
Ein unsterbliches Wesen könnte nicht frei sein.
Timothy Snyder: Über Freiheit
Unsterblichkeit als Gefängniszelle. Was für ein Gedanke. Er steht im krassen Gegensatz zu den Bestrebungen, den Tod zu überwinden, wie sie auch in der Literatur immer mal wieder als Motiv auftauchen.
Das Thema Unsterblichkeit ist mir in Romanen mehrfach begegnet, in diversen Genres und auf unterschiedlichem Niveau. Da wäre zum Beispiel der Roman Alle Menschen sind sterblich von Simone de Beauvoir, den man durchaus in Snyders Sinne lesen kann. Der Unsterbliche ist unsterblich unglücklich, es wirkt tatsächlich wie eine Form der Unfreiheit, im Sinne des Zitats von Timothy Snyder.
In der Weltraum Soap-Opera Perry Rhodan gibt es auch eine Gruppe Unsterblicher, die durch ein spezielles Gerät (Zellaktivator?!) diesen Status erreichen. In zwei (?) Heften wird das Schicksal eines Menschen geschildert, der zufällig an ein solches Gerät kommt und damit eine gnadenlose Hetzjagd auslöst. Unsterblich wird man erst nach einer gewissen Zeit, dann ist das Gerät nur noch von der jeweiligen Person benutzbar. Erst als er freiwillig den Zellaktivator abgibt, endet die Jagd und er ist »befreit«.
Dann wäre da noch die Urban-Fantasy-Reihe um den Magier Alex Verus. Im dritten Teil Der Magier von London versucht sich jemand daran, den Schlüssel zur Unsterblichkeit zu finden. Dabei geht die Person buchstäblich über Leichen und erntet letztlich nur Grauen. Das Schicksal erleiden auch die Protagonisten des historischen Roman Der eiserne Marquis von Thomas Willmann, in dem im 18. Jahrhundert ein Trio versucht, das Geheimnis des Lebens zu entschlüsseln, um den Tod zu überwinden.
Schließlich Tolkien mit seinem faszinierenden Buch Das Silmarillion. Die Elben beneiden die Menschen um ihre Sterblichkeit, das diese als Geschenk von Illuvatar erhalten hätten. Das finde ich bis heute einen spektakulären Gedanken, Snyder hat mit seiner Ansicht das Thema noch einmal bereichert und im Grunde genommen untermauert. Noch ein Grund, sein großartiges Sachbuch zu lesen.

Kurzbesprechung der Oktober-Bücher
Der fünfte Teil der Kriminal-Roman-Reihe um die Navajo-Police von Tony Hillerman so gut gelungen, dass ich heilfroh bin, gleich zum nächsten greifen zu können. In Gesang an die Geister* wird Officer Jim Chee mit einem merkwürdigen Verbrechen konfrontiert. Ein Mann wird vor einer Münzwäscherei niedergeschossen, der Schütze stirbt später selbst in einem Hogan; kurios, denn bei den Navajo gilt die Unterkunft fortan als Toten-Hogan, in dem ein chindi haust. Der Besitzer war vertraut mit den Gepflogenheiten der Navajo und hätte eigentlich dafür sorgen müssen, dass der Sterbende draußen verscheidet. Das Rätsel steht im Mittelpunkt der Ermittlungen, die Chee aus dem Navajo-Reservat nach Los Angeles führen und wieder zurück. Ein Umweg, aber nicht umsonst. Ganz besonders gefallen hat mir die Gestaltung des Antagonisten, eine authentische Verkörperung des Bösen, ein Vollstrecker, mit persönlicher Geschichte.
Da ist schon der nächste ganz heiße Kandidat für meine Bücher des Jahres 2024. Timothy Snyder hat mit seinem Über Freiheit* ein Werk verfasst, dass ausgehend von zum Teil sehr privaten Erlebnissen einen Bogen zu allgemeinen, menschlichen, politischen und philosophischen Fragen spannt. Das herausfordernde Buch geht der Frage nach, was Freiheit eigentlich ist. Der Begriff wird allzu oft gebraucht, er hat im Alltag mehr den Charakter einer hohlen Formel bekommen, die nach Belieben gebraucht wird. Dem stellt Snyder eine vielschichtige Annäherung entgegen, die dank ihre Gedankentiefe und Vernetzung mit politischen, historischen, aber auch gegenwärtigen Aspekten tatsächlich eine Orientierung in einer zunehmend als überfordernd empfundenen Welt bietet. Wer es liest, kommt gar nicht darum herum, über sich selbst nachzudenken. Daran ändern einzelne Aspekte, die Stirnrunzeln (ausgerechnet Kernfusion als Hoffnungsträger?) hervorrufen, nichts. Im Gegenteil.
Gut einhundert Seiten muss der Leser warten, bis Der Flakon in die Handlung eintritt. Bis dahin schildert der historische Roman von Hans Pleschinski die Irrungen und Wirrungen im von Preußen während des Siebenjährigen Krieges überfallenen Sachsen. Das ist alles sehr anschaulich erzählt, mutet aber ein wenig wie der Besuch eines Museums an, der von einem munteren Erzähler geleitet wird. Der Autor weiß, wovon er spricht, seine Sätze sind voller Esprit und trefflicher Formulierungen, doch würde dem Werk ein wenig mehr Fabulieren guttun. Dabei ist das Thema wirklich sehr interessant, auch überzeugt Pleschinski mit seiner Idee, dem einfältigen preußischen Militärabsolutismus die sächsische Lebensfreude und Vielfalt entgegenzustellen. An der Frage, was wäre im Falle einer Niederlage Preußens in diesem Krieg nicht alles verhindert worden, kommt man gar nicht vorüber. Es spricht auch nichts dagegen, solche Fragen in eine romanhaftere Handlung einzuweben.
Auch zweieinhalb Jahre nach dem Beginn des Vernichtungskrieges, den Russland unter brutaler Missachtung des Völker- und Kriegsrechts führt, und gut zehn Jahr nach der erstmaligen militärischen Intervention Russlands in der Ukraine (Krym, Donbas) herrscht in Deutschland noch immer geopolitische Traumtänzerei in weiten Teilen der Bevölkerung vor. Von politisch interessierten Kreisen wird das begierig aufgegriffen und instrumentalisiert, ohne die geringste Rücksichtnahme auf historische und gegenwärtige Realitäten. Als wäre das Wünschbare auch machbar, wird unbeirrt durch krachendes Scheitern an längst überkommenen Strategien festgehalten. Diese ideologischen Rettungsringe zur Wählergewinnung erweisen sich als dramatische Fehlschlüsse, Augenwischerei, wenn man Herfried Münklers Buch Welt in Aufruhr liest. Das dort zu Lesende ist viel zu komplex, um es hier in wenigen Sätzen auch nur anzureißen, daher belasse ich es dabei, auf die vorzügliche Zweckmäßigkeit des Werks beim Versuch einer außen- und geopolitischen Orientierung.
Schon auf der ersten Seite des Romans Stan von John Connolly gibt es eine Überraschung. Der Stil, den der Autor wählt, um sich dem großen Schauspieler Stan Laurel anzunähern, ist ungewöhnlich. Schlaglichter, oft gebrochen in Syntax und Satzbau, assoziativ, keinesfalls chronologisch angeordnet und doch schön zu lesen. Die Form unterstreicht, dass ein solches Unterfangen immer lückenhaft bleibt. Schon früh wird deutlich, dass ein Buch über Laurel zwangsläufig auch eines über Oliver Hardy ist, der Werdegang des kongenialen Kollegen wird immer wieder angerissen. Charlie Chaplin, Buster Keaton und Harold Lloyd spielen ebenfalls ihre Rolle. Beeindruckend ist Stan durch die schonungslose Darstellung der brutalen Lebenswelt der Bühnendarsteller und des frühen Filmgeschäfts. Da Connolly seinen Roman aus der Rückschau erzählt, lagert auf dem Erzählten von der ersten Seite an die Melancholie des Scheiterns. Großartig.
Man sollte sich von dem Klappentext („Tragische Schicksale hinter prunkvollen Fassaden“) nicht schrecken oder verlocken lassen: Ungeliebte Königin von Helga Thoma ist keine Gedöns-Literatur. Schwungvoll und zielstrebig lässt die Autorin den Leser an verschiedenen Werdegängen königlicher Ehefrauen teilhaben, beginnend bei den Gattinnen Heinrichs VIII. von England, den Gemahlinnen Karls II. Spaniens bis hin zu zu der Ehefrau von Alfons XII. von Spanien. Die Kapitel geben Aufschluss über das Treiben am Hof und wie in den Gespinsten des Zusammenlebens gefochten, gehasst und hintertrieben wurde. Das ist schon sehr interessant, wenn es etwa um Dinge wie vorgetäuschte Schwangerschaften und angebliche Fehlgeburten als Waffen im hofinternen Machtkampf geht. Stammtafeln, Literaturhinweise und ein Register der erwähnten Personen runden das informative Buch ab.
Bloggestöber
Vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine ist mir die Literatur aus dem größten europäischen Land bestenfalls in homöopathischen Dosen bekannt gewesen. Mehr als zwei Romane dürften es nicht gewesen sein, die ich von ukrainischen Schriftstellern (Zhadan und Andruchowytsch) bis zum Februar 2022 gelesen habe. Da Teile der Ukraine einige Zeit zu Österreich-Ungarn gehörten und während der Zeit der Sowjetunion keine Unterschiede gemacht wurden, ist es möglich, dass eigentlich noch jemand hinzugerechnet werden müsste.
So oder so war es zu wenig, denn die politische Bedeutung der Ukraine war mir bereits vor mehr als zwanzig Jahren bewusst. Wie sehr Deutschland historisch in der Verantwortung gegenüber der Ukraine (sowie Polen, den baltischen Staaten, Belarus), nicht Russlands steht, hat mir Timothy Snyders Bloodlands vor Augen geführt. Bis heute wird das in weiten Teilen der Politik, insbesondere der SPD und CDU schlichtweg ignoriert, genauer gesagt: hinweggelogen. Von den Autoritären in diesem Land gar nicht zu reden.
Seit dem Angriffskrieg von Putins Russland hat sich mein Lesen geändert. Unter dem Schlagwort Ukraine Lesen habe ich schon eine ganze Reihe von Büchern von Ukrainern und über die Ukraine vorgestellt, neben fiktionalen Werken auch Erzählungen, Essays, Tagebücher, Kompendien und Monographien. Aber auch in diesem Segment schlägt der Zeitteufel zu, daher ist 2024 wenig dazugekommen: Märchen aus meinem Luftschutzkeller von OleksijTschupa, Aus dem Nebel des Krieges von Mishenko / Rabe und Tagebuch einer Invasion sowie Graue Bienen von Kurkow. Vom bekanntesten Schriftsteller der Ukraine folgt Im täglichen Krieg, der zweite Teil der Tagebücher über den Alltag im Krieg.
Wie gut, dass es auch andere Blogs gibt, die sich mit ukrainischer und osteuropäischer Literatur beschäftigen. Da wäre zum Beispiel Literatur über Osteuropa von Thomas Leurs, der regelmäßig Bücher vorstellt. Auf Zombie-Twitter ist Leurs aktiv und gibt regelmäßig Auskunft über interessante Neuerscheinungen. Auch wenn man davon nur einen Bruchteil selbst lesen kann, sind solche Informationen sinnvoll. Sie zeigen, wie vielgestaltig, kenntnisreich und differenziert über Osteuropa respektive die Ukraine geschrieben wird, fern von allem Geschwurbel der hiesigen Putin-Sprachrohre.
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