Schriftsteller - Buchblogger

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Blogmonat September 2024

Diesmal gab es keine Enttäuschung, dafür zwei ganz heiße Kandidaten für meine Bücher des Jahres 2024. Cover beim jeweiligen Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Der gerade ausklingende Monat September war ein schönes Echo des Sommers. Die Zeit ausgedehnter Hitze-Wanderungen in der Umgebung ist vorüber, die einmalige Erfahrung, die damit verbunden ist, existiert nur noch als Erinnerung und Vorfreude auf das nächste Jahr. Ich kenne tatsächlich keine andere Form des Draußen-Seins mit so viel Raum für ausschweifende Gedanken.

Während der langen Wanderungen habe ich mir vorgenommen, mich auch in meiner alltäglichen Arbeit stärker von einigen Gewohnheiten abzukoppeln, insbesondere vom Konsum der so genannten »Sozialen Medien«. Die Beschäftigung mit den Beiträgen kostet viel Zeit, Aufmerksamkeit und Energie, ohne auch nur entfernt etwas dem Aufwand Angemessenes zurückzugeben.

Ein weiterer Grund für meine wachsende Distanz zu Social Media ist der Tod von Twitter. Die in einen Hass-Zombie verwandelte Plattform war mir in ihrer alten Form die angenehmste, Ersatz gibt es bislang nicht. Threads ist unerträglich, Instagram wegen des Algorithmus nervig, Mastodon seltsam und BlueSky noch nicht so weit, dass es ein Ersatz sein könnte.

Kurz habe ich erwogen, meine Aktivitäten ganz einzustellen, das aber verworfen. So fahre ich zunächst fort, dort über neue Beiträge auf meinem Blog zu informieren. Ab und zu schreibe ich auch einmal etwas oder gebe einen Kommentar ab. Ich nutze Zombie-Twitter noch als Informationsquelle, insbesondere zu Russlands Angriffs- und Vernichtungskrieg, die anderen Plattformen vor allem für Infos zum Thema Literatur.

Anregungen gibt es immer mal wieder, jüngstes Beispiel ist der historische Krimi Schwarzer Oktober von Robert Brack, auf den ich sonst gar nicht aufmerksam geworden wäre. Und da wäre mir schon etwas entgangen. Die Jagd nach Herzchen und Followern mache ich aber nicht mit. Wozu das alles?

Gleich zweimal habe ich im September eskapistische Literatur gelesen, einen Urban– und einen SteampunkFantasy-Roman. Beides war wirklich unterhaltsam, wenn auch nicht gerade hohe Literatur. Das kann man dagegen von Boston Teran und seinem historischen Thriller Gärten der Trauer durchaus behaupten. Eine Entdeckung und ein Top-Kandidat für meine »Bücher des Jahres 2024«. Ebenfalls gefiel mir Der Wintersoldat von David Mason.

Schwere und lohnende Kost sind die Tagebücher von Wilm Hosenfeld, der von 1939 bis Anfang 1945 in Warschau als Besatzungsoffizier der Wehrmacht tätig war. Die Widersprüchlichkeit und Ohnmacht des Menschen in einem totalen Umfeld werden überdeutlich. Polen ist auch Gegenstand eines weiteren Buches, das sich mit den acht Jahren der PiS-Herrschaft beschäftigt und auf ein generelles Dilemma verweist. Die Geisterfahrer von Klaus Bachmann stellt die Frage, ob man einen Staat mit undemokratischen Mittel demokratisieren kann.

Neues gibt es auch aus meiner Schreibstube. Der fünfte Band meiner Piratenbrüder-Buchserie ist am 20. September erschienen. Totenschiff ist ein hochspannender, turbulenter, wendungsreicher Teil geworden, geht es nach meinen Testlesern, auch das beste, was ich bis dahin geschrieben habe. Aktuell sitze ich am sechsten Band mit dem Titel Verräter, den ich für das Lektorat vorbereite. Das letzte große Luftholen vor dem Finale erscheint am 20. September 2025, das eBook kann bereits vorbestellt werden.

Die bisher erschienenen Teile meiner Buchserie um die Piratenbrüder Joshua und Jeremiah. Der sechste Teil erscheint am 20. September 2025.

Kurzbesprechung der September-Bücher

Der historische Agenten-Thriller Gärten der Trauer* von Boston Teran hat viele Facetten. Das Geschehen entwickelt sich schnörkellos mit stark ansteigender Spannung, hoher Dynamik und einer sich immer weiter zuspitzenden Dramatik. Aus den USA wird Special Agent John Lourdes ins Osmanische Reich entsandt, das sich 1915 im Krieg befindet. Lourdes ist auf geheimer Mission, es geht um Öl; auf seinem Weg wird er mit der barbarischen Auslöschung der Armenier konfrontiert und muss eine Entscheidung treffen. Sein Gegenspieler ist der deutsche Rittmeister Bodo Franke, der eine irreguläre Truppe aus Verbrechern führt. Eine dramatische Jagd durch ein Land, in dem ein Genozid verübt wird, mündet in einen apokalyptischen Showdown. Dank der Sprache und der vielfältigen Erzählweise ein wirklich ungewöhnlicher wie großartiger Roman, der erstmals auf Deutsch vorliegt. Eine Entdeckung!

Mit dem Roman Der Wintersoldat zieht der Leser in die blutigen Wirren des Ersten Weltkrieges. Ein junger Österreicher namens Lucius Krzelewski wird aus seinem Medizinstudium herausgerissen und geht als Sanitätsoffizier an die Front. Allein der Weg zu seinem Posten im Feldlazarett ist großartig erzählt, nicht zuletzt durch den bürokratischen Irrsinn, der zum Krieg gehört wie der grollende Donner der Geschütze. Der theoretisch außerordentlich begabte Mediziner in Spe macht eine dramatisch zu nennende Bekanntschaft mit der Realität in den Lazaretten – ohne die helfende Hand der Nonne Magarete wäre er (nebst unzähligen Verwundeten) verloren. Autor Daniel Mason schildert die erbarmungslose Ohnmacht ebenso intensiv wie jene Kampfhandlungen, in die Lucius zufällig gerät. Das Ende des Krieges ist kein Ende, wie Der Wintersoldat eindrücklich zeigt. Ein außergewöhnlicher Roman, der durchaus unterschiedlich wahrgenommen wird. Recht negativ fällt die Einschätzung bei Buch-Haltung aus, positiv dagegen bei Kaffeehaussitzer.

Endlich habe ich das ziemlich voluminöse Werk »Ich versuche jeden zu retten.« Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern gelesen. Wilm Hosenfeld ist eine hochspannende Person. Durchaus affin zur nationalsozialistischen Ideologie, empfänglich für deren Propaganda bis weit hinein in den Krieg, den er zunächst als durchaus gerechtfertigt erachtetet. Gleichzeitig ist er ablehnend gegenüber Antisemitismus und vor allem der grausamen und unmenschlichen Behandlung der polnischen Zivilbevölkerung eingestellt, obendrein schockiert über die Kenntnis vom Holocaust. Hosenfeld ist bekannt durch seine Rettung des polnischen Pianisten Szpilman, doch hat er während seiner Zeit in Warschau mehr Menschen geholfen und wagemutige Handlungen begangen. In den Briefen tritt ein zutiefst widersprüchlicher Mensch dem Leser entgegen, der jedoch seine Empathie gegenüber anderen Menschen bis zuletzt bewahrt hat.

Selten begebe ich mich auf das Feld der Fantasy, eigentlich nie in Gefilde abseits von High Fantasy. Dank eines Buchgeschenks habe ich erstmals einen Fantasy-Roman gelesen, der Drachen und Feuerwaffen, Magie und Technologie in einer Welt vereint. The Waking Fire von Anthony Ryan ist mein zweites Buch des Autors, dessen Lied des Blutes zu den wenigen Fantasy-Schmökern gehört, die mich nicht enttäuscht haben. Also habe ich mich frohgemut auf The Waking Fire eingelassen. Die Lektüre hat Spaß gemacht, trotz der gernretypischen Schwächen und des Settings, mit dem ich nicht allzu viel anzufangen weiß. Die Erzählung ist spannend, abwechslungs- und handlungsreich, viele Torheiten, die man bei anderen Vertretern des Fantasy-Genres findet, vermeidet Ryan. Unterhaltender Eskapismus, zudem eine gute Gelegenheit, einen Schmöker im Original zu lesen.

Ab und zu begebe ich mich ein Stück aus dieser Welt und betreibe literarischen Eskapismus. Ein Weg führt mich in das Genre der Urban Fantasy, deren Handlung merkwürdig oft in London angesiedelt ist. In Benedict Jackas Buchreihe um den Magier Alex Verus geht es auch um Politik, allerdings auf einem eher gestutzten Niveau, um die Handlung langfristig zu motivieren. Das gelingt in den ersten Bänden prächtig, so ist auch Der Meister von London sehr unterhaltsam. Die größte Stärke der Bücher liegt neben der Spannung allerdings in den Antagonismen und Widersprüchlichkeiten der Hauptfigur und seiner Mitstreiter, die auch schon mal zu Gegnern werden. Alles ohne allzu großes Drama, dafür flockig, spannend und wendungsreich erzählt.

Hierzulande geht die Geisterfahrt erst los, in Polen hat man diese – hoffentlich – schon hinter sich: Acht Jahre herrschte die PiS von Jarosław Kaczyński über das große Nachbarland, das in Deutschland bedauerlicherweise oft vernachlässigt wird. Autor Klaus Bachmann widmet sich in dem Buch Die Geisterfahrer der Herrschaft der PiS. Schon auf den ersten zwei, drei Dutzend Seiten wird dem Leser bewusst, wie dünn der demokratische Firnis sein kann. Denn die PiS hat die Macht auch durch gravierende Fehler ihrer Gegner errungen und im Eiltempo die Rechtsstaatlichkeit hinweggefegt. Zugleich wird klar, dass Widerstand oft aus Ecken kommt, die in der Öffentlichkeit und vielen Medien (möglicherweise mangels Kenntnis) gar keine Rolle spielen. Ohne die EU und etwa die Strafzahlungen sowie die hartnäckig fechtenden polnischen Richter wäre die PiS möglicherweise noch immer in Amt und Unwürden. Doch nach ihrem Abgang beginnen die Probleme erst, wie Bachmann zeigt: Demokratisierung mit undemokratischen Mitteln? Ein Dilemma. Sehr lesenswert.

Viel Milieu, wenig Krimi, hochpolitisch und sehr gelungen: So lässt sich der sehr schöne Roman Schwarzer Oktober  von Robert Brack auf den Punkt bringen. Die Handlung führt ins Jahr 1923, in dem Deutschland am Abgrund steht. Klara Schindlers Leben ist geprägt von großer Not, Menschen bringen sich aus Verzweiflung um, hungern und hegen namenlose Wut. Es  bahnt sich etwas an, Klara gerät in den Dunstkreis von Kommunisten, ist in deren orthodoxer Parteihierarchie und -ideologie aber ein Querschläger. Autor Brack lässt seine Hauptfigur Tagebuch führen, dehnt den Rahmen dankenswerterweise und sprengt ihn ganz, als der Aufstand in Barmbek losbricht. Und dann ist da immer noch der Schnitter, der sein tödliches Unwesen treibt.

*Rezensionsexemplar

Blog-Gestöber

Mein Wort des Monats: »Zeugen des Sofas«. Gefunden auf dem Blog von Christoph Brumme, dem deutschen Schriftsteller, der in der Ukraine lebt, und im Gegensatz zu vielen Daheimgebliebenen tatsächlich weiß, wovon er spricht: vom Krieg Russlands gegen das ukrainische Volk. Über den Kriegsbeginn hat er Tagebuch geführt, zum Teil mit beißender Ironie und Sarkasmus. Den hat er sich erhalten, wie das aktuelle Zitat zeigt:

»Ich genieße das Privileg, den Krieg mit eigenen Augen sehen zu können und meine Erkenntnisse und Erfahrungen mit den Erzählungen der Zeugen des Sofas und denen der ausländischen Tagesgäste vergleichen zu können.«

Christoph Brumme

Auf meiner Liste interessanter Bücher stand im Frühjahr auch Daniel Kehlmanns Essay über Leo Perutz. Leo wer? Perutz gilt als vergessener Autor. Als ich vor einigen Jahren seinen Roman Der schwedische Reiter in meiner Stammbuchhandlung erwarb, erfuhr ich, dass Perutz sehr selten gelesen werde. Bis dahin hatte ich den Namen zugegebenermaßen auch noch nie gehört, die Besprechung in einer Tageszeitung hatte mein Interesse geweckt. Und ja, es wäre mir einiges entgangen, denn Perutz ist ein großartiger Erzähler. Der Meister des jüngsten Tages ist so gut, dass sich selbst den Nähe zu Mystery inkauf genommen habe, was ich sonst konsequent meide. Perutz gehört zur Literatur von Weimar, entsprechend findet man auf dem Blog Literaturweimar etwas über ihn. Ob Kehlmanns Essay dem vergessenen Autor ein zweites Leben beschert? Zu wünschen wäre es.

Bei Buch-Haltung bin ich auf einen Beitrag zu einem Buch über Rom aufmerksam geworden. Rom – Stadt fürs Leben lautet der Titel des Werkes von Golo Maurer, der sich aus subjektiver Perspektive über das Leben in der Stadt auslässt. Mich hat das in zweierlei Hinsicht angesprochen. Einmal, weil ein eigener Besuch dort längst überfällig ist, zweitens wegen des Buches Die linke Hand des Papstes von Friedrich Christian Delius. Das habe ich zweimal gelesen, einmal vor Ort, denn um Rom geht es in dem schmalen Bändchen, in dem Delius scharfzüngig den Leser auf Entdeckungstour führt, die natürlich in die Politik ausgreift. Es wird wohl Zeit für eine dritte Lektüre, wieder vor Ort und diesmal mit einem Blog-Beitrag.

Mit Ulla Lenze verbindet ich den tollen Roman Der Empfänger, der mir außerordentlich gut gefallen hat. Ihr Roman Das Wohlbefinden ist thematisch nicht für mich interessant, was mir nicht zuletzt durch die schöne Besprechung bei literaturleuchtet deutlich geworden ist.

Blogmonat August 2024

Ein guter Lesemonat, trotz zweier Enttäuschungen. Zwei sehr gute Krimis, ein herausragender Roman und orignielle Erzählungen reichen, um zufrieden zu sein. Bild mit Canva erstellt.

Gleich zwei enttäuschende Bücher sind mir im August in die Finger geraten. Der geopolitische Atlas Die Welt der Gegenwart* sorgte bei mir im Kapitel über den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zu erheblichen Irritationen. Außredem war der Thriller Die Toten vom Gare D´Austerlitz eine Enttäuschung gewesen, sicher auch, weil ich mich auf dieses Buch wegen der ungewöhnlichen Handlungszeit sehr gefreut habe. Mein Exemplar ist in eine Büchertelefonzelle gewandert, wie ich aus verschiedenen Blog-Beiträgen ersehen konnte, gibt es Leser, die den Roman mögen.

Ebenfalls ungewöhnlich, aber ganz herausragend erzählt ist Der Empfänger von Ulla Lenze. Hier habe ich mich gefragt, ob viele der negativen Bewertungen auf den einschlägigen Sternchen-Portalen vielleicht auf eine falsche Erwartungshaltung zurückgehen. Ja, Agenten spielen eine Rolle, aber es ist kein Thriller, den die Autorin geschrieben hat.

Sehr unterhaltsam, spannend und anregend sind die beiden Krimis um die Navajo-Police von Tony Hillerman, die ich gelesen habe. Zwei weitere warten noch in meinem Regal – in den Herbstferien werde ich spätestens dazu kommen. Großen Spaß haben die Erzählungen von Oleksij Tschupa gemacht, mit Märchen aus meinem Luftschutzkeller habe ich erstmals auf meinem Blog einen Beitrag zu der von mir gewöhnlich stiefmütterlich behandelten Erzählform geschrieben. Es wird nicht der letzte sein.

Die vergleichsweise geringe Zahl der gelesenen Bücher und von auf meinem Blog veröffentlichten Besprechungen hängt mit meiner Arbeit an den beiden noch ausstehenden Piratenbrüder-Bänden zusammen, aber vor allem mit ausgedehnten Wanderungen an hochsommerlichen August-Tagen. Im Kopf bin ich längst mit meinem nächsten Projekt, einer Fantasy-Buchserie, befasst. Eine schöne Beschäftigung beim Gehen.

Ein Grund zum Feiern: Anfang August überschritt die Zahl der bei Kindle Unlimited gelesenen Seiten meiner Abenteuerreihe die magische Grenze von einer Million. Auf zur zweiten Million.

Im August wurden vor allem ältere Beiträge nachgefragt, etwa die Besprechungen zum Auftaktband um die Navajo-Police von Tony Hillerman Tanzplatz der Toten. Die geheimste Erinnerung des Menschen (Mohamed Mbougar Sarr), Vom Ende der Einsamkeit (Benedict Wells) und Die Tagesordnung (Éric Vuillard) sind und bleiben die Dauerbrenner auf meinem Blog, was das Interesse der Besucher anbelangt.  Ganz oben ist dabei allerdings noch immer der großartige Roman Wie später ihre Kinder von Nicolas Mathieu.

Kurzbesprechung der August-Bücher

Der größte Vorzug von Die Welt der Gegenwart* von Émilie Aubry und Frank Tétart ist, dass der Leser einen schnellen Überblick über eine ganze Reihe wichtiger globaler Konflikte erhält. Die Beiträge sind mit sehr vielen, informativen und leicht zugänglichen Karten versehen, die erklärenden Texten versuchen, die komplexen Konfliktlinien darzustellen. Dass es zu Verkürzungen und Verzerrungen kommt, ist unvermeidlich, bedauerlich ist allerdings, dass ausgerechnet der Teil, der sich mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine befasst, eine sehr problematische Darstellung bietet. Kreml-Narrative, lupenreine Propaganda und das Aufkochen längst überkommener Ansichten (russischsprachig = pro-russisch) prägen diesen Teil, es wirkt, als würden die Autoren auf Teufel komm raus versuchen, eine gewisse »Ausgewogenheit« herzustellen. Im Vernichtungskrieg gibt es derlei nicht. Leider werden auch in anderen Bereichen zweifelhafte Formulierungen gebraucht, ausgerechnet auch in jenem über Israel.

Einen wirklich wunderbaren Roman hat Ulla Lenze mit Der Empfänger geschrieben. Das Thema war für mich ganz neu: Ein in die USA ausgewanderter Deutscher namens Josef (Joe) Klein wird in den späten Dreißigerjahren nolens volens zum Spion für Hitlerdeutschland. Als Amateurfunker sendet er geheime Nachrichten nach Europa. Er wird von den Amerikanern verhaften, früh genug, um nicht hingerichtet zu werden; nach dem Krieg wird er nach Deutschland, abgeschoben. Die Autorin hat Kleins Weg in die Bredouille und die unfreiwillige Rückkehr in ein ihm völlig fremdes Land in einer sehr schönen, bildkräftigen Sprache beschrieben, die sehr viel Wert auf die Zwischentöne, Grauzonen und Widersprüchlichkeiten legt. Spannende, atmosphärische und tragische Literatur, an der mir ganz besonders die immer wieder aufschimmernde Freude Joes über das vielfältige Leben in New York gefallen hat. Empfehlenswert besprochen wird Der Empfänger bei literaturleuchtet und Buch-Haltung.

Erzählungen gehören nicht zur bevorzugten literarischen Form, wie man bei einem Blick auf mein Buchregal oder meinen Blog unschwer erkennen kann. Ab und zu unternehme ich aber gern einen Ausflug in diesen Bereich, so bei Märchen aus meinem Luftschutzkeller von Oleksij Tschupa. Der Leser folgt den Geschehnissen von Personen, die in einem Haus im Osten der Ukraine wohnen, genauer gesagt im Donbass. Von Wohnung zu Wohnung arbeitet sich das Buch vor, manchmal sind die Geschichten direkt miteinander verbunden, wenn ein Geschehnis aus einer vorangegangenen Erzählung aus einer anderen Perspektive zumindest erwähnt wird. Nicht nur so bekommen die Erzählungen einen inneren Zusammenhang, das über das gemeinsame Wohnen in einem Haus hinausgeht. Manchmal sind die Erzählungen wild und schäumend, manchmal auf eine melancholische Weise trist.

Im dritten Teil seiner Krimi-Reihe um die Navajo-Police übernimmt Jim Chee die Ermittlungen. Das geht weniger dramaturgische als rechtliche Gründe. Wer ein wenig in den Teasern für die nächsten Bücher stöbert, findet schnell heraus, dass Joe Leaphorn bald wieder zurückkehrt und gemeinsam mit Chee auf Verbrecherjagd geht. In Zeugen der Nacht muss sich Chee mit einem merkwürdig belanglos erscheinenden Diebstahl beschäftigen, der jedoch im Zentrum einer Serie an Todesfällen zu stehen scheint. Wie die ersten beiden Romane ist Tony Hillermans Krimi angereichert mit mythischen Motiven der indianischen Gemeinschaft, sanftem Spott und sehr spannenden Passagen. Wie in den Vorgängerbänden macht der Tanz auf der Grenze zweier völlig verschiedener Kulturen besonderen Spaß. Die Buchreihe ist eine Entdeckung.

Glücklicherweise hatte ich vier Romane von Tony Hillerman vorrätig und konnte mit Dunkle Winde gleich noch einen lesen. Eine verwickelte Geschichte beschäftigt den Officer der Navajo-Police, Jim Chee: Ein Windrad wird immer wieder beschädigt. Während er auf der Lauer liegt, um den Täter zu fassen, geht ein Flugzeug in unmittelbarer Nähe nieder. Im Wrack ein Sterbender, unweit davon ein Toter. Nicht der einzige, denn eine unidentifizierbare Leiche wird in einiger Entfernung auch noch aufgefunden. Schließlich ist da noch der seltsame Diebstahl – alles zusammen eine harte Nuss für Chee, der selbst auch noch in Verdacht gerät. Der Schlüssel liegt im Verständnis der Motive, für einen Navajo schwierig, wenn es sich bei den Tatverdächtigen um Weiße oder Hopi handelt. Kulturelle Gräben gibt es auch zwischen den indianischen Gemeinschaften. Großartig erzählt.

Eine Enttäuschung ist der Thriller Die Toten vom Gare d´Austerlitz gewesen, auf den ich mich vor allem wegen des zeitlichen Rahmens sehr gefreut habe. Leider hat Autor Chris Lloyd seine Hauptfigur, den Inspecteur Éduard (Eddie) Giral, als irrlichternden Polizisten gestaltet, der allzu oft die Fäuste fliegen lässt, nicht kommunizieren kann, den selbstmitleidigen einsamen Wolf mimt und unglaubwürdig agiert. Das gilt auch für seine Mitstreiter, Widersacher und neutrale Personen, gleichgültig ob es sich um Flüchtlinge, Franzosen oder Deutsche handelt. Der Sohn der Hauptfigur gleicht eher einer grotesk verzerrten Karikatur. Ab der Mitte des Romans ging auch die Spannung verloren, die vielen abrupten Wendungen ermüden. Schade, denn aus der Idee hätte etwas Großartiges entstehen können.

*Rezensionsexemplar

Bloggestöber – »White Trash«

Genau weiß ich nicht mehr, wann ich zum ersten Mal mit dem Begriff »White Trash« in Berührung gekommen bin. Wahrscheinlich bei der Lektüre meiner damaligen Tageszeitung, sicher aber durch den Film 8 Mile von 2002 um den  Rapper Eminem und seine »Trash-Mom«, die in einem Wohnwagen ihre Existenz fristet. Die musikalische Umsetzung der Wohnsituation “Mom´s living in a trailor” zur Musik von “Sweet Home Alabama” werde ich wohl nie vergessen.

Wohnwagensiedlungen gehören zu den klassischen Stereotypen im Zusammenhang mit »White Trash«. Seit 8 Mile bin ich immer wieder auf die Umstände der verarmten, hoffnungs- und aussichtslosen Lebensumstände gestoßen, die sich mit dem Begriff »White Trash« verbinden. Ebenso klassisch wie großartig etwa in der Fernsehserie »The Wire«, aber auch in diversen Romanen, vor allem Thrillern und Krimis bis hin zu dem großartigen Sachbuch Das Imperium der Schmerzen über die verheerende Opioid-Katastrophe in den USA.

Nach der für mich völlig überraschenden Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA habe ich 2017 eine ganze Reihe von Büchern über die Vereinigten Staaten gelesen, darunter Hillbilly Elegy eines gewissen J.D. Vance. Ja, genau der. Tatsächlich haben mich einige der Schilderungen (zwischen langatmigen, eher langweiligen und sehr merkwürdigen Passagen) beeindruckt.

Zurückgeblieben ist ein Eindruck, wie groß der soziale und gesellschaftliche Graben zwischen der Unterschicht und der Mittel- bzw. Oberschicht ist, gar nicht zu reden von den wirklich reichen Zeitgenossen. Schul- und Universitätsbildung reichen nicht, ein Verhaltenskodex muss erlernt werden, ebenso eine Sprache und das Verständnis dessen, was überhaupt gemeint ist. Das hat Vance in dem Buch nachvollziehbar dargelegt.

Wie groß solche Probleme sind, kann man auch bei der fiktionalen Figur Phillip (“Lip”) Gallagher in der großartigen Serie Shameless beobachten, der während seiner Zeit an einer Hochschule keineswegs an seinen intellektuellen, sondern vor allem an den Gepflogenheiten, geschriebenen wie ungeschriebenen Gesetzen scheitert.

Das alles schimmert auch bei Hillbilly Elegy durch, an dessen Existenz ich durch einen sehr lesenswerten Beitrag von Kaffeehaussitzer erinnert wurde. Lesen würde ich es heute nicht mehr, seit der Autor seinen Kotau vor Donald Trump gemacht hat. Es gibt jede Menge Alternativen.

Blogmonat Juli 2024

Es war ein großartiger Lesemonat. Jedes Buch, das auf dem Bild zu sehen ist, war ein Gewinn. Fünf Romane, zwei Sachbücher, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten und eine atemberaubende Graphic Novel.

Im Juli habe ich einen literarischen Ausflug in eine dystopische Welt unternommen und zwar gleich zweifach. Den brillanten Endzeit-Roman von Cormac McCarthy Die Straße habe ich nach vielen Jahren zum zweiten Mal mit großem Lesegenuss und fürchterlichem Unbehagen gelesen, um anschließend in die Umsetzung als Graphic Novel einzutauchen: Die Strasse von Manu Larcenet ist hervorragend gelungen.

Die Besprechung zu Die Strasse wurde im Juli von den Besuchern meines Blogs am häufigsten angesteuert, der monumentale Roman Shōgun von James Clavell zog die zweitmeiste Aufmerksamkeit auf sich, gefolgt von einem ganz wunderbaren Roman aus Kuba: Anständige Leute von Leonardo Padura.

Ein ausführliche Sachbuchbesprechung gab es von mir im Juli nicht, zum nächsten Blog-Monat wird wenigstens eine neue erschienen sein. Die letzten Besprechungen zu den Büchern von Holger Afflerbach, Auf Messers Schneide, und Charlotte Schubert, Tod der Tribune, wurden aber auch im zurückliegenden Monat sehr häufig gelesen.

Anfang des Monats gab es einen großen Moment, als der Probedruck von Totenschiff Piratenbrüder Band 5 hier eintraf. Traditionell lese ich diesen laut vor, suche nach letzten Fehlerchen und Schwächen, nach deren Korrektur der Veröffentlichung nichts mehr im Wege steht. Totenschiff ist mein bislang bestes Buch, da sind Testleser, Lektorin, Korrektorin und ich ausnahmsweise einer Meinung.

Die Hauptfigur der Romanreihe um die Piratenbrüder, Joshua Walther Thomas Heat, hat nicht nur eine recht stattliche Zahl an Namen, eine bemerkenswerte Ahnenreihe (wie wir aus Vinland – Piratenbrüder Band 4 wissen), sondern trägt auch viele »Ehrentitel«. Wer die Aufzählung ansieht, begreift schnell, dass Joshua sich auf diesem Weg ein wenig über sich selbst lustig macht.

Joshua begegnet sich selbst mit einigem Spott, indem er sich »Ehrentitel« zuspricht. Das setzt sich während der gesamten Buchreihe um die Piratenbrüder fort.

Kurz-Besprechungen der Juli-Bücher

Leonardo Padura schickt Mario Conde wieder los, um einen Mordfall aufzuklären. Der Ex-Polizist, der am Ende des »Havanna-Quartetts« den Polizeidienst quittierte, wird von einem alten Kollegen um Unterstützung gebeten. Die Sicherheitskräfte Kubas sind durch den anstehenden Besuch Obamas und der Rolling Stones überlastet. Nolens volens hilft Conde aus, obwohl er eigentlich einen lukrativen Nebenjob und ein Thema zum Schreiben hat: Letzteres dreht sich um einen berühmten Zuhälter Kubas, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts nach politischem Einfluss strebte. Diese Geschichte wird in einer zweiten Zeitebene erzählt, während Conde mit seiner eigenen, weniger weit zurückliegenden Vergangenheit und den politischen Abgründen des Systems konfrontiert wird. Anständige Leute* wirf im Kern weniger die Frage auf, wie man »anständig« bleibt, sondern was »Anstand« eigentlich bedeutet. Wer Zeit findet, sollte Labyrinth der Masken lesen, auf dessen Inhalt immer wieder Bezug genommen wird. Aber auch ohne ist die Lektüre einfach ein Genuss.

Was für ein wunderbarer Schmöker! Angeregt durch die Serie habe ich endlich meinen seit Jahrzehnten gehegten Wunsch verwirklicht, Shōgun von James Clavell zu hören / lesen. Mir war episch zumute und das wurde von diesem Roman auf ganz großartige Weise bedient. Ein Epos in jeder Hinsicht, ungemein spannend erzählt, vielschichtig, die  taktischen, geopolitischen, persönlichen, gesellschaftlichen, religiösen und kulturellen Antagonismen, Missverständnisse und Motive sind ganz toll dargestellt. Mich haben sie in ihren Bann geschlagen. Das Buch hat mir dabei bedeutend besser gefallen als die Verfilmung, es gibt so viele Glanzpunkte. Latein als Sprache der Liebenden, dabei ist es doch auch die Geheimsprache der Priester. Das gegenseitige »Missverstehen«, nicht nur, wenn es um das Kopfkissen-Teilen geht. Wer sich daran stört, dass Clavell konsequent auktorial erzählt, soll ruhig in der Erzählhaltungsschmollecke hocken bleiben.

Die Welt des 18. Jahrhunderts ist so unendlich fremd. Wer Nie war es herrlicher zu leben: Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ 1718 – 1784 herausgegeben von Hans Pleschinski liest, wird rasch damit konfrontiert, dass »verstehen« relativ ist, wenn es um die Vergangenheit geht. Der Leser staunt und wundert sich. Allein die Sprache im Superlativ – alles ist allerliebst, herzlichst, vorzüglichst, fröhlichst, hinter dem gezierten Ton schimmert das nicht minder gezierte Gebaren durch. Ein Leben im Kampf um Beziehungen, unterworfen vom Ehrgeiz nach Titeln, Ämtern, einer geordneten und passenden Nachfolge. Interessant auch, was keine Rolle spielt: das einfache Volk. Es ist bestenfalls Kulisse, meist könnte man meinen, Frankreich wäre bis auf die Adeligen, Geistlichen und Offiziere verwaist. Gern hätte ich mehr über die Feldzüge erfahren, an denen der Tagebuchschreiber teilnahm, doch auch so ist es sehr wertvoll – wenn man z.B. die Serie Franklin sieht, versteht man, worauf das fußt und wie sehr – notwendigerweise – im Sinne des Verstehens dort aktualisiert werden musste.

Im Jahr 2008 habe ich Die Straße von Cormac McCarthy erstmals gelesen. Seitdem geistern eine ganze Reihe von Bildern, Formulierungen und Szenen aus diesem dystopischen Roman in meinem Gedächtnis herum, wie es scheint, werde ich diese erst dann vergessen, wenn ich alles vergessen werde. Erzählt wird eine Art Road-Novel nach einer Katastrophe. Vater und Sohn bewegen sich auf der Straße nach Süden, dem Meer entgegen. Kälte, Dunkelheit, Hunger (nicht Hungrig-Sein) und eine stete Bedrohung an Leib und Leben sind ihre Weggefährten. Dramatische Szenen spielen sich ab, Grauen und Anspannung weichen nicht; immer wieder müssen sie Risiken eingehen, um Vorräte zu finden, immer wieder den herumstreifenden Horden und Marodeuren ausweichen, immer wieder Hilfe verweigern, weil ihnen das andernfalls selbst den Tod brächte. Eine totale Situation, in der die Wahl auf Sterben oder Leben reduziert ist. Die Sprache ist karg, die Dialoge knapp und doch ist alles voller Emotion, auch wenn diese unausgesprochen bleibt. Das Ende dieses gewaltigen dystopischen Romans ist ausgesprochen gelungen und passend zu dessen Handlung.

Atemberaubend gezeichnet ist die Graphic Novel Die Strasse* von Manu Larcenet nach dem gleichnamigen Roman von Cormac McCarthy. Die Bilder fangen die schreckliche Atmosphäre ein, die in der Endzeit-Dystopie herrscht. Kälte, Stille, Asche, Regen, Gewalt. Grau ist die beherrschende Farbe, wenn der Winter hereinbricht, wird es Weiß. Immer scheinen die beiden Hauptfiguren verloren zwischen den zertrümmerten Städten, den Wracks und endlosen Landschaften im krisseligen Aschetreiben. Manchmal färbt sich der Ton rot, dann wüten fern gewaltige Brände oder es droht Gefahr. Marodeure, Banden, kleine Armeen ziehen über die Straße, mehrfach sind Vater und Sohn an Leib und Leben bedroht. Vor allem aber müssen sie Häuser untersuchen, um Vorräte zu finden, sonst würden sie verhungern. Dort lauert der Wahnsinn verstümmelter Leichen und oft auch der Tod, rötlich unterlegt, schauerlich und hochspannend. Das Leben in dieser Welt ist total, die Graphic Novel hat das meisterhaft eingefangen. Dazu tragen auch die Dialoge bei, die teilweise wörtlich aus dem Roman stammen; dennoch hat sich Larcenet Freiheiten gestattet, ohne mit dem Buch zu brechen. Eine großartige Umsetzung der Romanvorlage.

Für die Amerikanerin Paula Bloom ist die Rückkehr nach Europa und Deutschland im Jahr 1945 eine Fahrt in eine Welt voller Widersprüche. Im Zuge der Entnazifizierung werden Angehörige des Nationalsozialistischen Deutschland angeklagt und verurteilt, gleichzeitig greifen die Alliierten auf für sie wertvolle Deutsche zurück, auch wenn diese belastet sind. Paula wird mit den Kriegsgräueln, den Zerstörungen, der Schuld und der allgemeinen Verweigerung der Verantwortung konfrontiert, während sie versuchen soll, die Wahrheit über einen angeblichen jüdischen Top-Spion der Nazis herauszufinden. Dabei holt sie auf überraschende Weise ihre eigene Vergangenheit ein, als Tochter eines US-Geschäftsmannes in Berlin glaubt sie, Schuld auf sich geladen zu haben, Land und Leute nur hassen und den Zynismus in ihrer Umgebung nicht ertragen zu können. Für das Ritchie Girl eine schreckliche Herausforderung. Der Roman ist sehr spannend, intensiv erzählt und von kleinen Abstrichen eine tolle Lektüre.

Gelegentlich musste ich mich bei der Lektüre von Graue Bienen vergewissern, dass es Andrej Kurkow einen zeitgenössischen Roman geschrieben hat und nicht einen aus dem 19. Jahrhundert. In dem Dorf, in dem der Bienenzüchter Sergej lebt, scheint die Zeit partiell stehengeblieben zu sein. Nur in Spurenelementen ist die Moderne zu erkennen, etwa dem Handy. Und natürlich dem Krieg, der seit 2014 im Osten der Ukraine tobt. Ein grauer Mensch in der Grauen Zone zwischen den Kriegsparteien, gemeinsam mit seinem Freundfeind Paschka hält er als Einziger im Dorf die Stellung. Sergejs Sorge gilt seinen Bienen, so unternimmt er eine Fahrt, um ihnen die Möglichkeit zu geben, frei zu fliegen. Dabei wird er mit den Abgründen von Russlands Krieg gegen die Ukraine konfrontiert, ebenso mit den brutalen, menschenverachtenden Maßnahmen des Putin-Regimes. Der Kontrast zwischen dem ruhigen, nach Frieden strebenden Bienenfreund und den Verhältnissen verstärkt den Schrecken.

Wenn man sich als Schwarzer versteht und die eigenen, unzweifelhaft leiblichen Kinder blaue Augen, blondes Haar und helle Haut haben, geraten einige Gewissheiten ins Rutschen. So geschehen bei Thomas Chatterton Williams, der in seinem Selbstporträt in Schwarz und Weiss von dem Konzept race Abschied nimmt. Im Vorwort wird die Verwendung der Begrifflichkeiten wie race oder asian etc. erläutert. Die Lektüre dieses sehr interessanten Buches hält sehr viele überraschende Erkenntnisse bereit, man wird mit einer Vielzahl an unbekannten Fakten und Zusammenhängen, Ansichten und Strömungen konfrontiert. Der Autor nimmt dabei auch jene kritisch in den Blick, die zwar Gutes bewirken wollen, aber auf die alten Denkstrukturen bauen, diese zementieren. Stattdessen setzt er auf ein schwieriges Konzept, nämlich race zu verlernen. Tschüß, Hautfarbe! Tolles Buch, günstig bei der Bundeszentrale für politische Bildung zu erwerben.

*Rezensionsexemplar

Blog-Gestöber

Gleich zu Monatsbeginn bin ich über zwei sehr interessante Blog-Beiträge gestolpert, auf die ich gern verweisen möchte. Da wäre zum einen ein sehr ausführlicher, detailliert analysierender Text zu Jenny Erpenbeck, Kairos auf dem Blog AISTHESIS. Zum Inhalt will ich mich nicht äußern, auch weil ich den Roman weder kenne noch lesen werde und die Debatte nur am Rand mitbekommen habe. Gefallen hat mir allerdings die Form der Besprechung und insbesondere die Betonung, dass es sich bei Kairos um einen Roman, also ein fiktionales Werk handelt.

Der zweite Beitrag dreht sich um die Buchbranche und die Diskussion über Bücher. Kernthese von Marius Müller auf seinem Blog Buch-Haltung: Die Debatte ist tot. Die genaue Diagnose möchte ich hier nicht nachbeten, die Schlussfolgerungen ebenfalls nicht, stattdessen nur auf zwei Dinge hinweisen, die eine Debatte im geforderten Sinn erschweren. Da wäre die Neigung, alles, was nicht in die eigene »Denk-Nische« passt, niederzukartätschen, zweitens der Druck zum Hamsterrad durch die Algorithmen: Wer Reichweite will, der muss Masse liefern. Wo bleibt da Zeit zum Nachdenken & Zuhören? Sehr anregende Lektüre.

Aus der Ukraine kommt ein Kriegssplitter von Christoph Brumme: Auf Position lautet der kurze Bericht, der einen nachdrücklichen Eindruck von der grotesken Grausamkeit des Krieges hinterlässt. Sechzig Meter liegen zwischen Ukrainern und Russen, man kann den Gegner husten hören. Ein Motiv, das auch aus den früheren, in Romanen beschriebenen Kriegen vertraut ist; und – weil gegenwärtig, nicht allzu weit von hier geschehend – so unwirklich.

Jüngst habe ich den Roman  Shōgun von James Clavell beendet. Der Verlag verweist im Nachwort darauf, dass man Passagen, in denen die Sprecher rassistische Bemerkungen machen (1620!) nicht geändert habe und verweist auf das Urheberrecht von Autor und Übersetzer, die beide verstorben sind. Ich finde das aus ganz verschiedenen Gründen gut, grundsätzlich habe ich massive Vorbehalte gegen derartige Änderungen. Einige davon habe ich aus einem ausführlichen Beitrag zur problematische Selbstzensur von Verlagen auf dem Blog lesestunden.

Blogmonat Juni 2024

Sechs Bücher, drei Romane, drei Sachbücher, allesamt lesenswert. Zwei davon, »Auf Messers Schneide« und »Das Totenschiff«, wollte ich seit Jahren lesen und bin endlich dazu gekommen. Cover beim jeweiligen Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Wenig überraschend ist Das Totenschiff* von B. Traven das Buch, dessen Besprechung im Juni am häufigsten gelesen wurde. Auch für mich ist es das Highlight des Monats gewesen. Charlotte Schuberts Tod der Tribune* wurde am zweithäufigsten angesteuert, für ein dramatisches, aber sperriges Thema aus der Antike nicht selbstverständlich.

Wer sich mit einem gesellschaftskritischen Thema befasst, läuft immer Gefahr, sich davon überwältigen zu lassen. Die Leser meiner Besprechung des Beitrags zu Amsterdam, verlorene Stadt*, wissen, dass und wie es dem Autor Ries Roowaan gelungen ist, die Gefahr zu bannen. Der Artikel wurde am dritthäufigsten angesteuert.

Für das zweite Halbjahr habe ich unter den Neuerscheinungen eine Reihe von Büchern zusammengestellt (siehe Galerie am Ende des Beitrags), die ich unbedingt lesen will. Nun, eigentlich will ich noch viel mehr lesen, doch realistisch betrachtet werde ich mit diesen und dem, was ich als Recherchelektüre zu bewältigen habe, kaum fertig werden. Dazu gesellen sich nämlich noch knapp einhundert ungelesene und mehrere hundert nochmal zu lesende Bücher – weshalb ich auf Buchkauf-Diät bin.

Vor allem habe ich noch einiges selbst zu schreiben. Die beiden Schlussbände meiner Piratenbrüder-Buchreihe stehen an, mit der Überarbeitung von Verräter (es gibt so viele Formen von Verrat!) habe ich bereits begonnen, parallel werkele ich auch ein wenig am Schlussband Opfergang.

Doch überlege ich schon, wie es danach weitergeht. Ein historischer Roman aus der Wikinger-Zeit, der die Geschichte um Eillir, Stígandr und Ryldr aus Vinland – Piratenbrüder Band 4 weiterschreibt? Oder die Fantasy-Buchreihe, für die ich bereits umfangreiche Vorarbeiten erledigt habe? Was folgt als nächstes? Das ist hier die Frage.

Definitiv folgt am 20. September Totenschiff – Piratenbrüder Band 5. Und ja – ich habe ein schönes Zitat aus B. Travens Roman gefunden, das ich meinem eigenen voranstellen kann.

Das Zitat aus dem ganz vorzüglichen Roman von B. Traven wird »meinem« Totenschiff vorangestellt.

Kurz-Besprechungen der Juni-Bücher

Als einen Kipp-Punkt in der innenpolitischen Entwicklung der römischen Republik bezeichnet die Historikerin Charlotte Schubert den Mord an Tiberius Gracchus im 133 v. Chr. Ihr Buch Der Tod der Tribune* zeichnet die Entwicklung, die zu diesem dramatischen Moment führt, nach und blickt auf die Zeit zwischen und nach dem zwölf Jahre später unter grauenhaften Umständen zu Tode gekommenen Caius Gracchus. Es gibt einige sehr bemerkenswerte Erkenntnisse, etwa die archäologischen Forschungen zur Entwicklung des bäuerlichen Lebens in Italien, die gängige Behauptungen entkräftet. Vor allem gefällt die Einordnung des Geschehens am Schluss des Buches, das deutlich macht, wie die Elite Roms sich durch ihre knallharte Konfrontation mit den Gracchen selbst in eine lang- und mittelfristig höchst problematische Lage gebracht hat.

Kleinod ist so ein schönes Wort. Es trifft ganz wunderbar auf Durch den Nebel* von Jaroslaw Rudiš zu, einem kurzen Bändchen, das eine ganze Menge über das Schreiben und die bereits geschriebenen Bücher des Autors verrät. Die Perspektive ist ungewöhnlich, denn Rudiš in einer ungewöhnlichen Weise eisenbahnaffin. Wenig verwunderlich, wie sehr das Zugfahren in diesem Text im Mittelpunkt steht, ja, der erste Teil sogar aus einem Bahnhofslokal heraus erzählt wird. Reisen auf der Schiene ist für Rudiš nie Zeitverschwendung, daran ändern Verspätungen oder verpasste Anschlusszüge nichts. Die ohnehin gewinnbringende Lektüre wird noch besser, wenn man den Roman Winterbergs letzte Reise kennt. Die Schienen führen eben nicht nur von Ort zu Ort, sondern auch in die Vergangenheit, wenn man weiß, was man sieht. Nach dem Lesen von Durch den Nebel blickt man ein wenig mehr durch, historisch und auch sonst.

Zu den beliebtesten Zielen des internationalen Massentourismus gehört Amsterdam. Wie Ries Roowaan in seinem Roman Amsterdam, verlorene Stadt* auf boshaft-sarkastische, manchmal auch drastische Weise zeigt, hat das für die Ortsansässigen viele negative Folgen. Vor allem der beste Freund der Hauptfigur, Jan Janssen, leidet darunter; nach Corona, das wie eine segensreiche Atempause wirkte, radikalisiert er sich einer bis dahin schwer vorstellbaren Weise. Doch ist das nur der rote Faden durch eine Erzählung, die viel mehr zu bieten hat. Allein der Erzähler Leo mit seiner Lebensweise: In einem musikalischen Kokon folgt er dem Pfad des sexuellen Hedonismus’. Neben Rückblenden und durchaus wehmütig wirkenden Erinnerungen gibt es eine ganze Reihe kluger Beobachtungen, Gesellschaftskritik im Gewand einer bemerkenswert ungewöhnliche Erzählhaltung: Die Hauptfigur ist nämlich bereits tot.

Ein Abenteuerroman mit Tiefgang: So würde ich Das Totenschiff* von B. Traven beschreiben. Einordnen lässt er sich nicht so leicht, schockierend für Literaturbürokraten, schön für den Leser. Spannend ist der Weg, den der amerikanische Seemann Gales zurücklegt, auf jeden Fall. Zunächst irrt er ohne Papiere und zunehmend ohne Hoffnung auf eine Rückkehr in die geordnete Welt durch Westeuropa. Nach gut einem Viertel des Romans geht es auf die »Yorrike«, ein Seelenverkäufer, auf dem hanebüchene Zustände herrschen. Und doch ist es noch lange nicht der Tiefpunkt auf dieser grotesken, wilden, fürchterlichen und leider auch immer noch aktuellen Reise. Das Ende der Handlung zeichnet sich früh ab, doch hat der Autor noch eine unvorhergesehene Wendung als Schlusspunkt gesetzt. Damit ist das Buch noch nicht zu Ende, denn Volker Kutscher hat ein sehr lesenswertes Nachwort beigesteuert.

Der Erste Weltkrieg ist die Urkatastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts. Ein gut vier Jahre währendes Töten, dem Millionen Soldaten und zahllose Zivilisten zum Opfer fielen, der keineswegs in einen tragfähigen Frieden mündete, sondern in eine Zeit voller Bürgerkriege, Unruhen und schließlich einen weit schrecklicheren Krieg. Auf Messers Schneide von Holger Afflerbach zeichnet den Verlauf des Ersten Weltkrieges nach, zeigt die Möglichkeiten und Grenzen der kriegführenden Parteien und welche Entscheidungen sich daraus ergaben. Verloren war der Krieg lange für keine der beiden Seiten, auch nicht für die Mittelmächte, die durchaus ein Unentschieden oder unter besonders günstigen Umständen einen Sieg hätten erringen können. Das ausgewogen argumentierende Buch kommt zu manchem recht überraschend wirkendem Schluss, wenn es sich zum Beispiel mit den Kriegszielen Englands und Frankreichs sowie der USA befasst, die einen Friedensschluss 1917/18 massiv erschwerten, vielleicht sogar unmöglich machten.

Gereon Rath ist die Hauptfigur der Romanreihe von Volker Kutscher. Am Ende des achten Bandes stirbt Rath zum Schein, im neunten tritt er folglich in die Kulissen. Charlotte Rath übernimmt in Berlin, während ihr Ehemann im Verborgenen ein Scheinleben führt. Der Mord an einem SS-Offizier bringt die Handlung ins Rollen, die Ermittlungen verstricken sich mit anderen Handlungsfäden, etwa den Schwierigkeiten, in denen Friedrich (Fritze) Thormann steckt. Die Geschichte ist sehr spannend erzählt, dies- und jenseits des Atlantiks spitzt sich die Lage immer weiter zu, ehe alles in einem dramatischen Finale endet. Das wirkt ein wenig überspannt, was an der Lesefreude aber nichts ändert. Denn wie in den vorangegangenen Romanen ist die Atmosphäre der heimliche Star von Transatlantik*, der nahende Krieg wirft seinen Schatten, was selbst manchen eingefleischten Nazi zum Nachdenken bringt. Doch ein Entkommen ist nicht so einfach, weder dies- noch jenseits des Atlantiks.

Blog-Gestöber

Beim Stöbern auf Blogs stoße ich immer wieder auf sehr interessante Bücher, die ich allzu gern lesen würde. Besonders freue ich mich, wenn eines besprochen wird, das sich selbst auf meiner Liste hatte, aber letztlich streichen musste. Das gilt für Nora Krug, Im Krieg. Petra Reich von Literaturreich hat sich dieser Annäherung an den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine angenommen, die allein wegen der Gegenüberstellung einer ukrainischen und russischen Stimme interessant (und diskussionswürdig) ist. Sehr lesenswerter Beitrag.

Bei Kaffeehaussitzer bin ich durch einen Verweis auf Tage der Toten von Don Winslow »getriggert« worden, wie man so schön sagt. Der Dreiteiler des US-Thriller-Autors befasst sich mit dem Thema »war on drugs«, jenem nicht enden wollenden Krieg gegen die Drogen, der mich seit Jahrzehnten beschäftigt. Diesmal geht es aber um Israel, einen Staat in einer sehr speziellen Lage, umgeben von aggressiv agierenden Todfeinden. Krieg war immer schon ein Katalysator für den Drogenkonsum, beides gehört zusammen, wie man bei Maror von Lavie Tidhar offensichtlich sehen kann. 

768 Seiten sind mir einfach zu viel gewesen, sonst hätte ich La Storia von Elsa Morante gern gelesen. So freue ich mich, dass auf Buch-Haltung eine interessante Besprechung zu lesen ist. Der Roman ist zarte fünfzig Jahre alt und – bedauerlicherweise – brandaktuell, zeigt er doch die Abgründe auf, in die totalitäre, namentlich faschistische Gesellschaften steuern.

Ein wenig Stöbern kann man bei Literaturleuchtet und eine kleine, subjektive Buchauswahl für den Herbst kennenlernen, mit erläuternden Worten! So fleißig bin ich nicht, hier nun einige Bücher, auf die ich mich freue (leider gibt es für wenigsten vier weitere Titel noch kein Cover).

Blogmonat Mai 2024

In jeder Hinsicht ein wirklich guter Lesemonat.

Thomas Willmann hat einen monumentalen Historischen Roman geschaffen, der vor allem durch seine Sprache überwältigt. Der Roman braucht Zeit, der Leser sollte sie ihm gewähren und ganz in diese Welt eintauchen, die so üppig, ausschweifend und sprachmächtig gestaltet ist, dass man aus dem Staunen gar nicht wieder herauskommt. Es geht um das Streben nach Höherem, das selbst (oder auch gerade) die Begabten in die tiefsten Abgründe führt. Dabei geht es um nichts Geringeres als die Nachahmung des Schöpfungsaktes, das Leben, ein Motiv, das bis in die Gegenwart eine immer wichtigere Rolle spielt und diese zweifelsfrei auch in der Zukunft spielen wird. Der Eiserne Marquis erzählt vom verzweifelten Versuch, sich gegen die Allmacht des Todes zu behaupten, mit all seinen tragischen Folgen.

Ein sehr lesenswerter Klassiker des Spionageromans ist Ein Dandy in Aspik* von Derek Marlowe. Erzählt wird die Geschichte eines Doppelagenten namens Alexander Eberlin, der in Wahrheit Krasnevin heißt. Eberlin arbeitet pro forma für die Briten, seine Aufgabe ist aber, Gegner des sowjetischen Geheimdienstes zu eliminieren. Ein Profikiller, der aber von der Spionage-Ikone James Bond weit entfernt ist, ebenso nicht dem in den 1960er Jahren gängigen Bild des ideologisch geprägten Sowjet-Agenten entsprechen will. Eberlin wird nach Berlin geschickt, um dort nach einem Doppelagenten zu suchen: Krasnevin. Er jagt also sich selbst. Spannend, krautig, rasant und mit viel Witz und Sarkasmus erzählt. 

Auf eine Reise in die Abgründe der Pharma-Industrie begibt man sich bei der Lektüre von Imperium der Schmerzen von Patrick Radden Keefe. Die so genannte Opioid-Krise ist sicher vielen als Schlagwort bekannt, allein die Zahlen, die zu Beginn des Buches genannt werden, offenbaren ihre katastrophalen Ausmaße: mehr als 450.000 Tote hat diese Krise gefordert. Keefe unternimmt eine Fahrt in die Geschichte und erzählt von der Familie Sackler und ihrem Aufstieg, der fest verbunden ist mit Purdue Pharma, dem Hersteller des verhängnisvollen Medikaments. An vielen Stellen bleibt nur fassungsloses Kopfschütteln, etwa bei der Markteinführung des ersten Morphins in Tablettenform in den 1980er Jahren. Bis zum Ende des Buches ändert sich daran nichts, im Gegenteil: der Abgrund wird tiefer und tiefer. Bemerkenswert ist nämlich auch, wie taktisch und strategisch klug sich die Sackler-Familie bis zum Ende gewehrt hat und wie hilfreich das politische und juristische System der USA sind, wenn man reich ist.

Drei Romane habe ich von Stefan Heym gelesen, die bei allen inhaltlichen Unterschieden historisch-politisch ausgerichtet sind. Ich habe die Bücher gern gelesen, trotz der – aus meiner Sicht irritierenden politischen Aktivitäten Heyms nach 1990. Umso erfreuter war ich, dass es eine Graphic Novel gibt, die sich dem Werdegang des Schriftstellers widmet. Die sieben Leben des Stefan Heym von Gerald Richter (Text & Konzeption) und Marian Kretschmer (Illustration) ist nicht nur sehr stimmungsvoll graphisch umgesetzt, sondern informativ und spannend zu lesen. Heym hat alles mitgenommen, was das 20. Jahrhundert zu bieten hatte. Sein Leben ist von heftigen Brüchen durchzogen, der Titel ist absolut gerechtfertigt. Die Geschichte macht auch deutlich, wie ungewöhnlich ruhig es im Deutschland der vergangenen Jahrzehnte doch gewesen ist. Das ist jetzt allerdings vorbei.

Seit vielen Jahrzehnten begleiten mich die Romane von Martin Cruz-Smith, die sich um die fiktive Figur des russischen Ermittlers Arkadi Renko drehen. Den Anfang bildete Gorki Park, das auch großartig verfilmt wurde, und in gewisser Hinsicht auch den besten der Romane darstellt. Da die Sowjetunion zerbrach (und sich die in Gorki Park für mich beim Erstlesen abwegige Furcht eines KGBlers, die Deutschen könnten sich wiedervereinigen, tatsächlich bewahrheitete) und Russland seither mehrere Wandlungen durchlief, blieben die nachfolgenden Romane allesamt sehr interessant (Korruption, Seilschaften, Tschernobyl, Cuba, Putsch, Putin, Oligarchen, politische Apathie); der jüngste, nunmehr zehnte Teil heißt Independence Square und spielt denn auch recht passend in Russland und der Ukraine. Wie immer: Hoffentlich gibt es noch einen. 

Mittlerweile kenne ich einige Bücher von Christian Friedrich Delius, die mir allesamt gefallen haben. Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich bildet keine Ausnahme. Es ist ein Rant in Tagebuchform, verfasst von einem geschassten Zeitungsmann, der seine erzwungene Frei-Zeit in Betrachtungen steckt, die nicht als Blog oder Buch veröffentlich werden, sondern seiner Nichte Lena zugute kommen sollen. Die Aufzeichnungen sind hochpolitisch und haben einen wirtschaftlichen Touch. Ja, so sperrige Begriffe wie »Deflation« werden gebraucht. Überhaupt ist es vorteilhaft, die vergangenen dreißig Jahre aufmerksam durchs Leben gegangen zu sein, dann entfaltet der anhaltend boshafte, sarkastische, ironische, bissige und schön formulierte Rant seinen wunderbar pointierten Charme. Ich bin keineswegs mit allem einverstanden, wäre ja noch schöner! Aber die Mük – die „Meist überschätzte Kanzlerin“ – und anderes Polit-Gekreuch, das hat schon was. „Ab wann darf man von Bananenrepublik sprechen?“ Gute Frage.

Urban Fantasy lese ich als Unterhaltungsliteratur, bestens geeignet für einige entspannte Stunden in einer magisch erweiterten Welt. Es ist weniger Harry Potter als Bartimäus gewesen, der mich für dieses Genre sensibilisiert habe, jenes dschinngewordene Musterexemplar an Bescheidenheit. Allzu häufig verirre ich mich nicht in diese Gefilde, aktuell stibitze ich meinem Sohn gelegentlich ein Exemplar der Alex-Verus-Reihe von Benedict Jacka. Der vierte Teil, Der Wächter von London,  hat mir sehr viel Spaß bereitet, was auch daran liegt, dass es vielschichtig, düster und grenzverwischend zur Sache geht. Die Hauptfigur wird von ihrer Vergangenheit eingeholt, der Versuch, diese abzuschütteln, erweist sich als gescheitert. Jacka kleidet das in eine sehr spannende Jagd-Geschichte, denn an Verus soll blutige Rache geübt werden – für einen Tod, den er mit zu verantworten hat. Alles gut? Die Übersetzung ist bisweilen ein wenig seltsam.

Blog-Gestöber

Die meiste Aufmerksamkeit auf meinem Blog wurde im Mai dem Spionage-Klassiker Ein Dandy in Aspik* von Derek Marlowe zuteil, dicht gefolgt von der Graphic-Novel Die sieben Leben des Stefan Heym* von Gerald Richter und Marian Kretschmer. Auf dem dritten Rang liegt eine ältere Besprechung von Éric Vuillard, Die Tagesordnung.

Bei den Sachbüchern fand meine Buchvorstellung Aus dem Nebel des Krieges, hrsg. von Kateryna Mishenko und Katharina Rabe die meiste Beachtung, auch die Besprechung von Die Sklaverei und die Deutschen*, hrsg. von Jasmin Lörchner und Frank Patalong wurde recht häufig angesteuert. Auch hier rundet eine ältere Besprechung von Christopher Clarks Die Schlafwandler* das Top-Trio ab.

Der Frühling ist noch nicht vorbei, angesichts des Wetters vielleicht nicht einmal richtig begonnen, da liegen schon sehr viele Vorschauen der Verlage für den Herbst vor. Ich habe meine eigene Liste erstellt, anfangs waren es 45 Bücher, angesichts begrenzter Lesezeit habe ich diese auf zwölf zurückgestutzt.

Wer einmal einen ganz individuellen Blick auf die Auswahl von Bloggern werfen will, wird bei Buch-Haltung und Literaturreich fündig. Hier freue ich mich schon auf die Blogbeiträge, da ich kein einziges der dort aufgeführten Bücher selbst lesen werde. Ein Besuch lohnt sich, es sind einige sehr interessante Werke darunter.

Einen Besuch möchte ich auch auf Literaturleuchtet empfehlen und zwar aus zwei Gründen. Einmal findet sich dort eine positive Besprechung von Hernan Diaz, Treue, ein Roman, mit dem ich selbst nicht so viel anzufangen wusste;  zum zweiten wegen des Beitrags zu Salman Rushdies Knife, der zum Nachdenken anregt.

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