Mir fällt es aktuell schwer, über Literatur zu schreiben. Der russische Angriff auf die Ukraine hat mich persönlich zwar nicht überrascht, das hat sich seit Jahren angekündigt, doch fressen das Geschehen dort, die verlogene Brutalität des Regimes, seiner Trolle und Liebediener rund um die Welt meine Aufmerksamkeit. Trotzdem ein Rückblick:

Der zweite Monat des Jahres hat eine Reihe von tollen Lese- und Hörerlebnissen gebracht, ein Buch wird es in die besten Bücher des Jahres 2022 bringen.

Wolfgang Herrndorf: Sand

Ein Geniestreich, den ich gern besonders hervorheben möchte. Eine derart wilde, brutale, konsequent exekutierte und kaum zu ertragende Mixtur habe ich sehr lange nicht mehr gelesen. Es enthält so viele Echos, angefangen von Herrndorfs tödlicher Erkrankung bis hin zu einem anachronistischen Widerhall des 9/11 und Amerikas Weg in die Dunkelheit.

Eine ausführliche Buchvorstellung gibt es hier.

William Shakespeare: Romeo und Julia

Eigentlich fällt es mir schwer, den Namen „Shakespeare“ zu verwenden, denn ich gehöre zu den Oxfordianern, seit ich Kurt Kreilers „Der Mann, der Shakespeare erfand“ gelesen habe. Er hält Edward de Vere, den Earl of Oxford, für den eigentlichen Urheber. Weniger Probleme hatte ich , das Drama um die beiden Verliebten aus Norditalien mit Genuss zu lesen. Zwar sind einige Wendungen so abrupt, dass literarisches ESP nötig ist, um nicht aus der Kurve zu fliegen, dafür wird man mit Humor und Dramatik entschädigt. Wer jetzt meint, „Shakespeare“ wäre doch der aus Stratford, dem antworte ich in akzentfreiem Italienisch: Lecko mio!

Eric Vuillard: Die Tagesordnung

Das ist kein Roman! Zumindest kein gewöhnlicher, in den Augen beflissener Literatur-Bürokraten und beflissener Leser von Schreibratgebern. Man mag sich die Atemnot kaum ausmalen, die manchen Lektor befallen würde, hätte er dieses Machwerk auf den Tisch bekommen. Und ja – ich bin begeistert. Typisch Querkopf! Beim Versuch, es zu beschreiben, würde ich auf einen Begriff aus der Kunst zurückgreifen: Installation. Vuillard installiert fiktionale Szenen, persönliche Assoziationen und historische Begebenheiten, dass sonst verborgene Zusammenhänge deutlich werden, die der gewöhnlichen Historiographie einen Schienbeintritt versetzen. Ich mag so etwas. Andere vielleicht nicht. 

Zur ausführlichen Buchvorstellung: hier entlang.

Heinrich Heine: Deutschland, ein Wintermärchen

Verse! Ganz dicke TRIGGERWARNUNG! Heinrich Heine, deutscher Dichter im Exil, hat es gewagt! Er hat ein spöttisches, untadelig boshaftes und vor allem politisches Werk verfasst und als Reiselektüre getarnt! Die armen preußisch-deutschen Zensoren! Heute erscheint alles recht harmlos, was nicht nur an den Sozialen Medien liegt, sondern vor allem an den Errungenschaften, die seit der gescheiterten Revolution 1848 erreicht wurden – über einen blutigen Umweg, aus dem allzu viele nichts oder das falsche gelernt haben. Allein dafür lohnt sich die Lektüre.

Barry Unsworth: Das Sklavenschiff

Der Roman „Das Sklavenschiff“ von Barry Unsworth ist eine positive Überraschung gewesen. Die Handlung des Historischen Romans nimmt völlig überraschende Wendungen, berührt dabei Grundsätzliches der menschlichen Existenz, was von einem Abenteuerroman nicht zu erwarten ist. Wie der Titel schon andeutet, wird es brutal, was angesichts der historischen Realitäten wenig verwunderlich und angemessen ist. Doch bleibt der Roman da nicht stehen, er geht mehrere Schritte weiter. Manche Teile sind etwas anstrengend zu lesen, rückblickend hätte man diese Kapitel auch einfach streichen können.

Pierre Lemaitre: Spiegel unseres Schmerzes

Der abschließende Teil seiner Trilogie führt den Leser in das Kriegsfrankreich des Jahres 1940, das für die Grand Nation ein verheerendes Debakel bringt. Von der Führung längst allein gelassen, entpuppen sich die handelnden Figuren als bemerkenswert anpassungsfähig, während sie durch das vom Vormarsch der Wehrmacht aus den Fugen geratene Frankreich irren und auf einen Ort zusteuern, an dem alle schließlich aufeinandertreffen. Ein toller, rundum gelungener Abschluss des großen Dreiteilers!

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Phillip P. Peterson: Universum

Für einige Tage hat mit das Hörbuch gefesselt. Die Spannung des Romans, der sich etwas Zeit lässt, ehe sich eine Tür öffnet zu einer Reise an die Grenzen des Verstandes, trägt tatsächlich bis zum Ende. Das liegt an der gelungenen Komposition der Erzählung, den Figuren, die gut gewählt und weiterentwickelt werden, so dass sie ihre Konflikte über einen langen Zeitraum miteinander austragen können und diese sich wandeln. Schließlich ist der Roman dankenswerterweise nicht mit technischen Details überfrachtet.

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Volker Kutscher: Der stumme Tod

Der zweite Band seiner Krimi-Reihe um Gereon Rath als ermittelnder Kommissar im Berlin der zugrunde gehenden Weimarer Republik ist unterhaltsam und ein netter Schmöker nebenbei. Das Genre ist nicht gerade mein liebstes, eigentlich mag ich die Kriminalfälle gar nicht besonders, mich interessiert das politische Drumherum, das in diesem Falle eher Couleur ist und am Rande mitschwingt. Aber: Es geht um die Filmindustrie an einer Bruchstelle, nämlich von Stumm- zu Tonfilm und das reicht völlig, um das Buch für lesenswert zu halten.

Deniz Ohde: Streulicht

Bei vielen Dingen, die das eigene Leben geprägt haben, hofft man, dass sie sich irgendwann erübrigen oder aus der Welt geschafft werden. Bestenfalls schon einer nicht wiederkehrenden Vergangenheit angehören. Ein Roman wie „Streulicht“ belehrt dann eines Besseren, in Wirklichkeit natürlich Schlechteren, denn das Übel ist zäh. Ohde ist ein wunderbares Buch gelungen, das auf eine zurückhaltende Art sprachlich großartig die Dinge einfängt und ins Licht stellt, die im Verborgenen liegen. Chapeau!