Im Lesemonat April gab es wieder mehrere tolle Leseerlebnisse. Ganz besonders gefallen haben mir die Bücher von Karen Duve, Graham Swift, Nino Haratischwili und vor allem Wolfgang Herrndorf.
Wie immer mäandere ich durch Genres, Zeiten und Themen, mit Kleist ist wieder etwas Klassisches dabei, was einigermaßen selten gelesen werden dürfte. Mich hat interessiert, wie sich bei dem Dichter der nationalistisch verbrämte Germanenkult des 19. Jahrhunderts niederschlägt.
Die Anregung habe ich aus Karen Duves Roman über Annette von Droste-Hülshoff erhalten, deren Heldin Zeitgenossin von Kleist gewesen wäre, wenn dieser nicht so zeitig den Freitod gewählt hätte. Ein tolles Buch, das anregt, „Die Judenbuche“ wieder zu lesen.
Während in der Ukraine weiter der Vernichtungskrieg von Putins Russland tobt und – ganz typisch für den Menschen – immer weiter zur Gewohnheit zu werden droht, habe ich durch den Wälzer aus der Feder von Nino Haratischwili eine Reise zu den Wurzeln des Alptraums unternommen: Tschetschenien. Putins Kriegsverbrechen in der Ukraine haben eine lange Vorgeschichte – man könnte sagen: Tradition.
Eine Enttäuschung war auch dabei, es dürfte mein letzter Anlauf gewesen sein, ein Werk von Robert Seethaler zu lesen.
Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer
Meine dritte Begegnung mit Karen Duves Literatur, Wolfgang Herrndorf sei dank, der sie in „Arbeit und Struktur“ einmal erwähnt hat und mein Interesse weckte. Warum? Herrndorf hat auch andere erwähnt, auf andere Weise, sagen wir einmal so. Und ja, man schaut in eine sehr interessante Zeit, ist dabei, wenn altdeutsch überspannte Studenten poetisieren und lamentieren, berühmte Persönlichkeiten in Erscheinung treten und Frauen nicht einmal die zweite Geige, sondern nur Bratsche spielen dürfen. Nette, die keineswegs nette Annette von Droste-Hülshoff, fällt aus diesem Rahmen und erfreut den Leser mit kleinen und größeren Gemeinheiten gegenüber ihrer Umwelt, nicht war, Herr Grimhelm Wimm? Und doch: Auch starke Frauen können scheitern. Im Falle der Annette von Droste-Hülshoff ist es ein „Wunder“, dass sie noch zum Schreiben kam.
Heinrich von Kleist: Die Herrmannsschlacht
Der jung verstorbene. Dichter Heinrich von Kleist ist vor allem durch seine Novelle „Michael Kohlhaas“ und die Komödie „Der zerbrochene Krug“ bekannt, sein Werk „Die Hermannsschlacht“ gehört zu den eher unbekannten und ignorierten Stücken. Kein Wunder. Für Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts eine Zumutung. Germanien und seine Völker sind die Deutschen, die von entstellenden Clichés gezeichneten Römer ihre Unterdrücker. Aber – es gibt Herrmann, deutsche Tugenden, Verrat und Rache. Gottlob. Für von Kleist und die meisten seiner Zeitgenossen ein Wunschtraum, hatte Napoleons Frankreich gerade Preußen vernichtet und dem Heiligen Römischen Reich den Todesstoß versetzt. Und doch: Haben die wirklich gern gelesen, dass eine von den Römern Vergewaltigte zuerst vom eigenen Vater getötet, dann in Teile geschickt und als aufrüttelndes Symbol an die germanischen Stämme verschickt wurde? Wenn ja, dann hätten die Franzosen vielleicht besser länger östlich des Rheins ausgeharrt.
Nino Haratischwili: Die Katze und der General
Die Zutaten dieses Romans sind wie für mich gemacht. Ich lese so gern Geschichten, die sich auf mehreren Zeitebenen entfalten und ihre Erzähllinien langsam ineinander verwickeln. Sind diese noch mit historisch-politischen Aspekten verknüpft, umso besser. Dafür nehme ich gern etwas Info-Dump inkauf, der in dem Roman „Die Katze und der General“ absolut im Rahmen bleibt bzw. sehr geschickt eingeflochten wurde. Dafür hätte Nino Hartischwili gern an der einen oder anderen Stelle kürzen können, insbesondere bei den Kapiteln, die nahe der Gegenwart spielen. Die Vergangenheit ist aber mitreißend, denn sie führt den Leser in hierzulande gern ignorierte Kriege und entlarvt das „Frieden in Europa seit 1945“ als hohles Geschwätz. Schließlich hält der Roman dem deutschen Leser manchmal einen Spiegel vor. Es besteht durchaus die Gefahr, dass man sich schämt.
Eine ausführliche Buchvorstellung: hier entlang.
Wolfgang Herrndorf: In Plüschgewittern
Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, vor allem, wenn in der verstrichenen etwas lebensumstürzendes wie das iPhone auf den Markt gebracht wird. Ja, so betrachtet, wirkt der Roman alt. Und doch zeitlos. Wolfgang Herrndorf hat als Titel eine Anspielung auf Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ gewählt, inhaltlich spiegelt sich das nicht unbedingt wider. Allerdings ist der Stil schon sehr prägnant, wuchtig, zielstrebig und dynamisch und ohne moralische bzw. politisch-gesellschaftliche Intention. Weniger leicht und komisch als bei Tschick, weniger erbarmungslos als bei Sand und von der tiefen Hoffnungslosigkeit in Arbeit und Struktur ist nichts zu spüren. Und doch singt ein Ton mit, der in gewisser Hinsicht desillusionierend wirkt. Und das ist Herrndorf bei allem eben doch: ein Desillusionator.
Eine ausführliche Buchvorstellung: hier entlang.
Robert Seethaler: Der letzte Satz
Kein musikalisches Werk habe ich so oft gehört, wie die zweite Sinfonie von Gustav Mahler. Insofern bestand eine gewisse Verpflichtung, in das schmale Büchlein von Robert Seethaler einmal hineinzuhören, denn da geht es um die letzten Monate des Komponisten. Zwei Stunden waren gerade so in Ordnung, ohne die Gehässigkeiten über das Wiener Publikum wäre es unerträglich langweilig gewesen. Man könne über Musik nicht reden bzw. schreiben, heißt es einmal sinngemäß im Buch. Dann lasst es doch, bitte. Danke.
Graham Swift: Ein Festtag
Eine Geschichte, wie ein Alptraum für Anhänger des „Show, don´t tell“-Axioms. Graham Swift erzählt hingebungsvoll. Aus der schwebenden Gegenwart, einem frühsommerlichen Märztag, lässt er seine Protagonistin das Schlafzimmer mit ihrem Geliebten und ihren späteren Streifzug durch das Haus, in weiten Schleifen durch die Vergangenheit ziehen. Aus der fernen Zukunft kommt die Schriftstellerin zu Wort, denn dieser Tag ist nicht nur das (tragische) Ende einer verbotenen sexuellen Leidenschaft, sondern die Geburtsstunde der Idee, zu schreiben. „Es ging darum, eine Sprache zu finden; und es ging darum – und das folgte aus dem Vorherigen – der Tatsache treu zu sein, dass viele Dinge im Leben, oh, so viele mehr als wir uns vorstellen, nie erklärt werden können.“
Ó Cadhain Maírtín: Die Asche des Tages
Sehr passend erscheint mir das Motiv auf dem Cover des kleinen Büchleins: eine Flasche. Die Assoziationen sind eindeutig, Alkoholismus, eine gewisse Verlorenheit und Tragik und Flaschenpost! Wirft man eine Flasche in ein stehendes oder fließendes Gewässer, liefert man sie aus. Aus eigener Kraft kann sie sich nicht fortbewegen, keinen eigenen Willen entwickeln und in die Tat umsetzen. Strömungen und Hindernisse entscheiden darüber, in welche Richtung es geht, wenn die Flasche nicht irgendwo hängenbleibt. Daran musste ich bei der Lektüre dieses geradezu grotesk wirkenden Buches von Ó Cadhain Maírtín denken, deren Hauptfigur N. ähnlich durch einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag irrlichtert.
Man muss das Rad nicht neu erfinden! Eine ausführliche und sehr treffende Rezension zu „Die Asche des Tages“ gibt es auf dem schönen Literatur-Blog Horatio-Bücher.
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