Das Dezember-Lesen ist immer von Weihnachten geprägt. Unter dem festlich geschmückten Baum liegen Bücher, vor allem richtig dicke, die dann sofort gelesen werden können. In den Tagen zwischen dem Fest und dem Jahreswechsel habe ich normalerweise Zeit, ohne Ablenkung und Verpflichtung täglich stundenlang in einem Buch zu versinken. Normalerweise. Doch der Dezember 2022 hat eine Abweichung vom gewohnten Gang der Dinge gebracht.
Ich bin nicht fertiggeworden. Mein Buch, das ich eigentlich bis zum Freitag den 23. Dezember gelesen haben wollte, war noch längst nicht ausgelesen, aus Zeitknappheit hatte ich gerade einmal ein Viertel geschafft. Was tun? Unter dem Baum lag ja tatsächlich neue Lektüre und zwar ein 1.600 Seiten starker Roman namens Dein Gesicht morgen von Javier Marías, der mich sehr interessiert. Sofort damit anfangen oder erst einmal das begonnene Buch beenden?
Keine Frage! Das neue Buch beginnen, das andere zurückstellen. Für gewöhnlich hätte ich das auch so gehandhabt, doch handelte es sich bei dem bereits in Arbeit befindlichen Roman um einen ganz besonderen: Alexis Jenni, Die französische Kunst des Krieges. Es ist ein Wiederlesen gewesen, denn dieses ganz außergewöhnliche Buch hatte ich bereits kurz nach der Veröffentlichung gelesen.
Ein Buch ein zweites Mal zu lesen birgt ein gewisses Risiko. Man kann enttäuscht werden. Über Enttäuschungen habe ich mich in einem Blogbeitrag ausgelassen, sie sind einfach nicht zu vermeiden. Bücher haben ihre (Halbwert-)Zeit. Doch Jennis Roman ist auch beim Wiederlesen ein Genuss gewesen und eine Überraschung. Viele wichtige Motive habe ich beim ersten Mal gar nicht wahrgenommen.
Der Roman gehört zum Top-Trio meines Leselebens, neben Hilary Mantels Spiegel und Licht und natürlich Leonardo Paduras Der Mann, der Hunde liebte. Die französische Kunst des Krieges dreht sich nicht nur um Krieg, sondern vor allem um das Frankreich der Gegenwart und den Einfluss der verheerenden Kolonialkriege bis in unsere Tage. Rassismus. Identitäres Denken. Die »koloniale Fäulnis«, die Unterscheidung in Wir und Sie.
Komplex, unbequem und tiefschürfend, dabei auch noch auf zwei Zeitebenen erzählend – ein Roman, wie ich ihn schätze. Daher konnte ich auch nicht einfach aufhören und mich dem neuen zuwenden. Dein Gesicht morgen musste ein paar Tage warten, ehe ich die Zeit gefunden hatte, Die französische Kunst des Krieges zu beenden und eine Buchvorstellung zu verfassen.
Im Dezember habe ich fünf Bücher gelesen, darunter drei ganz herausragende und zwei gute. Der schmale Pfad durchs Hinterland führt den Leser auf die andere Seite der Weltkugel und mitten hinein in ein Leben, das geprägt ist durch die schrecklichen Erlebnisse in einem japanischen Kriegsgefangenenlager. Hoch komplex, schonungslos und brillant eröffnet sich hier dem europäischen Leser eine ganz neue Perspektive.
Das gilt auch für das Sachbuch von Christopher Clark. Die Schlafwandler ist ein epochemachendes Werk, denn es zeichnet den Weg Europas in den Ersten Weltkrieg nach und löst sich dabei von der elendiglichen Schuldfrage. Im Fokus steht Frage nach dem Wie und das eröffnet neue Sichtweisen, die wesentlich ergiebiger sind, als die bisherigen Ansätze. Auch gut ein Jahrzehnt nach dem Erscheinen für jeden historisch-politisch Interessierten eine klare Leseempfehlung.
Lesenswert sind auch die Romane von James Baldwin, Von dieser Welt, und Benedict Wells, Vom Ende der Einsamkeit.
Die Besucher meines Blogs haben im Dezember besonders zwei Beiträge angesteuert: Café Berlin von Harold Nebenzahl und Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde von Friedrich Christian Delius. Beide Buchvorstellungen liegen gleichauf, ich wünsche beiden Büchern viele Leser.
Für das neue Jahr 2023 bin ich gut gerüstet, was das Lesen anbelangt. Um die Weihnachtszeit sind einige Rezensionsexemplare eingetroffen, die sehr spannend klingen, außerdem lagen natürlich Bücher unter dem Weihnachtsbaum. Vom nie schwindenden Berg noch nicht gelesener Bücher gar nicht zu reden.
Schreibe einen Kommentar