Der gerade ausklingende Monat September war ein schönes Echo des Sommers. Die Zeit ausgedehnter Hitze-Wanderungen in der Umgebung ist vorüber, die einmalige Erfahrung, die damit verbunden ist, existiert nur noch als Erinnerung und Vorfreude auf das nächste Jahr. Ich kenne tatsächlich keine andere Form des Draußen-Seins mit so viel Raum für ausschweifende Gedanken.
Während der langen Wanderungen habe ich mir vorgenommen, mich auch in meiner alltäglichen Arbeit stärker von einigen Gewohnheiten abzukoppeln, insbesondere vom Konsum der so genannten »Sozialen Medien«. Die Beschäftigung mit den Beiträgen kostet viel Zeit, Aufmerksamkeit und Energie, ohne auch nur entfernt etwas dem Aufwand Angemessenes zurückzugeben.
Ein weiterer Grund für meine wachsende Distanz zu Social Media ist der Tod von Twitter. Die in einen Hass-Zombie verwandelte Plattform war mir in ihrer alten Form die angenehmste, Ersatz gibt es bislang nicht. Threads ist unerträglich, Instagram wegen des Algorithmus nervig, Mastodon seltsam und BlueSky noch nicht so weit, dass es ein Ersatz sein könnte.
Kurz habe ich erwogen, meine Aktivitäten ganz einzustellen, das aber verworfen. So fahre ich zunächst fort, dort über neue Beiträge auf meinem Blog zu informieren. Ab und zu schreibe ich auch einmal etwas oder gebe einen Kommentar ab. Ich nutze Zombie-Twitter noch als Informationsquelle, insbesondere zu Russlands Angriffs- und Vernichtungskrieg, die anderen Plattformen vor allem für Infos zum Thema Literatur.
Anregungen gibt es immer mal wieder, jüngstes Beispiel ist der historische Krimi Schwarzer Oktober von Robert Brack, auf den ich sonst gar nicht aufmerksam geworden wäre. Und da wäre mir schon etwas entgangen. Die Jagd nach Herzchen und Followern mache ich aber nicht mit. Wozu das alles?
Gleich zweimal habe ich im September eskapistische Literatur gelesen, einen Urban– und einen Steampunk–Fantasy-Roman. Beides war wirklich unterhaltsam, wenn auch nicht gerade hohe Literatur. Das kann man dagegen von Boston Teran und seinem historischen Thriller Gärten der Trauer durchaus behaupten. Eine Entdeckung und ein Top-Kandidat für meine »Bücher des Jahres 2024«. Ebenfalls gefiel mir Der Wintersoldat von David Mason.
Schwere und lohnende Kost sind die Tagebücher von Wilm Hosenfeld, der von 1939 bis Anfang 1945 in Warschau als Besatzungsoffizier der Wehrmacht tätig war. Die Widersprüchlichkeit und Ohnmacht des Menschen in einem totalen Umfeld werden überdeutlich. Polen ist auch Gegenstand eines weiteren Buches, das sich mit den acht Jahren der PiS-Herrschaft beschäftigt und auf ein generelles Dilemma verweist. Die Geisterfahrer von Klaus Bachmann stellt die Frage, ob man einen Staat mit undemokratischen Mittel demokratisieren kann.
Neues gibt es auch aus meiner Schreibstube. Der fünfte Band meiner Piratenbrüder-Buchserie ist am 20. September erschienen. Totenschiff ist ein hochspannender, turbulenter, wendungsreicher Teil geworden, geht es nach meinen Testlesern, auch das beste, was ich bis dahin geschrieben habe. Aktuell sitze ich am sechsten Band mit dem Titel Verräter, den ich für das Lektorat vorbereite. Das letzte große Luftholen vor dem Finale erscheint am 20. September 2025, das eBook kann bereits vorbestellt werden.
Kurzbesprechung der September-Bücher
Der historische Agenten-Thriller Gärten der Trauer* von Boston Teran hat viele Facetten. Das Geschehen entwickelt sich schnörkellos mit stark ansteigender Spannung, hoher Dynamik und einer sich immer weiter zuspitzenden Dramatik. Aus den USA wird Special Agent John Lourdes ins Osmanische Reich entsandt, das sich 1915 im Krieg befindet. Lourdes ist auf geheimer Mission, es geht um Öl; auf seinem Weg wird er mit der barbarischen Auslöschung der Armenier konfrontiert und muss eine Entscheidung treffen. Sein Gegenspieler ist der deutsche Rittmeister Bodo Franke, der eine irreguläre Truppe aus Verbrechern führt. Eine dramatische Jagd durch ein Land, in dem ein Genozid verübt wird, mündet in einen apokalyptischen Showdown. Dank der Sprache und der vielfältigen Erzählweise ein wirklich ungewöhnlicher wie großartiger Roman, der erstmals auf Deutsch vorliegt. Eine Entdeckung!
Mit dem Roman Der Wintersoldat zieht der Leser in die blutigen Wirren des Ersten Weltkrieges. Ein junger Österreicher namens Lucius Krzelewski wird aus seinem Medizinstudium herausgerissen und geht als Sanitätsoffizier an die Front. Allein der Weg zu seinem Posten im Feldlazarett ist großartig erzählt, nicht zuletzt durch den bürokratischen Irrsinn, der zum Krieg gehört wie der grollende Donner der Geschütze. Der theoretisch außerordentlich begabte Mediziner in Spe macht eine dramatisch zu nennende Bekanntschaft mit der Realität in den Lazaretten – ohne die helfende Hand der Nonne Magarete wäre er (nebst unzähligen Verwundeten) verloren. Autor Daniel Mason schildert die erbarmungslose Ohnmacht ebenso intensiv wie jene Kampfhandlungen, in die Lucius zufällig gerät. Das Ende des Krieges ist kein Ende, wie Der Wintersoldat eindrücklich zeigt. Ein außergewöhnlicher Roman, der durchaus unterschiedlich wahrgenommen wird. Recht negativ fällt die Einschätzung bei Buch-Haltung aus, positiv dagegen bei Kaffeehaussitzer.
Endlich habe ich das ziemlich voluminöse Werk »Ich versuche jeden zu retten.« Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern gelesen. Wilm Hosenfeld ist eine hochspannende Person. Durchaus affin zur nationalsozialistischen Ideologie, empfänglich für deren Propaganda bis weit hinein in den Krieg, den er zunächst als durchaus gerechtfertigt erachtetet. Gleichzeitig ist er ablehnend gegenüber Antisemitismus und vor allem der grausamen und unmenschlichen Behandlung der polnischen Zivilbevölkerung eingestellt, obendrein schockiert über die Kenntnis vom Holocaust. Hosenfeld ist bekannt durch seine Rettung des polnischen Pianisten Szpilman, doch hat er während seiner Zeit in Warschau mehr Menschen geholfen und wagemutige Handlungen begangen. In den Briefen tritt ein zutiefst widersprüchlicher Mensch dem Leser entgegen, der jedoch seine Empathie gegenüber anderen Menschen bis zuletzt bewahrt hat.
Selten begebe ich mich auf das Feld der Fantasy, eigentlich nie in Gefilde abseits von High Fantasy. Dank eines Buchgeschenks habe ich erstmals einen Fantasy-Roman gelesen, der Drachen und Feuerwaffen, Magie und Technologie in einer Welt vereint. The Waking Fire von Anthony Ryan ist mein zweites Buch des Autors, dessen Lied des Blutes zu den wenigen Fantasy-Schmökern gehört, die mich nicht enttäuscht haben. Also habe ich mich frohgemut auf The Waking Fire eingelassen. Die Lektüre hat Spaß gemacht, trotz der gernretypischen Schwächen und des Settings, mit dem ich nicht allzu viel anzufangen weiß. Die Erzählung ist spannend, abwechslungs- und handlungsreich, viele Torheiten, die man bei anderen Vertretern des Fantasy-Genres findet, vermeidet Ryan. Unterhaltender Eskapismus, zudem eine gute Gelegenheit, einen Schmöker im Original zu lesen.
Ab und zu begebe ich mich ein Stück aus dieser Welt und betreibe literarischen Eskapismus. Ein Weg führt mich in das Genre der Urban Fantasy, deren Handlung merkwürdig oft in London angesiedelt ist. In Benedict Jackas Buchreihe um den Magier Alex Verus geht es auch um Politik, allerdings auf einem eher gestutzten Niveau, um die Handlung langfristig zu motivieren. Das gelingt in den ersten Bänden prächtig, so ist auch Der Meister von London sehr unterhaltsam. Die größte Stärke der Bücher liegt neben der Spannung allerdings in den Antagonismen und Widersprüchlichkeiten der Hauptfigur und seiner Mitstreiter, die auch schon mal zu Gegnern werden. Alles ohne allzu großes Drama, dafür flockig, spannend und wendungsreich erzählt.
Hierzulande geht die Geisterfahrt erst los, in Polen hat man diese – hoffentlich – schon hinter sich: Acht Jahre herrschte die PiS von Jarosław Kaczyński über das große Nachbarland, das in Deutschland bedauerlicherweise oft vernachlässigt wird. Autor Klaus Bachmann widmet sich in dem Buch Die Geisterfahrer der Herrschaft der PiS. Schon auf den ersten zwei, drei Dutzend Seiten wird dem Leser bewusst, wie dünn der demokratische Firnis sein kann. Denn die PiS hat die Macht auch durch gravierende Fehler ihrer Gegner errungen und im Eiltempo die Rechtsstaatlichkeit hinweggefegt. Zugleich wird klar, dass Widerstand oft aus Ecken kommt, die in der Öffentlichkeit und vielen Medien (möglicherweise mangels Kenntnis) gar keine Rolle spielen. Ohne die EU und etwa die Strafzahlungen sowie die hartnäckig fechtenden polnischen Richter wäre die PiS möglicherweise noch immer in Amt und Unwürden. Doch nach ihrem Abgang beginnen die Probleme erst, wie Bachmann zeigt: Demokratisierung mit undemokratischen Mitteln? Ein Dilemma. Sehr lesenswert.
Viel Milieu, wenig Krimi, hochpolitisch und sehr gelungen: So lässt sich der sehr schöne Roman Schwarzer Oktober von Robert Brack auf den Punkt bringen. Die Handlung führt ins Jahr 1923, in dem Deutschland am Abgrund steht. Klara Schindlers Leben ist geprägt von großer Not, Menschen bringen sich aus Verzweiflung um, hungern und hegen namenlose Wut. Es bahnt sich etwas an, Klara gerät in den Dunstkreis von Kommunisten, ist in deren orthodoxer Parteihierarchie und -ideologie aber ein Querschläger. Autor Brack lässt seine Hauptfigur Tagebuch führen, dehnt den Rahmen dankenswerterweise und sprengt ihn ganz, als der Aufstand in Barmbek losbricht. Und dann ist da immer noch der Schnitter, der sein tödliches Unwesen treibt.
*Rezensionsexemplar
Blog-Gestöber
Mein Wort des Monats: »Zeugen des Sofas«. Gefunden auf dem Blog von Christoph Brumme, dem deutschen Schriftsteller, der in der Ukraine lebt, und im Gegensatz zu vielen Daheimgebliebenen tatsächlich weiß, wovon er spricht: vom Krieg Russlands gegen das ukrainische Volk. Über den Kriegsbeginn hat er Tagebuch geführt, zum Teil mit beißender Ironie und Sarkasmus. Den hat er sich erhalten, wie das aktuelle Zitat zeigt:
»Ich genieße das Privileg, den Krieg mit eigenen Augen sehen zu können und meine Erkenntnisse und Erfahrungen mit den Erzählungen der Zeugen des Sofas und denen der ausländischen Tagesgäste vergleichen zu können.«
Christoph Brumme
Auf meiner Liste interessanter Bücher stand im Frühjahr auch Daniel Kehlmanns Essay über Leo Perutz. Leo wer? Perutz gilt als vergessener Autor. Als ich vor einigen Jahren seinen Roman Der schwedische Reiter in meiner Stammbuchhandlung erwarb, erfuhr ich, dass Perutz sehr selten gelesen werde. Bis dahin hatte ich den Namen zugegebenermaßen auch noch nie gehört, die Besprechung in einer Tageszeitung hatte mein Interesse geweckt. Und ja, es wäre mir einiges entgangen, denn Perutz ist ein großartiger Erzähler. Der Meister des jüngsten Tages ist so gut, dass sich selbst den Nähe zu Mystery inkauf genommen habe, was ich sonst konsequent meide. Perutz gehört zur Literatur von Weimar, entsprechend findet man auf dem Blog Literaturweimar etwas über ihn. Ob Kehlmanns Essay dem vergessenen Autor ein zweites Leben beschert? Zu wünschen wäre es.
Bei Buch-Haltung bin ich auf einen Beitrag zu einem Buch über Rom aufmerksam geworden. Rom – Stadt fürs Leben lautet der Titel des Werkes von Golo Maurer, der sich aus subjektiver Perspektive über das Leben in der Stadt auslässt. Mich hat das in zweierlei Hinsicht angesprochen. Einmal, weil ein eigener Besuch dort längst überfällig ist, zweitens wegen des Buches Die linke Hand des Papstes von Friedrich Christian Delius. Das habe ich zweimal gelesen, einmal vor Ort, denn um Rom geht es in dem schmalen Bändchen, in dem Delius scharfzüngig den Leser auf Entdeckungstour führt, die natürlich in die Politik ausgreift. Es wird wohl Zeit für eine dritte Lektüre, wieder vor Ort und diesmal mit einem Blog-Beitrag.
Mit Ulla Lenze verbindet ich den tollen Roman Der Empfänger, der mir außerordentlich gut gefallen hat. Ihr Roman Das Wohlbefinden ist thematisch nicht für mich interessant, was mir nicht zuletzt durch die schöne Besprechung bei literaturleuchtet deutlich geworden ist.