Apokalypse im Dreißigjährigen Krieg. Die Kapitel, in denen Daniel Kehlmann die Verwüstungen schildert, die der nicht enden wollende Krieg angerichtet hat, sind von schauriger Schönheit. In diesem blutigen Strudel aus Tod, Dreck und Hunger kämpft Tyll Uhlenspiegel um ein Leben, dabei ist er keineswegs der einzige Narr, denn das Prädikat verdiente auch Friedrich V., der so genannte „Winterkönig“, ein Herrscher ohne Land und Leben. Die Lebenspfade beider überschneiden sich, Kehlmann nutzt die Perspektive geschickt aus, um den närrischen Irrsinn menschlichen Handelns auszubreiten. Ein großartiger Roman.
Mit dem Roman Das Meer der Illusionen endet das Havanna-Quartett des kubanischen Autors Leonardo Padura um den Polizisten und verkappten Schriftsteller Mario Conde. Es ist der beste der vier Bände, aus meiner Wahrnehmung heraus steigert sich der Autor von Teil zu Teil. Der Roman ist Literatur im Gewand eines Krimis, es geht – wie auch bei den drei anderen Teilen – um sehr viel mehr als die Lösung eines Mordfalles, Padura nutzt das Genre, um die Lebenswirklichkeit auf der Insel zu beschreiben. Die Qualität des Romans ist hoch, seine Figuren lebendig, lebenswirklich und authentisch, es gibt eine Reihe von Zumutungen, auch stilistischer Natur.
Mit der Graphic Novel Die drei Leben der Hannah Arendt von Ken Krimstein unternimmt der Leser eine Reise durch das Leben der Essayistin, Autorin und Philosophin. Die Stationen ihres Daseins sind geprägt von dramatischen Ereignissen, wie der Flucht aus Marseille vor den kollaborierenden französischen Sicherheitskräften, doch ist das Buch noch sehr viel mehr: Es macht deutlich, mit welchen Fragen sich Arendt beschäftigt hat, was ihre originellen und singulären Antworten an Gegenwind (Shit-Storms) ausgelöst haben und dass es durchaus sinnvoll ist, von ihr einmal einen Text zu lesen.
Was für eine Provokation! Bernhard Jussen unternimmt mit seinem so harmlos klingenden Buch Das Geschenk des Orest* einen Frontalangriff auf die bisherigen Deutungskonventionen der Zeit, die als „Mittelalter“ geläufig ist; ebenso kehrt der Autor die bisherige Materialauswahl um und stellt Medien in den Mittelpunkt seiner Arbeit, die bislang bestenfalls als Bestätigung der gängigen Schriftquellen verwendet wurden. Das stellt den Leser vor eine Herausforderung, allerdings eine lohnenswerte, denn ihm eröffnet sich ein völlig neuer Blick auf die Geschichte zwischen 525 und 1535.
Großen Spaß hat mir das Hören des Sachbuches Die beste aller möglichen Welten von Michael Kempe gemacht, in dem dieser einige Stationen und viele Denkwege des Gelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz nachzeichnet. Allein die Frage, wie viele Welten es eigentlich gibt, ist auf eine originelle Weise beantwortet und wie die allermeisten anderen Aspekte im Buch anregend zum Nachdenken. Nebenbei erfährt der Leser / Hörer eine Menge über die Zeit und das Leben eines Denkers im Europa des Absolutismus und der Gelehrtenrepublik.
Die Textsammlung Krieg und Frieden. Ein Tagebuch lässt Autorinnen und Autoren aus mehreren europäischen Staaten zum Thema Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zu Wort kommen. Die sind nun bald zwei Jahre alt, haben aber oft nicht oder nur wenig an Aktualität verloren. Vor allem lassen sie Menschen zu Wort kommen, deren Stimmen im gewöhnlichen Mediengetöse schlichtweg untergehen. Manche der Beiträge kann man nur mit einem Stirnrunzeln lesen, sie sind aus der Situation heraus verfasst und entsprechend wertvoll.
Robert Musils kurze Schrift Über die Dummheit versucht, sich dem Thema auf intellektuelle Weise zu nähern. Letztlich bleibt offen, was Dummheit eigentlich Dummheit ist, immerhin gelingt Musil eine Abgrenzung zu anderen Phänomenen. Besonders interessant fand ich die Aufteilung in eine schlichte und hohe Dummheit, wobei letztere die wesentlich gefährlichere Variante darstellt. Allerdings ist mit Blick auf die Macht der so genannten Sozialen Medien fraglich, ob man das noch stehen lassen kann.
Warum klingen Science Fiction-Romane manchmal ein wenig wie Gebrauchsanleitungen? Statt für Toaster eben für Raumschiffe, Landefähren, Raumanzüge oder irgendwelche technischen Dinge, die während der Handlung in irgendeiner Weise eine Rolle spielen, zum Beispiel repariert werden müssen. So ist das im Falle von Enceladus von Brandon Q. Morris, einem Roman über eine Mission im Sonnensystem zum gleichnamigen Mond. Die Personen sind mäßig ausgestaltet, die Interaktionen lassen oft zu wünschen übrig, die Auswahl der Crew geschieht in der Realität hoffentlich auf professionellere Weise. Ein Lesevergnügen im Rahmen einer vorabendlichen Wissenschaftssendung.
Blog Gestöber
Zum Jahresauftakt erfreute sich der Kriminalroman von Leonardo Padura mit dem Titel Das Meer der Illusionen der größten Aufmerksamkeit auf meinem Blog, gefolgt von den Graphic-Novels Die drei Leben der Hannah Arendt von Ken Krimstein und Wannsee von Fabrice le Hénanff.
In allen Blogbeiträgen verlinke ich bestimmte Begriffe, vor allem Buchtitel, mit anderen Artikeln. Wenn ich auf anderen Blog stöbere, folge ich fast immer derartigen Links, oft mit Gewinn: So habe ich Angela Steidele, Aufklärung überhaupt erst entdeckt. Das Link-Folgen hat aber Nachteile, wenn ein recht stattlicher Bücherstapel noch auf die Lektüre wartet. Für diese Fälle gibt es aber die berühmt-berüchtigte »Liste«, auf die alles landet, was interessant klingt, aber nie gelesen werden kann, weil die Zeit fehlt.
Neu auf dem Blog sind auch zwei Beiträge aus meiner Schreibwerkstatt: Schatten im Nebel befasst sich mit dem Thema des Aberglaubens unter Seefahrern, die Meeresungeheuer, Schiffsfriedhöfe und Geisterschiffe für bare Münze nahmen. Der Beitrag Kreative Faulheit – nun, der Titel spricht eigentlich für sich.
Im Januar habe ich weniger gelesen, als gewöhnlich, was an The Lord of the Rings und Vinland bzw. Totenschiff liegt. Tolkiens monumentales Epos schmökere ich erstmals im Original, was seine Zeit kostet, meine nicht ganz so umfangreichen Bücher lese ich auch: den Probedruck zu Vinland und das Lektorats-Manuskript von Totenschiff.
Ältere Beiträge überarbeiten oder nicht?
Im vergangenen Jahr habe ich eine ausgezeichnete Biographie über den Schriftsteller Wolfgang Herrndorf gelesen. Bekannt geworden ist er einmal durch seine Road-Novel Tschick, aber auch durch seinen tragischen Tod: Unheilbar erkrankt an einem Glioblastom hat Herrndorf seinem Leben selbst ein Ende gesetzt.
Vor Erscheinen der Biographie habe ich zwei Buchbesprechungen auf meinem Blog veröffentlicht. Eine zu seinem hervorragenden und nicht einfach zugänglichen Roman Sand, außerdem über In Plüschgewittern, einem Roman aus den frühen Nullerjahren dieses Jahrtausends.
Erwartungsgemäß wirft die Biographie ein neues Licht auf die Romane von Herrndorf, was auch meine Buchbesprechungen betrifft. So ist mir zum Beispiel nicht klar gewesen, dass In Plüschgewittern nicht nur neu aufgelegt, sondern auch erheblich überarbeitet worden ist.
Mein Leseansatz ist nach wie vor vertretbar, würde so aber nach der Lektüre der Biographie nicht mehr in die Buchvorstellung einfließen. Das gilt mit Abstrichen auch für Sand, dort ist die Angelegenheit aber komplizierter, denn das Buch bietet für unterschiedliche Deutungsansätze erheblichen Spielraum.
Seit der Lektüre der Biographie überlege ich immer wieder, ob ich die Beiträge einfach so lassen, mit einer Anmerkung versehen oder gar überarbeiten soll. Bislang habe ich mich dafür entschieden, nichts zu ändern – die Texte gehören auch zu der Zeit, in der sie verfasst wurden.
Jüngst ist mir das wieder passiert; ein Buch, das sich mit Quantenphysik befasst, hat einen Hinweis darauf geliefert, dass die »Unschärferelation« von Heisenberg eine eher unglückliche Begriffswahl ist, um das Phänomen zu beschreiben; »Unbestimmtheit« wäre passender, denn ganz offenkundig geht das weit über das hinaus, was oft als »Unschärfe« beschrieben wird.
In dem Roman Der Schlachtenmaler wird an einer Stelle explizit auf die Quantenphysik Bezug genommen – ich habe das in meiner Buchbesprechung mit einfließen lassen und auf den oft gebrauchten Begriff der »Unschärfe« bezogen. Jetzt muss ich feststellen, dass »Unbestimmtheit« tatsächlich ein durchaus interessanter, weitergehender Ansatz ist, der die Interpretation durchaus beeinflussen könnte.
Hier stellt sich nun abermals die Frage, ob die Buchbesprechung so bleiben kann oder verändert bzw. ergänzt werden sollte.
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