Elf Bücher im Lesemonat August, thematisch, zeitlich und in ihrer Form sehr breit gestreut. Tagebücher und Augenzeugenberichte bilden einen Schwerpunkt, damit befasse ich mich in einem kurzen Beitrag. Cover beim jeweiligen Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Starke Frauen können scheitern. Larissa Reissner war eine starke Frau, die auf tragische Weise gescheitert und früh gestorben ist. Steffen Kopetzky hat ihr in seinem Roman Damenopfer ein literarisches Denkmal der Extraklasse gesetzt, sein Buch ist eine ebenso mutige wie gelungene und dem Sujet angemessene Umsetzung der Idee, sich Leben und Sterben der außergewöhnlichen Frau zu widmen. Großartig ist die Sprache, bildstark und bei aller Tragik ironisch und voller Komik, was der Schwergewichts-Lektüre eine wohltuende Leichtigkeit verleiht. Ein heißer Kandidat für mein »Buch des Jahres«.

„Wie fängt so etwas an?“, heißt es an einer Stelle im Buch. „So etwas“ meint das Bild Konzert von Heinrich Vogeler, das berühmteste aus der so genannten Künstler-Kolonie Worpswede. Die Antwort gibt der Roman Konzert ohne Dichter von Klaus Modick, der kunstvoll die Ereignisse nachzeichnet, die letztlich in diesem Bild mündeten. Als passionierter Kunstbanause lese ich Künstlerromane mit großem Genuss und – dank Internet – immer auch einem Seitenblick auf die Bilder.

Große Themen greift der Kriminalroman Das neunte Gemälde von Andreas Storm auf: Kunstraub durch die Nationalsozialisten, unrechtmäßiger Handel mit geraubter Kunst, Unterwanderung der westdeutschen Sicherheitsorgane durch ehemalige Angehörige der SS. Jedes für sich ist  interessant, die Verstrickung im Rahmen eines vielschichtigen Kriminalfalls ein spannender, allerdings geraten das Erzählen und die Personen des Romans ein wenig zu „glatt“, flüchtig und hastig. Am Ende bleibt das Gefühl, dass durch Weniger hätte Mehr werden können.

Noch immer tobt der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Im August habe ich mehrere Bücher über das Thema beendet und teilweise besprochen. Wie in meinem  Lesemonat Juli ausführlich erläutert, dient derartige Lektüre dem Informieren, der Orientierung, dem Bedürfnis nach Begreifen und dem Abstand von der kurzatmigen Tagesberichterstattung. Bücher sind in diesem Sinne unersetzlich, denn sie eröffnen Perspektiven: die eines deutschen Freiwilligen auf Seiten der Ukrainer (Schützenhilfe von Jonas Kratzenberg), eines russischen Luftsturmsoldaten (ZOV von Pawel Filatjew), dem Kriegstagebuch eines in Charkiw lebenden Zivilisten (Feuerpanorama von Sergej Gerassimov) und die einer kurzen, aber umfassenden Darstellung des Krieges und seiner Ursachen (Der Krieg gegen die Ukraine von Gewndolyn Sasse).

Ganz passend dazu sind die Tagebücher Hermann Stresaus, die unter dem Titel Als lebe man nur unter Vorbehalt veröffentlicht wurden. Es ist frappierend, wie hellsichtig der Autor gewesen ist; dabei stand ihm nur die propagandadurchseuchte Presse bzw. das Radio zur Verfügung. Der Schlüssel liegt im Nachdenken. Seine Aufzeichnungen sind auch ein Kontrapunkt zu dem langen, bis heute hörbaren Echo der NS-Propaganda, er schildert, wie der Krieg in den Alltag drängt, ihn trotz aller kleinen Fluchten beherrscht.

Wovon Stresau nichts wusste und wir heute nur durch eine Indiskretion eines Teilnehmers wissen, ist Thema einer Graphic Novel: die Wannsee-Konferenz. Anfang 1942 hat diese stattgefunden, beschlossen wurde nicht weniger als der Tod von bis zu elf Millionen Menschen. Ein bürokratischer Akt des Grauens, in seiner Art singulär. Die Graphic Novel von Fabrice le Hénanff setzt das düstere Thema auch künstlerisch sehr gelungen um.

In der Philosophie bin ich nur Zaungast. Für mich ist das Buch Hegels Welt perfekt geeignet, um mein Wissen zu vermehren und mich an und über meine Grenzen des Verständnisses hinauszuführen. Ich habe eine Menge Eindrücke über Hegels Leben und Wirken erhalten, die Zeit, in der er lebte, was spannend genug. Seine Weltsichten werden in Jürgen Kaubes Sachbuch auch vorgestellt, hier konnte ich nicht überall folgen. Das hat den Lesegenuss jedoch keineswegs getrübt.

Die geheime Geschichte ist meine zweite Begegnung mit einem Werk der amerikanischen Schriftstellerin Donna Tartt. Kurz: Ihr Distelfink gefällt mir besser. Die geheime Geschichte ist ein ausschweifender Roman im College-Milieu der US-Ostküste. Eine kleine, fast geschlossene Gruppe von Studenten des Faches Altgriechisch begeht einen Mord – das ist kein Spoiler, denn das erfährt der Leser ganz früh. Dank der ausgeklügelten Handlungsstruktur kommt eine Menge Spannung auf, man hat stets das Gefühl, gleich passiere noch etwas, während die Erzählung durch das Dasein des Protagonisten streift. Aber: zu ausschweifend erzählt.

Bloggestöber

Für mich völlig überraschend und in der noch recht kurzen Bloghistorie einmalig ist das Interesse an meiner kurzen Buchbesprechung von Feuerpanorama, mit dem der Schriftsteller Sergej Gerassimov die ersten Monate des russländischen Angriffskrieges gegen die Ukraine schildert. Bislang sind die Bücher um die Ukraine auf eher verhaltenes Interesse gestoßen, Kriege ermüden auch jene, die in der Ferne bloß zuschauen und nur mittelbar betroffen sind. Umso mehr freut mich das Interesse an diesem Buch.

Ein historischer Roman, der sich nicht nur einem hochspannende Thema auf komplexe Weise nähert und noch eine Utopie und ihr Scheitern schildert, ist Der Sklavenkrieg von Arthur Koestler, dessen Besprechung auf reges Interesse gestoßen ist. Das gilt auch für mein »Sachbuch des Jahres«, das epische, epochemachende Die wahre Geschichte der Wikinger von Neil Price, dessen ausführliche Vorstellung zum Glück viele Leser gefunden hat.

Neues gibt es auch auf meiner Blogseite Piratenbrüder: Das Cover des vierten Bandes Vinland kann jetzt betrachtet werden, außerdem habe ich den Klappentext veröffentlicht. Der vierte Teil der Buchreihe hat zwei Zeitebenen, von denen eine in der Wikingerzeit spielt. Das Buch erscheint Ende 2023 / Anfang 2024. Mittlerweile ist auch das eBook des ersten Teils Eine neue Welt erhältlich, Band zwei Chatou erscheint in wenigen Tagen.

Augenzeugentagebücher & -berichte

In diesem Moment bin ich von der Lektüre eines fürchterlich guten Buches aufgestanden und an den Schreibtisch getreten, um mich einem wichtigen und sehr aktuellen Thema zu widmen: (Kriegs-)Tagebüchern und Augenzeugenberichten. Das Buch, von dem ich spreche, stammt von Hermann Stresau, der von 1933 bis 1945 Tagebuch geführt hat. Das Thema betrifft aber auch jene schriftlichen Erzeugnisse, die aus der von Russland mit Krieg überzogenen Ukraine stammen. Einige davon habe ich bereits auf meinem Blog besprochen.

Auf eine erschreckende Weise überschneiden sich beide Themen. Damals wie heute liest man die gleichen Ortsnamen, Kyjiw, Charkiw, Krim, Cherson, damals wie heute ist die Ukraine Schauplatz eines brutalen Überfalls, damals wie heute ist das Ziel des Angreifers die totale Auslöschung, damals wie heute hören wir von Folter, Erschießungen, Deportationen und Kriegsverbrechen.

Bei allem Gleichen sollen auch Unterschiede genannt werden: Damals griff die deutsche Wehrmacht an, heute Russland, damals verteidigte sich ein brutales Diktatorenregime unter Stalins Knute, heute eine westlich orientierte Demokratie, damals wurden schon in den ersten 500 Tagen hunderttausende Zivilisten von deutschen Einsatzgruppen erschossen, diese Dimension zumindest ist heute geringer. Bis jetzt, denn die Drohung, Atomwaffen einzusetzen, beinhaltet durchaus die Möglichkeit einer massenhaften, gezielten Tötung von Zivilpersonen.

Tagebuchschreiber sind Augen- und Ohrenzeugen und gleichzeitig zwangsläufig »blind«. Man sieht es im Falle historischer Tagebücher, wie Stresaus Als lebe man nur unter Vorbehalt, wie sehr die Gedanken, Annahmen und Schlüsse fehlgehen. Auch ein atemberaubend hellsichtiger Mensch wie Hermann Stresau, der sich von den Propagandastürmen des NS-Regimes und militärischen Siegen nicht hat mitreißen lassen, irrte bisweilen.

So geht es auch jenen, die seit dem Februar 2022 Zeugnis ablegen und schildern, was sie erleben und wie sie das Erlebte wahrnehmen. Das ist immer lohnenswert, denn es liefert einen – trotz allem immer auch gefilterten – Blick auf die Dinge. Das ist wichtig zu wissen. Stresau wusste zum Beispiel sehr früh von dem, was mit den Juden geschah; nicht im Detail, nichts von den Vernichtungslagern, aber vom Stern (für den er verächtlichen Sarkasmus übrig hatte), den Deportationen der Juden und Massenerschießungen hinter der Ost-Front.

Ein Widerständler ist er dadurch nicht geworden, zumindest ist davon nichts in seinen Tagebüchern zu lesen. Davon kann man halten, was man will, aber so tritt uns der Augen- und Ohrenzeuge Stresau entgegen. Und so treten uns die Autoren von (Kriegs-)Tagebüchern aus der Ukraine entgegen; es geht dabei aus meiner Sicht nicht um Wahrheit oder Lüge, um Heldenmut oder Feigheit und andere reichlich unangemessene Kategorien. Als Leser bin ich kein Richter, sondern vor allem neugierig auf die Darstellung einer Erlebenswelt, historisch oder gegenwärtig.

Die Frage nach der Wahrhaftigkeit stellt sich natürlich. Stimmt es, dass der russische Soldat keine Kriegsverbrechen gesehen hat? Wie viel Wahrheit steckt in der Beobachtung von Schlägen, die russländische Kriegsgefangene einstecken musste? Wichtiger noch: Wie schwer wiegt das angesichts der russländischen Kriegsverbrechen? Kann man wirklich so gelassen Tagebuch führen, während die Heimatstadt unter schwerem Feuer liegt? Aus der zeitlichen und räumlichen Ferne bleibt mir wenig mehr, als das zunächst einmal so hinzunehmen und abzuspeichern, abzugleichen. Die Zeit für Antworten kommt später, jetzt ist die Zeit der Eindrücke.

*Rezensionsexemplar