Es war ein großartiger Lesemonat. Jedes Buch, das auf dem Bild zu sehen ist, war ein Gewinn. Fünf Romane, zwei Sachbücher, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten und eine atemberaubende Graphic Novel.

Im Juli habe ich einen literarischen Ausflug in eine dystopische Welt unternommen und zwar gleich zweifach. Den brillanten Endzeit-Roman von Cormac McCarthy Die Straße habe ich nach vielen Jahren zum zweiten Mal mit großem Lesegenuss und fürchterlichem Unbehagen gelesen, um anschließend in die Umsetzung als Graphic Novel einzutauchen: Die Strasse von Manu Larcenet ist hervorragend gelungen.

Die Besprechung zu Die Strasse wurde im Juli von den Besuchern meines Blogs am häufigsten angesteuert, der monumentale Roman Shōgun von James Clavell zog die zweitmeiste Aufmerksamkeit auf sich, gefolgt von einem ganz wunderbaren Roman aus Kuba: Anständige Leute von Leonardo Padura.

Ein ausführliche Sachbuchbesprechung gab es von mir im Juli nicht, zum nächsten Blog-Monat wird wenigstens eine neue erschienen sein. Die letzten Besprechungen zu den Büchern von Holger Afflerbach, Auf Messers Schneide, und Charlotte Schubert, Tod der Tribune, wurden aber auch im zurückliegenden Monat sehr häufig gelesen.

Anfang des Monats gab es einen großen Moment, als der Probedruck von Totenschiff Piratenbrüder Band 5 hier eintraf. Traditionell lese ich diesen laut vor, suche nach letzten Fehlerchen und Schwächen, nach deren Korrektur der Veröffentlichung nichts mehr im Wege steht. Totenschiff ist mein bislang bestes Buch, da sind Testleser, Lektorin, Korrektorin und ich ausnahmsweise einer Meinung.

Die Hauptfigur der Romanreihe um die Piratenbrüder, Joshua Walther Thomas Heat, hat nicht nur eine recht stattliche Zahl an Namen, eine bemerkenswerte Ahnenreihe (wie wir aus Vinland – Piratenbrüder Band 4 wissen), sondern trägt auch viele »Ehrentitel«. Wer die Aufzählung ansieht, begreift schnell, dass Joshua sich auf diesem Weg ein wenig über sich selbst lustig macht.

Joshua begegnet sich selbst mit einigem Spott, indem er sich »Ehrentitel« zuspricht. Das setzt sich während der gesamten Buchreihe um die Piratenbrüder fort.

Kurz-Besprechungen der Juli-Bücher

Leonardo Padura schickt Mario Conde wieder los, um einen Mordfall aufzuklären. Der Ex-Polizist, der am Ende des »Havanna-Quartetts« den Polizeidienst quittierte, wird von einem alten Kollegen um Unterstützung gebeten. Die Sicherheitskräfte Kubas sind durch den anstehenden Besuch Obamas und der Rolling Stones überlastet. Nolens volens hilft Conde aus, obwohl er eigentlich einen lukrativen Nebenjob und ein Thema zum Schreiben hat: Letzteres dreht sich um einen berühmten Zuhälter Kubas, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts nach politischem Einfluss strebte. Diese Geschichte wird in einer zweiten Zeitebene erzählt, während Conde mit seiner eigenen, weniger weit zurückliegenden Vergangenheit und den politischen Abgründen des Systems konfrontiert wird. Anständige Leute* wirf im Kern weniger die Frage auf, wie man »anständig« bleibt, sondern was »Anstand« eigentlich bedeutet. Wer Zeit findet, sollte Labyrinth der Masken lesen, auf dessen Inhalt immer wieder Bezug genommen wird. Aber auch ohne ist die Lektüre einfach ein Genuss.

Was für ein wunderbarer Schmöker! Angeregt durch die Serie habe ich endlich meinen seit Jahrzehnten gehegten Wunsch verwirklicht, Shōgun von James Clavell zu hören / lesen. Mir war episch zumute und das wurde von diesem Roman auf ganz großartige Weise bedient. Ein Epos in jeder Hinsicht, ungemein spannend erzählt, vielschichtig, die  taktischen, geopolitischen, persönlichen, gesellschaftlichen, religiösen und kulturellen Antagonismen, Missverständnisse und Motive sind ganz toll dargestellt. Mich haben sie in ihren Bann geschlagen. Das Buch hat mir dabei bedeutend besser gefallen als die Verfilmung, es gibt so viele Glanzpunkte. Latein als Sprache der Liebenden, dabei ist es doch auch die Geheimsprache der Priester. Das gegenseitige »Missverstehen«, nicht nur, wenn es um das Kopfkissen-Teilen geht. Wer sich daran stört, dass Clavell konsequent auktorial erzählt, soll ruhig in der Erzählhaltungsschmollecke hocken bleiben.

Die Welt des 18. Jahrhunderts ist so unendlich fremd. Wer Nie war es herrlicher zu leben: Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ 1718 – 1784 herausgegeben von Hans Pleschinski liest, wird rasch damit konfrontiert, dass »verstehen« relativ ist, wenn es um die Vergangenheit geht. Der Leser staunt und wundert sich. Allein die Sprache im Superlativ – alles ist allerliebst, herzlichst, vorzüglichst, fröhlichst, hinter dem gezierten Ton schimmert das nicht minder gezierte Gebaren durch. Ein Leben im Kampf um Beziehungen, unterworfen vom Ehrgeiz nach Titeln, Ämtern, einer geordneten und passenden Nachfolge. Interessant auch, was keine Rolle spielt: das einfache Volk. Es ist bestenfalls Kulisse, meist könnte man meinen, Frankreich wäre bis auf die Adeligen, Geistlichen und Offiziere verwaist. Gern hätte ich mehr über die Feldzüge erfahren, an denen der Tagebuchschreiber teilnahm, doch auch so ist es sehr wertvoll – wenn man z.B. die Serie Franklin sieht, versteht man, worauf das fußt und wie sehr – notwendigerweise – im Sinne des Verstehens dort aktualisiert werden musste.

Im Jahr 2008 habe ich Die Straße von Cormac McCarthy erstmals gelesen. Seitdem geistern eine ganze Reihe von Bildern, Formulierungen und Szenen aus diesem dystopischen Roman in meinem Gedächtnis herum, wie es scheint, werde ich diese erst dann vergessen, wenn ich alles vergessen werde. Erzählt wird eine Art Road-Novel nach einer Katastrophe. Vater und Sohn bewegen sich auf der Straße nach Süden, dem Meer entgegen. Kälte, Dunkelheit, Hunger (nicht Hungrig-Sein) und eine stete Bedrohung an Leib und Leben sind ihre Weggefährten. Dramatische Szenen spielen sich ab, Grauen und Anspannung weichen nicht; immer wieder müssen sie Risiken eingehen, um Vorräte zu finden, immer wieder den herumstreifenden Horden und Marodeuren ausweichen, immer wieder Hilfe verweigern, weil ihnen das andernfalls selbst den Tod brächte. Eine totale Situation, in der die Wahl auf Sterben oder Leben reduziert ist. Die Sprache ist karg, die Dialoge knapp und doch ist alles voller Emotion, auch wenn diese unausgesprochen bleibt. Das Ende dieses gewaltigen dystopischen Romans ist ausgesprochen gelungen und passend zu dessen Handlung.

Atemberaubend gezeichnet ist die Graphic Novel Die Strasse* von Manu Larcenet nach dem gleichnamigen Roman von Cormac McCarthy. Die Bilder fangen die schreckliche Atmosphäre ein, die in der Endzeit-Dystopie herrscht. Kälte, Stille, Asche, Regen, Gewalt. Grau ist die beherrschende Farbe, wenn der Winter hereinbricht, wird es Weiß. Immer scheinen die beiden Hauptfiguren verloren zwischen den zertrümmerten Städten, den Wracks und endlosen Landschaften im krisseligen Aschetreiben. Manchmal färbt sich der Ton rot, dann wüten fern gewaltige Brände oder es droht Gefahr. Marodeure, Banden, kleine Armeen ziehen über die Straße, mehrfach sind Vater und Sohn an Leib und Leben bedroht. Vor allem aber müssen sie Häuser untersuchen, um Vorräte zu finden, sonst würden sie verhungern. Dort lauert der Wahnsinn verstümmelter Leichen und oft auch der Tod, rötlich unterlegt, schauerlich und hochspannend. Das Leben in dieser Welt ist total, die Graphic Novel hat das meisterhaft eingefangen. Dazu tragen auch die Dialoge bei, die teilweise wörtlich aus dem Roman stammen; dennoch hat sich Larcenet Freiheiten gestattet, ohne mit dem Buch zu brechen. Eine großartige Umsetzung der Romanvorlage.

Für die Amerikanerin Paula Bloom ist die Rückkehr nach Europa und Deutschland im Jahr 1945 eine Fahrt in eine Welt voller Widersprüche. Im Zuge der Entnazifizierung werden Angehörige des Nationalsozialistischen Deutschland angeklagt und verurteilt, gleichzeitig greifen die Alliierten auf für sie wertvolle Deutsche zurück, auch wenn diese belastet sind. Paula wird mit den Kriegsgräueln, den Zerstörungen, der Schuld und der allgemeinen Verweigerung der Verantwortung konfrontiert, während sie versuchen soll, die Wahrheit über einen angeblichen jüdischen Top-Spion der Nazis herauszufinden. Dabei holt sie auf überraschende Weise ihre eigene Vergangenheit ein, als Tochter eines US-Geschäftsmannes in Berlin glaubt sie, Schuld auf sich geladen zu haben, Land und Leute nur hassen und den Zynismus in ihrer Umgebung nicht ertragen zu können. Für das Ritchie Girl eine schreckliche Herausforderung. Der Roman ist sehr spannend, intensiv erzählt und von kleinen Abstrichen eine tolle Lektüre.

Gelegentlich musste ich mich bei der Lektüre von Graue Bienen vergewissern, dass es Andrej Kurkow einen zeitgenössischen Roman geschrieben hat und nicht einen aus dem 19. Jahrhundert. In dem Dorf, in dem der Bienenzüchter Sergej lebt, scheint die Zeit partiell stehengeblieben zu sein. Nur in Spurenelementen ist die Moderne zu erkennen, etwa dem Handy. Und natürlich dem Krieg, der seit 2014 im Osten der Ukraine tobt. Ein grauer Mensch in der Grauen Zone zwischen den Kriegsparteien, gemeinsam mit seinem Freundfeind Paschka hält er als Einziger im Dorf die Stellung. Sergejs Sorge gilt seinen Bienen, so unternimmt er eine Fahrt, um ihnen die Möglichkeit zu geben, frei zu fliegen. Dabei wird er mit den Abgründen von Russlands Krieg gegen die Ukraine konfrontiert, ebenso mit den brutalen, menschenverachtenden Maßnahmen des Putin-Regimes. Der Kontrast zwischen dem ruhigen, nach Frieden strebenden Bienenfreund und den Verhältnissen verstärkt den Schrecken.

Wenn man sich als Schwarzer versteht und die eigenen, unzweifelhaft leiblichen Kinder blaue Augen, blondes Haar und helle Haut haben, geraten einige Gewissheiten ins Rutschen. So geschehen bei Thomas Chatterton Williams, der in seinem Selbstporträt in Schwarz und Weiss von dem Konzept race Abschied nimmt. Im Vorwort wird die Verwendung der Begrifflichkeiten wie race oder asian etc. erläutert. Die Lektüre dieses sehr interessanten Buches hält sehr viele überraschende Erkenntnisse bereit, man wird mit einer Vielzahl an unbekannten Fakten und Zusammenhängen, Ansichten und Strömungen konfrontiert. Der Autor nimmt dabei auch jene kritisch in den Blick, die zwar Gutes bewirken wollen, aber auf die alten Denkstrukturen bauen, diese zementieren. Stattdessen setzt er auf ein schwieriges Konzept, nämlich race zu verlernen. Tschüß, Hautfarbe! Tolles Buch, günstig bei der Bundeszentrale für politische Bildung zu erwerben.

*Rezensionsexemplar

Blog-Gestöber

Gleich zu Monatsbeginn bin ich über zwei sehr interessante Blog-Beiträge gestolpert, auf die ich gern verweisen möchte. Da wäre zum einen ein sehr ausführlicher, detailliert analysierender Text zu Jenny Erpenbeck, Kairos auf dem Blog AISTHESIS. Zum Inhalt will ich mich nicht äußern, auch weil ich den Roman weder kenne noch lesen werde und die Debatte nur am Rand mitbekommen habe. Gefallen hat mir allerdings die Form der Besprechung und insbesondere die Betonung, dass es sich bei Kairos um einen Roman, also ein fiktionales Werk handelt.

Der zweite Beitrag dreht sich um die Buchbranche und die Diskussion über Bücher. Kernthese von Marius Müller auf seinem Blog Buch-Haltung: Die Debatte ist tot. Die genaue Diagnose möchte ich hier nicht nachbeten, die Schlussfolgerungen ebenfalls nicht, stattdessen nur auf zwei Dinge hinweisen, die eine Debatte im geforderten Sinn erschweren. Da wäre die Neigung, alles, was nicht in die eigene »Denk-Nische« passt, niederzukartätschen, zweitens der Druck zum Hamsterrad durch die Algorithmen: Wer Reichweite will, der muss Masse liefern. Wo bleibt da Zeit zum Nachdenken & Zuhören? Sehr anregende Lektüre.

Aus der Ukraine kommt ein Kriegssplitter von Christoph Brumme: Auf Position lautet der kurze Bericht, der einen nachdrücklichen Eindruck von der grotesken Grausamkeit des Krieges hinterlässt. Sechzig Meter liegen zwischen Ukrainern und Russen, man kann den Gegner husten hören. Ein Motiv, das auch aus den früheren, in Romanen beschriebenen Kriegen vertraut ist; und – weil gegenwärtig, nicht allzu weit von hier geschehend – so unwirklich.

Jüngst habe ich den Roman  Shōgun von James Clavell beendet. Der Verlag verweist im Nachwort darauf, dass man Passagen, in denen die Sprecher rassistische Bemerkungen machen (1620!) nicht geändert habe und verweist auf das Urheberrecht von Autor und Übersetzer, die beide verstorben sind. Ich finde das aus ganz verschiedenen Gründen gut, grundsätzlich habe ich massive Vorbehalte gegen derartige Änderungen. Einige davon habe ich aus einem ausführlichen Beitrag zur problematische Selbstzensur von Verlagen auf dem Blog lesestunden.