Auf meinem Blog habe ich mehrfach Romane vorgestellt, die mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurden. Aufmerksam geworden bin ich auf diesen Literaturpreis durch Alexis Jennis Die französische Kunst des Krieges, ein paar Jahre später hat Pierre Lemaitre mit seinem Wir sehen uns dort oben das Interesse richtig geweckt.
Seitdem lese ich mich Stück für Stück in die Vergangenheit des Prix Goncourt und verfolge die neuen ausgezeichneten Romane. Ein wenig hat mich die Sammelleidenschaft gepackt. Dabei habe ich festgestellt, dass ich mit Rimbauds Die Schlacht und Maguerite Duras Der Liebhaber zwei Preisträger gelesen habe, ohne mir darüber bewusst zu sein. Vor mir liegen noch sehr interessante Bücher, etwa Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell.
Eine Zeitlang konnte ich ohne Einschränkung sagen, dass der Prix Goncourt eine literarische Bank sei. Jeder Roman, der damit ausgezeichnet wurde, hat mir ausgezeichnet gefallen. Leila Slimanis Nun schlaf auch du war die erste Enttäuschung, sprachlich und inhaltlich fällt dieser Roman gegenüber den anderen ab. Trotzdem ist er lesenswert, weil er eine bedeutende gesellschaftliche Schieflage nicht nur in Frankreich thematisiert. Kein Grund also, mit dem Sammeln aufzuhören.
Die Linie bricht
Das Jahr 2022 wird allerdings die Linie brechen, denn den Roman, der mit den Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, werde ich ignorieren. Die Umstände, die zur Kür des Werkes führten, sind ohnehin kurios. Wie zu lesen war, konnte sich die Jury nicht einigen, erst die Doppelstimme des Vorsitzenden gab schließlich den Ausschlag. Den erwählten Roman werde ich nicht lesen – ein autobiographisches Thema ist mir wegen der aktuellen Geschehnisse gleichgültig.
Den Prix Goncourt bekommt Brigitte Giraud, ihr Roman Vivre Vite bedient das autofiktionale Genre. 2022! Wie man das angesichts des Ukraine-Krieges eine Bauchnabelschau auch nur in Erwägung ziehen konnte, ist mir schleierhaft, weil eben auch einen Roman namens Der Magier im Kreml* von Guliano Da Empoli zur Wahl stand, der allein vom Titel eine Nähe zum zentralen Thema des Jahres verrät. Den werde ich lesen und bei Gelegenheit vorstellen.
Leider hat mir der Siegerroman von 2021, Die geheimste Erinnerung der Menschen von Mohamed Mbougar Sarr, die zweite Enttäuschung gebracht. Vielfach gerühmt und gelobt, hat er mich in seiner Gesamtheit nicht überzeugen können. Zweifelsfrei hat er Qualitäten und ist daher durchaus lesenswert, über lange Passagen hinweg sogar ein Roman, den man ungern aus der Hand legt, und doch …
Bloggestöber
Wie immer in solchen Fällen, stöbere ich gern in anderen Blogs, um meine eigene durch weitere Sichtweisen zu ergänzen. Eigentlich ist das der größte Vorteil der Literaturbloggerei: Dem Leser erlaubt das einen schnellen Zugriff auf neue Perspektiven, die das eigene Lesen mit neuen Sichtweisen erweitern.
Petra Reichs Besprechung (Literaturreich) ist tendenziell auch negativ ausgefallen, ihr sind andere Dinge aufgestoßen als mir. Einen deutlich positiveren Eindruck hat der Roman bei Barbara Busch (Mit Büchern um die Welt) hinterlassen, auch kann ich einige Vorzüge, die Thomas Hummitzsch (intellectures) nennt, nachvollziehen. Wie gesagt: Sarrs Roman hat Qualitäten.
Lese-Vorfreude
Neben dem wunderbaren Berg an ungelesenen Büchern trudeln peu á peu Neuerscheinungen ein, auf die ich mich sehr freue. Zwei davon kommen aus Frankreich, neben dem bereits erwähnten Kremlmagier ein Büchlein von Eric Vuillard, der sich in Ein ehrenvoller Abgang* mit den Vietnam-Kriegen befasst. Das ist ein Thema, das mich sofort angesprochen hat, es ist kein Wunder, dass diese Kriege in der Literatur, die ich lese, immer wieder eine Rolle spielen.
Mitte des Monats nimmt die Navajo-Police ihre Arbeit (wieder) auf. Der Roman Tanzplatz der Toten* von Tony Hillerman eröffnet eine mehrteilige Buchreihe um zwei Navajos und ihre Ermittlungsarbeit – ein Thema, das mein Interesse auf den ersten Blick geweckt hat.
Aktuell lese ich den Auftaktband einer Geschichte über die Revolution von 1848: Die Flamme der Freiheit* von Jörg Bong führt stimmungsvoll, gut informiert und – ja – spannend in die Ereignisse nach der Pariser Februarrevolution 1848 ein, die Deutschland hätten eine Republik bringen können. Die Feinde der Demokraten, Fürsten, Nationalisten, Konstitutionelle und Kommunisten waren zahlreich – da man das Ende und seine Folgen kennt, eine tragische Geschichte.
Der Februar 2023 ist nicht nur das 175. Jahr nach der Revolution von 1848, sondern auch das Jahr eins nach Beginn des erweiterten Angriffs- und Vernichtungskrieges von Putins Russland gegen die Ukraine. Zu diesem Anlass habe ich mir Essays von Tanja Maljartschuk und ein Kriegs- bzw. Fluchttagebuch von Julia Solska als Lektüre ausgewählt. Für den nötigen Eskapismus sorgt Urban Fantasy aus der Feder von Benedict Jacka und ein modernes Märchen von John Ironmonger.
Und der Januar?
Gemischt. Sehr gut gefallen haben mir Herkunft von Saša Stanišić und Srebrenica überleben von Hasan Hasanović, weniger gelungen fand ich Totentanz – 1923 und die Folgen von Jutta Hoffritz und Die Stunde der Hyänen von Johannes Groschupf. Die Folgerungen, die Hoffritz aus den Ereignissen des Katastrophenjahres 1923 zieht, sind m.E. zu weitreichend; die Weimarer Republik war zu diesem Zeitpunkt eben nicht eine auf Abruf.
Einen Favoriten weiß ich nicht zu benennen. Internat von Serihy Zhadan und Hausers Ausflug* von Steffen Mensching sind wohl die gehaltvollsten und besten Romane, die ich im Januar gelesen habe. Der Noir-Thriller-Klassiker Die große Uhr* von Kenneth Fearing hat ebenfalls Qualitäten – und zieht Interesse auf sich: Die Buchvorstellung wurde am häufigsten gelesen.
Ein echter Höhepunkt war Volker Kutscher Die Akte Vaterland. Der vierte Teil der Reihe um Gereon Rath ist erheblich besser als die guten Vorgänger, spannend, vielschichtig, politisch und stimmungsvoll. Zu diesem Zeitpunkt war die Weimarer Republik dann tatsächlich eine auf Abruf. Der fünfte Teil trägt den Titel Märzgefallene – er spielt im März 1933. Das passt doch gut für eine Lektüre im März 2023.
[*Rezensionsexemplar, daher Werbung]
Schreibe einen Kommentar