
Vor rund einem Jahr war ich mir sicher, dass ich mir zwölf Monate später wünschen würde, die Zeit wäre stehengeblieben. Das war kein Versuch, die Zukunft zu lesen, mich wichtig zu machen oder irgendjemanden zu frustrieren, es war eher Ausdruck einer pessimistischen Hilflosigkeit. Die vorsichtige Formulierung ist meiner damaligen Hoffnung geschuldet, die US-Demokraten würden es irgendwie schaffen, Trump zu verhindern.
Naiv, rückblickend betrachtet. Eine weitere Fehleinschätzung war die FDP, ich dachte, die Herrschaften kleben wenigstens so lange an ihren Sesseln, wie es geht – um den konstruktiven Kräften der Ampel Zeit zu verschaffen. Weder hätte ich Lindner die Courage zugetraut, den Sprung ins Dunkle zu wagen, noch die grandiose Idee, das mit einem politischen Sprengstoffgurt um den Bauch zu tun.
Nun ist die Welt düsterer geworden. Was mich besonders betroffen macht, ist die Wiederholung von Fehlern. Ich meine damit die immer und immer wieder auftretende Neigung, Äußerungen von Trump, Putin & Co. so auszulegen, dass sie in den eigenen Referenzrahmen passen. Wenn der US-Präsident sagt, Europa wäre ein Gegner, dann meint er das. Auf eine andere Weise als Putin, doch mit kaum weniger schwerwiegenden Konsequenzen.
Ich bin verblüfft, wenn Leute das Gehabe von Trump, den Mullahs und Kim als »Irrsinn« brandmarken. Das ist eine Einbahnstraßen-Sicht, wie bei Putin vor 2022, 2014, 2008 und auch in Zukunft. Ich habe weiter oben nicht umsonst auf Christian Lindner verwiesen, von außen betrachtet war es auch »Irrsinn«, die Koalition zu sprengen und die eigene Partei in den Abgrund zu reißen – trotzdem hat er diesen »Irrsinn« mit Hilfe vieler einflussreicher Parteimitglieder durchgezogen.
Aus meiner Sicht braucht man sich über den wirtschaftlichen Absturz der USA nicht sonderlich zu freuen, denn der wird – vermutlich – für Trump keine unmittelbaren Folgen haben. Sündenböcke (Europa, Migranten) lassen sich leicht finden, Erfolge auf Kosten anderer (Ukraine, Osteuropa, Grönland, Panama) phantasieren und damit ist das Instrumentarium der Autoritären noch lange nicht ausgeschöpft. Die Macht der Desinformation ist gigantisch, Timothy Snyder hat in Über Freiheit geschildert, dass er schon vor knapp zehn Jahren erstaunt registrierte, wie gut russische Propaganda in den USA funktioniert.
Was kann man tun? Nun, zum Beispiel die Ukraine unterstützen. Lesen, was Ukrainer schreiben. Spenden. Private Spenden sind wichtig, auch wenn sie sich gegenüber dem, was Staaten zahlen, gering ausnehmen. Bei näherem Hinblicken sieht es anders aus. 5,30 Euro pro Kopf und Monat beträgt der Gegenwert der deutschen Unterstützung – das kann man als Einzelner locker übertreffen. Um etwas zu bewegen, müssen nicht alle mitmachen, aber jeder einzelne zählt.
Kurzvorstellung der März-Bücher
Im letzten Blogmonat vergessen, daher jetzt rasch nachgetragen: Alles umsonst von Walter Kempowski führt den Leser in den Januar 1945 nach Ostpreußen. Die Rote Armee steht zum Sturm bereit, doch im Gut Georgenhof nahe der (erdachten) Kleinstadt Mitkau lebt man, als ob nichts wäre. Die Personen sind in Unwirklichkeiten versponnen, dabei kann man das dräuende Unheil kaum übersehen. Kriegsgefangene, verschleppte Zivilisten leben und arbeiten auf dem Hof und in der Umgebung, es gibt Andeutungen über die grausamen Verbrechen im Osten, Luftangriffe, an die Front rollende Panzer, handfeste Warnungen. Die Zeichen sind leicht zu deuten, doch reagieren die Bewohner viel zu spät, zu zögerlich und geraten in den Mahlstrom des Untergangs. Ich konnte gar nicht anders, als zu überlegen, ob sich dahinter nicht eine allgemeingültige menschliche Verhaltensweise verbirgt. Ein ganz großer Roman, der erste meines Lesevorhabens Wiedergelesen – 4für2025.
Wer ermordete Julius Caesar? Die Frage lässt sich recht leicht beantworten, die Namen der Männer, die den Diktator mit zahlreichen Messerstichen töteten, sind bekannt. Einige darunter sind berühmt, etwa Brutus, der Vorgang ist zahllos in Dramen (Shakespeare), Romanen (Robert Harris) und anderen fiktionalen Werken behandelt worden. Wozu also noch ein Buch über die Mordsache Caesar? Autor Michael Sommer hat gute Gründe, sich dem Fall anzunehmen, denn die eigentliche Frage ist doch die nach den Motiven der Mörder. Wann und warum wurde der weitreichende Entschluss gefasst, Caesar zu töten? Die Spurensuche führt tief in die römische Geschichte, sie enthüllt für uns recht fremde Gegebenheiten der römischen Politik, in der Herkunft, Namen, Abstammung und Ruhm eine so immense Bedeutung hatten und schildert anhand von ausgewählten Personen die Werdegänge der späten Republik. Der Leser bekommt ganz nebenbei einen Eindruck, wie schwerwiegend die Abkehr von einem bestimmenden Politik- und Gesellschaftsstil sein kann.
Mit Schreibratgebern stehe ich auf Kriegsfuß. Zu groß finde ich die Gefahr, dass kreatives Schreiben zu regelkonformen Tippen verkommt, einer Art Malen nach Zahlen; schlimmstenfalls auch noch auf Marktkonformität getrimmt. Im Zentrum meines Schreib-Interesses steht das Thema, das mich so beschäftigt, dass ich mich damit schreibend auseinandersetzen möchte. Daher interessieren mich Bücher wie Becoming a Writer von Dorothea Brande, auf die Hilary Mantel in einem Interview aufmerksam gemacht hat. Es ist ein Ratgeber, der sich jedoch mit der Person des Autors befasst und – wenn man so will – vor der Beschäftigung mit Schreibtechniken und vielleicht auch Schreibkursen gelesen werden sollte. Es geht nämlich um das Wichtigste im Leben eines „Writers“, nämlich einer zu sein, wie einer zu leben und zu arbeiten. Sie betont die Eigenverantwortlichkeit des Schriftstellers, von der ihn niemand befreien kann, weder Lektor noch Testleser noch Schreibratgeber.
Eine Menge Erstaunliches hält Faramerz Dabhoiwala in seinem Buch Lust und Freiheit für den Leser bereit. Der Fokus liegt auf England, vor allem dreht es sich um das 17. und 18. Jahrhundert. Der Wandel im Verhältnis zur Sexualität ist verblüffend, eine Disruption würde man heute sagen. Nicht zu unrecht verwendet Dabhoiwala den Begriff Revolution. Ausgehend vom Mittelalter und der Frühen Neuzeit mit ihren Versuchen, ein sexuelles Moral-Regime zu errichten, beschreibt das Buch, wie die Betrachtungsweisen peu á peu aufweichen und einer neuen Haltung Platz machen. Es sind kuriose, zum Teil erschreckende Befunde, die aus den ausführlich zitierten Quellen sprechen. Frauen mussten eine Menge schauerlicher Dinge erdulden, die errungene Freiheit galt vor allem für (sozial höhergestellte) Männer. Wie die Französische Revolution und die von 1848 wurde ein Teil der Gesellschaft vom Streben nach Freiheit ausgeschlossen, die verheerende Doppelmoral schuf erbarmungswürdige Zustände und abenteuerliche Versuche der Abhilfe.
Ein mäandernder Streifzug durch die Lebenswelt der Römer, wie sie in Geschichtsbüchern oft nur am Rande erwähnt wird. Michael Sommer bringt Licht ins Dunkel des Dark Rome, ein Unterfangen, das sich glücklicherweise nicht darin erschöpft, durch Schlüssellöcher die intimen Sphären des (außer-)ehelichen Lebens auszuspähen. Apropos Schlüssel: Wohlhabende Römer stellten ihren Reichtum durch Ringe mit Schlüsseln daran zur Schau. Neben solchen Details geht es aber auch um Grundsätzliches, etwa die Notwendigkeit, legitime Nachkommen in die Welt zu setzen. Das galt vor allem für die Oberschicht, keusches Verhalten der Frauen war von zentraler Bedeutung. Die Sittenstrenge lockerte sich, je weiter die gesellschaftliche Leiter hinabgestiegen wurde, doch auch dort war die Not groß, wenn ungewollt Kinder gezeugt wurden. Dark Rome ist ein Kaleidoskop der widersprüchlichen Vielfalt römischen (Alltags-)Lebens.
Die Gedichte von Paul Celan kann man mit verständnislosem Staunen lesen und wiederlesen, sich daran abarbeiten, assoziierend nachdenken. Oder aber man greift zu einer Ausgabe, die neben den Poemen erhellendes Material bereithält. Die Todesfuge und andere Gedichte ordnet eine Auswahl von Celans Gedichten ein, erläutert Textpassagen und einzelne Wörter und unternimmt erste Schritte Richtung Interpretation. Naturgemäß ist dieser Teil wesentlich umfangreicher als die Lyrik. Der Leser wird zudem über Celans Leben informiert, außerdem ist eine recht lange Rede des Dichters anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises abgedruckt. Das ist ein wenig wie bei einer Kunstflugschau, bei der man dem kurvenden Kreisen in luftigen Höhen staunend zuschaut und unwillkürlich die Frage stellt, ob die Schwerkraft vielleicht doch nicht allgegenwärtig ist.
Die Pflanze im Schnabel der Friedenstaube ist kein Zufall. Ausgerechnet Cannabis soll der DDR die dringend benötigten Devisen verschaffen, bezahlt vom Klassenfeind aus dem Westen, gehandelt in einer Art Grauzone an Grenzübergängen. Die Idee, im besten Gewissen zum Vorteil der DDR und des sozialistischen Bruderlandes Afghanistan erdacht, entwickelt ungeahnte Dynamik (und Gelächter beim Leser), eine Drogen-Flut droht aus dem Osten in den Westen Deutschlands zu schwappen. Alles ist so wundervoll harmlos, lustig, grotesk erzählt, unter diesem Deckmantel herrlich subversiv. Die Figuren entlarven den verlogenen DDR-Sozialismus (und nebenbei auch die Bigotterie im Westen – Milliarden-Kredit!) und brechen aus den verkrusteten Strukturen aus. Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste* von Jakob Hein ist ein Schelmenroman im besten Sinne. Chapeau!
Wie lebten und wie starben die Leute von Pompeji? Diesen Fragen geht das Kompendium Die letzten Tage von Pompeji* von Martin Pfaffenzeller und Eva-Maria Schnurr (Hg.) in vielen kurzen Beiträgen nach. Klar ist, dass die Umstände der Katastrophe apokalyptisch waren: Bimssteinregen, der die Gassen überflutete und Dächer zum Einsturz brachte; heiße Aschewolken; eine Glutlawine. Die Stadt, die davon betroffen war, platzte förmlich aus allen Nähten. Die sozialen Verhältnisse waren von dramatischen Unterschieden geprägt, Superreiche hier, prekäre Massen dort. Die Vielfalt der Lebensumstände, die Fremdheit von Alltagsdingen wie Thermen, öffentlichen Bedürfnisanstalten, Betrug beim Zocken, Krawallen, Heilkunst, Saufkunst, Kochkunst spiegelt sich in der Vielfalt der Beiträge dieses sehr informativen und leicht zugänglichen Buches. Besonders gefallen hat mir, wie die Aussagekraft archäologischer Funde kritisch unter die Lupe genommen wird.
*Rezensionsexemplar
Blog-Gestöber
Manchmal komme ich mir vor wie in einem Irrenhaus. Es geht dabei keineswegs nur um Trump & Co., nein, es reicht ein Blick zur Sueddeutschen Zeitung, wo Heribert Prantl nach mehr als drei Jahren vollumfänglicher Invasion und Vernichtungskrieg noch immer Täter-Opfer-Umkehr betreibt und fern der Wirklichkeit von einer Feindschaft gegenüber Russland schwadroniert. Die hartnäckige Verweigerung der Realitäten reicht weit hinein die deutsche Gesellschaft, was in der Ukraine, dem angegriffenen, zerstörten, erpressten, halbherzig unterstützte, aber immer noch tapfer verteidigenden Land mit Kopfschütteln quittiert wird. Auf den Punkt bringt es zuverlässig Christoph Brumme mit seinen Beiträgen auf seinem Blog Honigdachs.

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