Meine Lektüre im Juli 2022. Diesmal zwei Sachbücher, einen Klassiker, eine herausragende Novelle und einen großen Roman Europas.

Jede Zeit hat ihre Widersprüchlichkeiten. In »Robinson Crusoe« von Daniel Defoe wird vom Protagonisten zwar die Ausrottung der Ureinwohner Amerikas durch die Spanier beklagt und kritisiert; die Sklaverei jedoch nicht. Sie ist ganz normaler Bestandteil der Welt, in der die Geschichte spielt. Immerhin geht Crusoe mit Freitag nicht brutal um, im Gegenteil: Für den schiffbrüchigen Insel-König ist er ein willkommener Gesprächspartner, mit dem er über Gott und die Welt spricht.

Widersprüche gibt es auch im Highlight dieses Monats zuhauf. »Grand Hotel Europa« zielt auf die Absurditäten des (Massen-)Tourismus, der zerstöre, was ihn anziehe. Wie so vieles in diesem großen Roman sehr treffend formuliert. Das Buch nimmt kein Blatt vor den Mund, sondern feuert aus allen Rohren.

Völlig ungeniert führt der Autor die Abgründe vor, keineswegs nur den Tourismus betreffend; die zweite große Reisebewegung, die Flucht, findet ihren Platz. Kreuzfahrttouristen überschwemmen Malta – und zahlen weniger für ihre komfortablen Reisestädte als Fliehende aus Afrika für die riskante Fahrt mit einem Seelenverkäufer.

Auch der amerikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger Ernest Hemingway wird als vielschichtige, widersprüchliche Figur geschildert: Leonardo Padura nimmt sich seiner an, gibt ihm eine eigene Erzähl- bzw. Zeitebene, um das zur Neige gehende Leben Hemingways darzustellen.

Eine Wiederentdeckung war die Lektüre der Schachnovelle von Stefan Zweig. Anlässlich der – sehr gelungenen – Verfilmung habe ich die Erzählung noch einmal durchgeschmökert und war wie bei der Jahre zurückliegenden Erstbegegnung schlicht begeistert. Als ich noch Schach gespielt habe, war übrigens die Königsindische Verteidigung meine Lieblingseröffnung mit Schwarz.

Ganz besonders hat mich das Sachbuch von Kaplan berührt. Die Schicksale der von den Nazis zu Juden gemachten Deutschen in den zwölf Schreckensjahren sind erschütternd – egal, wie viele Bücher man zu diesem Thema liest, dem Terror kann man sich nicht entziehen.

Ilja Leonard Pfeijffer: Grandhotel Europa

Mit beachtlicher Konsequenz bereitet der Roman seinem Leser einen ganzen Strauß besonders unterhaltsamer Zumutungen. Boshaft, dank einer ungeheuren Sprachgewalt zum Schreien komisch, dann wieder nüchtern und melancholisch – die Vielfalt der Stimmungen, die Pfeijffer hervorzurufen weiß, ist bemerkenswert. Und seinem Thema angemessen, denn ›Grand Hotel Europa‹ hat eines: Reisen in seinen vielfältigen Facetten. Tourismus, natürlich, in seinen schrecklichen Ausprägungen, aber auch Flucht. Es gelingt dem Roman, beide Seiten ganz wunderbar miteinander zu verschlingen, nicht nur durch das Gegenüberstellen von gegenwärtigen Aspekten, sondern auch mittels der Vergangenheit. Ja, der Gründungsmythos Europas, Homers und Virgils Schriften, auf die sich das halbe Mittelalter zwecks Herrschaftslegitimation berufen hat, findet nicht nur Eingang in den Roman, Pfeijffer macht ihn auf eine geniale Weise zum konstituierenden Element. Und die Sprache!

Ausführliche Buchvorstellung: hier.

Stefan Zweig: Schachnovelle

Hannibal gegen Quintus Maximus, den römischen Zögerer, das hochfliegende Genie gegen den malmenden Steinzerkleinerer, der, in der Sache unendlich unterlegen, durch Zeit und Raum seinen Gegner niederringt. Dessen Wucht verliert sich in der unendlichen Weite, wird von ihr absorbiert. Napoleon gegen Kutusov ist das zweite Paar historischer Größen, die Zweig in seiner Novelle ausdrücklich nennt. Ich musste an die Wehrmacht denken, deren Blitzkrieg in den verschlammten Weiten der Sowjetunion, vor allem der Ukraine, verendete. Zweig schreibt über Geschichte, die tiefen Mechaniken, die alles bestimmen, und personalisiert sie; verknüpft alles mit seiner Gegenwart, den Schrecken des NS-Regimes, namentlich Gestapo und SS, und führt am Ende alles auf den inneren Kern des Menschen zurück. Es ist für mich immer noch ungeheuerlich, dass sich Zweig das Leben nahm, ausgerechnet in jenem Monat, da die deutsche Niederlage bei Stalingrad manifest wurde.

Daniel Defoe: Robinson Crusoe

Ich war sehr gespannt auf diesen Roman, der Anfang des 18. Jahrhunderts geschrieben wurde und Mitte des 17. Jahrhunderts spielt. Die grundsätzliche Geschichte glaubt jeder zu kennen, darum haben mich eine Reihe von Dingen sehr überrascht. Die Hauptfigur ist anfangs – gegen weisen elterlichen Rat – auf der ungeheuer dynamischen Überholspur unterwegs; Abenteuerlust, Seefahrt, Geschäftssinn und Erfolg, der dem Protagonisten jedoch nicht genügt. Er stürzt ins Unglück und findet – für mich mit sehr überraschender Wucht – in Gott seine Rettung. Eine Art mönchischer Hippie erkennt in seinem Elend den wahren Wert der Dinge, auch der Einsamkeit, dank seiner Hinwendung zu Bibel und dem Herrn. Eine Art Abenteuer-Heilsgeschichte, eine Warnung vor den Tendenzen der – 300 Jahre alten – Moderne und ihrem Streben nach Vernunft und überschäumenden Ehrgeiz, statt das Leben auf der »Mittelstraße« zu beschreiten. Schön erzählt, ich hatte meine Freude an dem Roman.

Marion A. Kaplan: Der Mut zum Überleben

Ich werde gar nicht erst den Versuch unternehmen, diesem Buch gerecht zu werden. Es ist eine Lawine an Informationen, Schicksalen, Beispielen aus einer Zeit der Dunkelheit, die es fertigbrachte, immer dunkler zu werden. Wann immer ich ein Buch in die Hand nehme, das vom Schicksal jener berichtet, die von den Nazis als Juden gebrandmarkt wurden, bleibt ein gerüttelt Maß Fassungslosigkeit. So oft gehört, so viel gelesen oder gesehen – und am Ende bin ich immer wieder verblüfft über das Ausmaß des Höllensturzes. Was die Autorin dieses lesenswerten Sachbuches geschafft hat, ist den Fokus auf die weibliche Seite des Dramas zu lenken. Tatsächlich stehen die Frauen im Schatten, es bleibt die Hoffnung, dass sich daran seit der Veröffentlichung von »Der Mut zum Überleben« etwas geändert hat. Der Druck, unter dem Frauen standen, war immens! Zu den wirklich bitteren Momenten gehören jene, wenn der Mann seine überkommene Position und eingebildete Weltweisheit nutzte, um eine Auswanderung zu verhindern – gegen den, im Nachhinein weisen – Widerstand seiner Frau.

Katrin Passig: Handbuch für Zeitreisende

Ganz charmant, ab und zu auch ganz witzig und mit einigen kleinen Aha-Erlebnissen ist Katrin Passigs Handbuch für Zeitreisende. Es gibt eine Gruppe, die das wirklich lesen oder hören sollte: Autoren von Zeitreiseromanen. Es erspart ihnen manche Gedankenakrobatik und einige daraus resultierende Fehler, außerdem ist es eine inspirierende Quelle. Wer Historisches schreibt, bekommt vielleicht auch ein paar Hinweise über das Alltagsleben, allerdings sollte man sich mit Dingen wie Datum und seine Abgründe ohnehin befasst haben. Hier und da finden sich kleine Schätze: »Wer Schlachten für entscheidend hält, lässt sich von dem blenden, was leicht zu sehen ist und viel Krach und Aufmerksamkeit erzeugt.« Ja, so ist es. Wallenstein wusste das übrigens.

Leonardo Padura: Adiós Hemingway

Zwischen Cuba und dem amerikanischen Schriftsteller Hemingway gibt es eine recht lange Verbindung. Glaubt man der Hauptfigur aus Leonardo Paduras Roman, war das keine besonders intensive. Überhaupt steht Mario Conde dem Großautor mit Nobelpreis sehr distanziert gegenüber, der Ex-Polizist war einst Bewunderer und wollte wie sein Vorbild als Schriftsteller arbeiten; die Entzauberung Hemingways, sein Verhalten gegenüber Kampfgenossen im Spanischen Bürgerkrieg und später, die fehlende Distanz zu den Roten in Moskau (Intellektuelle haben traditionell eine Wahrnehmungsschwäche) und die eigene Reife haben zum Bruch geführt. Und doch versucht sich Conde dem Verstorbenen mit einer bemerkenswerten Neutralität dem Fall zu nähern, der dem lange verstorbenen Hemingway auch noch einen Mord eintragen würde. Vordergründig ein Krimi, doch unter diesem eher dürren Firnis eine Geschichte über Literatur, Schreiben und die Existenz als scheiternder, sterbende Star.

Ausführliche Buchvorstellung: hier.