Mein erster Ausflug in die slowenische Literatur war ein Volltreffer. Drago Jančar erzählt aus der Sicht eines Jungen, der Ende der 1950er Jahre in Slowenien lebt, vom Schritt aus der Kindheit in die Erwachsenenwelt. Als die Welt entstand* löst die Gewissheiten und Wahrheiten durch Widersprüche und Grauzonen, Schmerz und Niederlagen ab. Ein wunderbarer Roman, klassisch erzählt, mit einer ganz besonderen stilistischen Note. Der Autor nutzt geschickt das variierende Wiederholen und Weiterentwickeln von Motiven und sprachlichen Wendungen. Eine Entdeckung!
Als ist das Buch Mitten im zivilisierten Europa* von Jeffrey Veidlinger entdeckte, zögerte ich nicht lange: Das ist ein Thema, das mich wirklich interessiert. Von den Pogromen in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, der im Osten Europas heftige Nachwehen hatte, wusste ich schon, allerdings keine Details. Veidlingers vorzügliches Buch hat diese Lücke geschlossen, die Berichte über die Gräueltaten sind oft schwer zu ertragen; die Einordnung als Vorgeschichte zum Holocaust nach 1941 ist mehr als nachvollziehbar.
Wieder Charkiw, wieder die ersten Tage und Wochen des russländischen Angriffskrieges, diesmal aber aus der Sicht einer Zwölfjährigen. Das Tagebuch von Yeva Skalietska trägt einen völlig zutreffenden Titel: Ihr wisst nicht, was Krieg ist. Das weiß man nur, wenn man ihn erlebt. Charkiw ist Fronstadt seit den ersten Kriegstagen, Yeva, die dort mit ihrer Großmutter lebt, sieht ihn, spürt ihn, hört ihn. Sie hat aufgeschrieben, was sie dabei empfunden hat; dank Chat-Nachrichten erfahren wir auch, wie es ihren Freunden ergeht und wie wichtig es ist, dass Menschen fliehen können.
Ein Krimi aus Schweden – fast ein Klischee, in meinem Fall eine Ausnahme, denn darum mache ich meist einen Bogen. Unter dem Sturm von Christoffer Carlsson habe ich wegen der dringenden Empfehlung des Buchblogs Horatio-Bücher als Hörbuch erworben und mit großem Genuss gehört. Zu der rundum zutreffenden Buchvorstellung möchte ich nur die Sprache hinzufügen, Carlsson nutzt das Mittel der Auslassung und variierenden Zeitsprünge meisterhaft aus und kombiniert das mit einer grandiosen Beobachtungsgabe! Ein paar Längen im dritten Teil und das etwas konstruiert wirkende Aha-Erlebnis beim Betrachten eines Fotos trüben den positiven Eindruck kaum.
Ein Tagebuch aus Russland, verfasst von Natalja Kljutcharjowa, führt den Leser in eine Gesellschaft, die gezüchtigt ist von Propaganda und staatlichen Zwangsmaßnahmen. Der Kriegsausbruch bringt das bisherige Leben zum Einsturz, die Tagebuchautorin wird überrollt von Verzweiflung und Scham, zugleich bringt sie aber die Kraft auf, ihre Beobachtungen und Gedanken festzuhalten. Das Tagebuch vom Ende der Welt* zeigt Innenansichten einer geschlossenen Gesellschaft in Kriegszeiten.
Eine Endeckung ist der Roman Die Republik der Träumer von Alaa Al-Aswani, der nach Ägypten zur Zeit des so genannten »Arabischen Frühlings« führt. Wie diese Revolution endete, dürfte bekannt sein, Al-Aswani schildert anhand von rund einem Dutzend Personen den Ablauf der Erhebung. Einen ganz besonderen Stellenwert nimmt die Gegenrevolution ein, die der Autor in ihrer strategischen, taktischen, völlig skrupellosen und letztlich erfolgreichen Vorgehensweise darstellt. Das ist groß und unterscheidet sich wohltuend von revolutionären Bullerbü-Romanen á la Pantopia.
Was für ein wilder Roman ist 18 Kilometer bis Ljubljana*! Goran Vojnović hat einen eher ungewöhnlichen Protagonisten gewählt, der sich in einer aggressiven, von beleidigenden und herabwürdigenden Begriffen wimmelnden Sprache bedient. Marko ist jedoch ein guter Beobachter, er versteht mehr, als man auf den ersten Blick glauben mag, außerdem ist das Buch an vielen Stellen komisch, oft aber vor allem grotesk. Ein wunderbarer Roman aus Slowenien über eine Region, die traditionell im selbstgefälligen Mitteleuropa vergessen wird.
Der Titel von »Das ist ein Ozean aus Wahnsinn«* ist Programm, denn die Beiträge dieses Kompendiums stammen von kritischen, unabhängigen Zeitgenossen aus Belarus und Russland. Sie befassen sich mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, in unterschiedlicher Form: Tagebuch, Essay, Brief, Interview, Posting. Statt pseudo-intellektuelle Schwätzern in Deutschland sollte man seine Zeit lieber diesen Autoren widmen, die wenigstens wissen, wovon sie reden.
Blog-Gestöber
Zwei Jahre ist mein Blog www.schreibgewitter.de alt, in der Zeit habe ich mehr als 140 Buchvorstellungen und Rezensionen verfasst und veröffentlicht. Meine Liste lesenswerter Bücher umfasst mittlerweile mehr als einhundert Titel, es wären sogar noch etwas mehr, hätte ich nicht wieder einige aus der Aufstellung herausgelöscht.
Auf das größte Interesse ist meine Besprechung von Wie später ihre Kinder von Nicolas Mathieu gestoßen, gefolgt von Steffen Kopetzky, Propaganda sowie Die Tagesordnung von Éric Vuillard.
Bei den Sachbüchern steht das Kriegstagebuch von Hermann Stresau, Als lebe man unter Vorbehalt*, das insgesamt den vierten Platz belegt. Februar 33 ist unter den Sachbüchern die Nummer zwei, Höhenrausch von Harald Jähner die Nummer drei.
Von den anderen Blog-Artikeln wurde Am Anfang war – Bornholm am häufigsten angesteuert, der ein wenig über die Ursprünge meiner Abenteuerreihe Piratenbrüder erzählt. Der Aussteiger aus einem kriminellen Milieu ist hier die Nummer zwei, Erzählfluss statt stehendes Gewässer die Nummer drei.
Ganz und gar ungewöhnlich ist der Oktober hinsichtlich des Blog-Besuches gewesen: Das Tagebuch von Yeva Skalietska mit dem Titel Ihr wisst nicht, was Krieg ist, stieß auf das größte Interesse, gefolgt von den beiden Sammelbänden aus dem Hause fotoTAPETA: »Alles ist teurer als ukrainisches Leben«* und »Das ist ein Ozean aus Wahnsinn«*.
Slowenien ist für mich eine Entdeckung, hoffentlich findet sich die Gelegenheit für einen Besuch in dem kleinen Land. Auf dem wunderbaren Literaturblog von Petra Reich gibt es einen schönen Artikel zu slowenischer Literatur und eine lange, kommentierte Buchliste. Unbedingt anschauen!
Ende des Monats ist Doppelspiel – Piratenbrüder Band 3 erschienen, mein dritter Roman. Klappentext und Cover können in der Rubrik Piratenbrüder bestaunt werden; drei Romane in drei Monaten – jetzt wird es etwas ruhiger, denn der vierte Teil, Vinland, wird im März 2024 erscheinen. Die Korrekturen sind abgeschlossen, jetzt steht der Buchsatz an – eine ganz besondere Phase im Leben eines Schriftstellers.
In einem anderen Beitrag habe ich mich mit dem Auswandern befasst – das für die Menschen an Bord eines Schiffes nicht weniger als Höllentage auf See bedeutete.
Keine Feierstunde
Eigentlich wäre das alles ein Grund zum Feiern, doch danach ist mir nicht. Der Beitrag, mit dem ich meinen Blog am 05. Oktober 2021 eröffnet habe, war eine erstaunlich kurze Buchvorstellung zu einem Sachbuch über den Vietnam-Krieg. Krieg ohne Fronten heißt das Buch von Bernd Greiner, das sich vor allem mit dem Massaker an Zivilisten durch US-Truppen befasst, ein immer noch aktuelles Thema.
Zwei Tage nach diesem Jahrestag war mir die Lust am Feiern völlig vergangen, angesichts der unsäglichen Gräueltaten durch Hamas-Aktivisten und bewaffnete Zivilisten aus Gaza an israelischen Zivilisten. Was sich seitdem vollzieht, ist oft widerlich und erbärmlich, weniger das zu erwartende zynische Kalkül rechter und pro-putinistischer Kreise, als die ekelhafte Reaktion selbst ernannten »Progressiver«, »Linker« oder »Klimaschützer«.
Der Antisemitismus erhebt sein blutiges Haupt erneut, in Israel sterben Menschen, die den Holocaust überlebt haben, während auf den Straßen Deutschlands ein Mob die Täter feiert; Behörden hierzulande sind nicht in der Lage, allen Betroffenen Schutz zu bieten, Menschen jüdischen Glaubens leben wieder in Angst, Teile der Bundesregierung unter dem als führungsschwach wahrgenommenen Olaf Scholz (SPD) wirken verzagt und äußern sich seltsam verdruckst, die Opposition wartet mit Vorschlägen auf, die keine Lösung bieten und nur zum Wählerfang dienen.
Was für ein Desaster.
Seit dem 24. Februar 2022 bekommt Deutschland fast täglich vorgeführt, wo seine Schwächen sind. Es ist das Erbe der trägen Selbstgefälligkeit, die das Land während der Merkel-Jahre befallen hat wie Mehltau. Ein Land, das eine verlogene »Schwarze Null« als Leistung feiert, ist selbst eine Null; die Rechnung wird jetzt präsentiert – jetzt wird es richtig teuer, was ohne »Schwarze Null« schon weit vorangetrieben worden wäre.
Das Hauptproblem ist, dass sehr viele Menschen, vielleicht sogar die überwältigende Mehrheit seit dem 24. Februar 2022 auf eine Rückkehr zur Normalität wartet. Meines Erachtens sind die jüngsten Wahlumfragen vor allem ein Ausdruck dieses Wunsches – es soll alles so werden, wie es »vorher« war. Wird es nicht. Es wurde noch nie in der Geschichte, so wie es war; erst recht nicht so, wie es nicht war, sondern nur zusammenphantasiert wurde.
Der 24. Februar 2022 war ein Katalysator, der Prozesse, die längst im Gange waren, noch einmal beschleunigt hat. Viele Dinge wären sowieso gekommen, viele Dinge, die noch kommen werden, auch. Das Problem ist, dass Regierung (und demokratische Opposition, also Teile der CDU) wirken, als würden sie im Autopilot unterwegs sein. Der Historiker Christopher Clark hat das für die französische Regierung vor dem Revolutionsausbruch 1848 diagnostiziert – es ist m.E. durchaus übertragbar.
Bei einer Lesung in Göttingen wurde Clark gefragt, ob er glaube, dass wir in vorrevolutionären Zeiten leben. Die Antwort war wenig beruhigend. Doch hat der Historiker dabei auch etwas anderes geäußert. Man müsse sich im Klaren darüber werden, wofür man bereit ist, aufzustehen; nicht so sehr, wogegen man ist, sondern was einem so am Herzen liege, dass man sich erhebe. Demokratie brauche Freunde, deren Schwund sei viel bedenklicher als die wachsende Zahl an Feinden. Lesungen lohnen sich (fast) immer.
Lieben Dank fürs Verlinken! Viele Grüße, Petra
Gerne! Gerade bei dem Thema Slowenien war ich froh, dass du etwas geschrieben hast! Viele Grüße, Alexander