschweren das, verschiedene Handlungsstränge, die zunächst unverbunden nebeneinander herlaufen, auch. Das habe ich als sehr spannend empfunden, wie sich aus dem Wirrwarr Stück für Stück ein Bild herausschält, während eine Figur quer durch Europa vor dem fast sicheren Tod flieht. Kuo-Li stammt aus Taiwan, was dem Ganzen eine zusätzliche, geopolitische Komponente gibt. Auch durch den krautigen Humor ein schönes Lesevergnügen.
Was für ein merkwürdiger Titel. Wohin rollst du, Äpfelchen … Im Begleittext zum Roman von Leo Perutz heißt es, Ende der 1920er Jahre wären diese Worte zu einem „Schlagwort“ für Ungewissheit und Zukunftsangst geworden. Der Roman beginnt im Ersten Weltkrieg, der österreichische Soldat Georg Vittorin wird in russischer Kriegsgefangenschaft gedemütigt. Ein Stachel in seinem Fleisch, der ihn so furchtbar plagt, dass er den Lagerkommandanten Seljukow töten will. Vittorins Rachefeldzug führt in mitten hinein in das tobende Bürgerkriegschaos im Russischen Reich nach Kriegsende, aus dem der Sowjetkommunismus sein blutiges Haupt erhebt. Eine rasante, dramatische Erzählung über eine verbissene Jagd in einer aus den Fugen geratenen Welt, die Vittorin durch halb Europa führt.
So oft schon sind mir Zitate aus Alice im Wunderland von Lewis Carroll begegnet. Sie gehen Romanen voran oder werden in die Handlung eingestreut. Aus meiner Kindheit kenne ich eine der zahllosen Verfilmungen – allerdings ist meine Erinnerung daran schwach. Also war es allerhöchste Zeit, mich mit dem Buch auseinanderzusetzen. Was für ein herrlicher Unsinn! Mich hat das Geschehen in gewisser Hinsicht überrollt. Anarchischer Klamauk mit vielen Wortspielen und ins Groteske verzerrter Logik-Akrobatik. Eine Katze ohne Grinsen habe sie schon oft gesehen, aber ein Grinsen ohne Katze … Das Buch ist von 1862, der Zeit von Theodor Storm und Fontane, Wilhelm Raabe – und davon Lichtjahre entfernt. Die vielen Anspielungen muss man entschlüsseln oder aber sich einfach durch dieses wilde Durcheinander treiben lassen.
Ein kleiner Schatz ist mir in Form des wunderschön gestalteten Buches Uhrwerke* von Rebecca Struthers. Die Autorin ist selbst Uhrmacherin und weiß nicht nur, wovon sie spricht, sondern hat ihr Metier geschickt mit den Zeitläuften verwoben. Seien es religiöse Entwicklungen, wie den Puritanismus, seien es wirtschaftliche in Gestalt des monströsen Frühkapitalismus oder auch heroische wie die vielfältigen Entdeckungsreisen und Abenteuerunternehmungen – die Zeitmessung nahm immer einen wesentlichen Anteil darin ein. Das Buch lässt den Leser also in die kleinen Wunderwerke hineinschauen und zugleich erahnen, wie groß der Einfluss auf den großen Lauf der Dinge war. Nebenbei gibt es noch eine Warnung mit auf den Weg: Das Schicksal der Uhrmacherei auf den britischen Inseln ist ein Menetekel – etwa für die deutsche Autoindustrie.
Einen Thriller würde ich Precipice von Robert Harris nicht nennen. Die Spannung rührt aus anderen Quellen. Der Roman schildert das Liebesverhältnis des britischen Premierministers H. H. Asquith mit der halb so alten Venetia Stanley, während der dramatischen Monate um den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Zwar gibt es einen Ermittler mit zwielichtigen Aufträgen, der auf der Spur von Geheimnisverrat ist und ab einem gewissen Zeitpunkt den (zur Hälfte authentischen) Briefwechsel der beiden verfolgt, doch steht die problematische Liebesbeziehung und ihre Auswirkungen auf den entscheidenden Politiker in dieser dramatischen Lage im Mittelpunkt. Harris lässt England unter Asquiths Führung in den Krieg und durch die ersten Monate schlafwandeln bis zum Desaster der Dardanellen-Operation. Neben diesem »Abgrund« setzt das Alter Asquith zu; Venetia scheint mehr ein Rettungsanker zu sein, das absehbare Ende der Affäre lenkt den Premier in der dramatischen Lage auf erschreckende Weise ab. Allein wegen der wunderbar in die fiktionale Handlung eingeflochtenen Briefe ein lesenswerter Roman.
Blog-Gestöber
Jüngst habe ich die ganz vorzügliche Biographie Klaus Mann von Thomas Medicus gelesen. Die Machtübertragung an Adolf Hitler Anfang 1933 hat auch aus dem Vagabunden ohne festen Wohnsitz einen Flüchtling gemacht, an der Entwurzelung trug er – wie alle anderen – schwer. Der Querido-Verlag bot den deutschsprachigen Exilanten die Möglichkeit, ihr Werke in ihrer Muttersprache zu drucken. Immerhin gab es außerhalb des Hitlerreiches für einige Jahre noch eine deutschsprachige Leserschaft. Zu dem Thema gibt es einen interessanten Beitrag bei Bücherliebhaberin: »Hölle und Paradies – Nationalbibliothek in Leipzig zeigt deutsche Exilliteratur des Querido Verlags«.
Irre ich mich vielleicht und helfen Bücher doch? Gibt es Bücher, die tatsächlich wichtig sind? Die Vielfalt der Blogger-Welt macht es möglich, verschiedene Antworten auf die gleiche Frage zu erhalten. Auf der Seite von Kaffeehaussitzer gibt es zwei Beiträge, die ich daher gern empfehlen möchte. Einmal die Buchvorstellung von Jens Biskys Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934, das ich auch auf meiner Lese-Liste habe – mit gutem Grund. Zum anderen aber hat Uwe Kalkowski dieses Buch mit einem Begleitschreiben an Friedrich Merz geschickt. Dem Lesen und Nachdenken folgt das Handeln – allein deshalb verdient diese Initiative Aufmerksamkeit.
Russlands Krieg in der Ukraine geht weiter, Deutschland unterstützt das angegriffene Land mit einem eher kümmerlichen Betrag, wie das Zitat von Christoph Brumme zeigt.
Die Deutschen haben im letzten halben Jahr ihre Militärhilfe für die Ukraine gesteigert – von monatlich vier Euro pro Kopf der Bevölkerung (mit deutscher Staatsbürgerschaft) auf jetzt vier Euro und fünfunddreißig Cent. Während man bei vier Euro noch sagen konnte, jeder Deutsche habe den Ukrainern monatlich den Gegenwert einer Tasse Cappuccino in einem Straßencafé spendiert, muss man heute der Fairness halber sagen, inzwischen geben sie noch einen Schokoladenkeks dazu.
www.honigdachs.com
Vielen Dank für die Verlinkung!
Damenopfer habe ich nicht gehört aber gelesen und fand es großartig.
Wie schön, dass dir das auch so gut gefallen hat! Und gern geschehen. 😉