Vorzügliche Bücher haben bisweilen den Nachteil, dass sie ernüchternd sind. Das gilt für die monumentale Darstellung der Revolution von 1848/49 durch Christopher Clark. Dessen Frühling der Revolution* blüht europäisch, lotet die gemeinsamen und unterschiedlichen Voraussetzungen, Abläufe und Enden der Erhebungen aus und liefert einen Berg an neuen Perspektiven und Erkenntnissen. Ernüchternd, weil eigentlich progressiv wirkende Strömungen wie Emanzipation gar nicht stattfanden (Frauen), widersprüchlich und halbherzig (Sklaven) oder sogar gegenläufig (Juden, Sklaven). Umfang und Inhalt des Buches sind eine Herausforderung, die man annehmen sollte.
Ein Lichtspiel ist ist gewisser Hinsicht auch der gleichnamige Roman von Daniel Kehlmann, denn er handelt die Geschichte des deutschen Regisseurs W.G.Pabst ab. Sein Weg ist einzigartig, denn er führt aus dem Exil zurück ins Nazireich, wo er sich opportunistisch einordnet, um seine Leidenschaft, das Filmemachen, auszuleben. Ein Filmdreh gegen Ende des Krieges in Prag ist auf gespenstische Weise abgründig, aber auch hier gelingt dem Autor, dem schweren Thema eine leichte Form zu geben.
Wie kann man ein schweres Thema mit jener Leichtigkeit versehen, die es erlaubt, den Text zu lesen? Steffen Schroeder widmet sich in seinem Roman Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor den Physikern Planck und Einstein, dem Schicksal ihrer Söhne während der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Schroeder hat sich Ferdinand Sauerbruchs bedient, um heitere, anekdotische Passagen einzuflechten, die jene Dunkelheit umso schwärzer erscheinen lassen.
Das wohl wichtigste politische Buch, das ich in diesem Jahr gelesen habe, stammt aus zahlreichen Federn: das Kompendium „Alles ist teurer als ukrainisches Leben“* lässt die Betroffenen Osteuropas zu Wort kommen, was angesichts uninformierter Schwurbler mit hoher Medienpräsenz unglaublich wichtig ist. Der Leser spürt die Wut und Enttäuschung über die hochnäsige Herablassung westlicher Intellektueller, die voll emotionaler Kälte und Empathielosigkeit ihre „Analysen“ herausposaunen. Der Fachbegriff dafür: „Westsplaining“.
Ein wunderbarer Roman ist Angela Steidele mit Aufklärung gelungen. Sie bedient sich Dorotheas, der Tochter Johann Sebastian Bachs, über die fast gar nichts bekannt ist, als Erzählstimme und lässt sie eine Art Gegendarstellung oder Gegenbiographie zu denen verfassen, die von Männern geschrieben und überliefert worden sind. Das ist in jeder Hinsicht ein wahres Vergnügen, denn Steidele fügt ihrem Buch genug Couleur bei, ohne die Erzählung unter einen historisierenden Ochsenziemer zu zwingen.
Anfangs hatte ich durchaus Spaß mit der Lektüre von Feindesland. C.J. Sansom hat mit seinem Roman eine historische Dystopie erschaffen, in der das Nazireich den Krieg nicht verloren hat. 1952 ist England ein Verbündeter von Hitlers Staat, der jedoch in Schwierigkeiten steckt: Die Ostfront ist eine ewig schwärende Wunde, Widerstand keimt überall auf und wirtschaftlich sieht es düster aus. England ist die Verwirklichung der Empire-Phantasien – ein Alptraum ganz eigener Art, was einen großen Charme entfaltet. Über allem aber schwebt wie ein Damoklesschwert die Drohung der Atombombe. Trotz des interessanten Themas und Ansatzes wiegen die Mängel schwerer.
Für mich war es geradezu eine Pflicht, Die Schatzinsel von Robert Stevenson zu lesen. Der vierte Band meiner Buchreihe Piratenbrüder ist Stevenson gewidmet, denn in Vinland gehen meine Helden auf Schatzsuche, die in eine Jagd ausartet – allerdings handelt es sich um den Schatz eines Wikinger-Königs. Der Klassiker unter den Abenteuerromanen ist immer noch ein Vergnügen, ab und zu sehr spannend und immer atmosphärisch. Und ein passendes Zitat für meinen eigenen Roman habe ich auch gefunden.
Enttäuschend ist das Buch Die Evolution des Universums von Felicitas Mokler. Das Thema ist hochinteressant und komplex, es führt mich an die Grenzen meines Verstehens, allerdings auf eine eher verworrene Weise. Gleichzeitig sind viele Aspekte zu stark und zu knapp ausgebreitet und erklärt, der gesamte Buchaufbau wirkt wenig anschaulich und sprunghaft, ohne eine nötige Linie.
Robert Musils kurze Schrift Über die Dummheit versucht, sich dem Thema auf intellektuelle Weise zu nähern. Letztlich bleibt offen, was Dummheit eigentlich ist, immerhin gelingt Musil eine Abgrenzung zu anderen Phänomenen. Besonders interessant fand ich die Aufteilung in eine schlichte und hohe Dummheit, wobei letztere die wesentlich gefährlichere Variante darstellt. Allerdings ist mit Blick auf die Macht der so genannten Sozialen Medien fraglich, ob man das noch stehen lassen kann.
Blog-Gestöber
Die Besprechung des Sachbuchs »Alles ist teurer als ukrainisches Leben« hat im November die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen, gefolgt von dem Roman Lichtspiel des Bestsellerautors Daniel Kehlmann und Die Korrektur der Vergangenheit von Andrew Miller.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist noch nicht vorüber, die Ukraine braucht weiterhin Unterstützung in jeder Form, auch durch Verständnis. Der Sammelband »Alles ist teurer als ukrainisches Leben« hilft dabei enorm, besser zu verstehen, denn aus dem Westen, insbesondere seitens diverser Intellektueller wird viel unsinniges Zeug über Land und Leute verbreitet. Die Wut, die oft durchschimmert, muss man einfach einmal aushalten; zuhören und nachdenken.
Kehlmann und Miller haben jeweils ein historisches Thema aufgegriffen und in ganz fabelhafter Manier verarbeitet. Die Romane lassen sich wunderbar leicht lesen, man sollte es jedoch nicht flüchtig tun, denn beide halten jenseits der reinen Handlung eine Menge an Interessantem bereit.
Was heißt eigentlich »ausgelesen«?
Wer meine Lesemonate mit den Daten vergleicht, die ich auf Goodreads als Enddatum der Lektüre angebe, wird eine gewisse Diskrepanz entdecken. Die Bücher, die im Lesemonat November erscheinen, habe ich zum Teil bereits im Oktober beendet. In einigen Monaten diesen Jahres galt das fast für alle im Lesemonat aufgeführten Bücher.
Ist mein Lesemonat also gemogelt?
Ja, in gewisser Hinsicht schon. Viele Blogger auf anderen Plattformen zeigen, was sie im gerade beendeten Monat gelesen haben. Das ist völlig legitim, ich lese die Monatsrückblicke gern und nehme mir dafür immer ein wenig Zeit. Allein die Vielfalt, das eigene Lesen zu präsentieren, gehört zu den wirklich schönen Dingen auf Instagram.
Meine Herangehensweise ist etwas anders. Sie hängt mit meinem Verständnis von »ausgelesen« zusammen. Diesen Zustand erreiche ich oft erst mit einiger Zeitverzögerung. Wenn ich einen Blogbeitrag (Buchvorstellung oder Kurzrezension) verfasse, gehört das zum Lesen dazu.
Es kommt gar nicht so selten vor, dass ich bereits während der Lektüre nicht nur Notizen (immer) mache, sondern schon am entsprechenden Beitrag schreibe. Bei einem Wälzer wie Frühling der Revolution von Christopher Clark wäre ich verloren, wenn ich nach rund eintausend Seiten erst beginnen würde, eine Buchvorstellung zu schreiben.
Also beginne ich sehr viel früher und beende sie erst lange nach der Lektüre. Zum Bloggen gehört für mich auch das Überarbeiten, das nichts anderes als ein weiterer Durchgang an Reflexion ist. Ich bin mit dem, was ich schreibe, niemals ganz zufrieden, besser geht immer, oft erwische ich die Gedanken und Inspirationen nur an einem Zipfel, der Rest entgleitet.
Das ist bei Schriftstellern und Bloggen ähnlich, eine Jagd, die man nie ganz erfolgreich beendet.
Wenn die erste Version einer Buchvorstellung verfasst ist, wird diese überarbeitet, dann in den Blog hochgeladen und gleich noch einmal überarbeitet, ehe sie mit einer gewissen Zeitverzögerung auch (nach einer weiteren Überarbeitung) freigeschaltet wird. Bei Kurzrezensionen geht der Prozess schneller, da reicht manchmal auch ein Überarbeitungsgang.
Nach dem Veröffentlichen ist das Buch »ausgelesen«; dennoch beschäftigt mich es oft weiter. Zu den schönsten Leseerlebnissen gehört die Verknüpfung mehrerer Bücher – aktuell Frühling der Revolution und Die Republik der Träumer, ein Sachbuch und ein Roman über eine Revolution. Clark, der Historiker, weist in seinem Werk explizit auf den Arabischen Frühling hin, dessen tragischer Verlauf von Al-Aswani für Ägypten in einem fiktionalen Werk verarbeitet worden ist.
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