Es ist immer noch Krieg. Interessant zu beobachten, auch an mir selbst, wie sich dieser äußerste Ausnahme-Zustand peu á peu in den Alltag als etwas Gewöhnliches einschleicht. Nicht das erste Mal, das galt auch für den russischen Afghanistan-Krieg, die Golf-Kriege, den Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien, den Wahnsinn nach 9/11, die gescheiterten Befreiungskriege der Arabischen Welt, den ewigen Krieg der Kurden um ihr Überleben usw. Ganz schön viele Kriege kommen zusammen, doch ist und bleibt der russische Angriff etwas Außergewöhnliches.

Im vergangenen Monat habe ich »Propaganda« von Steffen Kopetzky noch einmal gelesen, was auch am russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine lag. Die USA hatten sich in Vietnam (ja, darum geht es in diesem Roman) in einen Kolonial-Krieg der Franzosen (so genannter Indochina-Krieg) verstricken und durch die unsinnige Domino-Theorie nicht wieder befreien können. Putins Krieg ist ein Kolonialkrieg, einer der ganz fürchterlichen, denn er zielt auf die völlige Vernichtung von Staat und Volk. In Russland gibt es – anders als in den USA (ein Kernthema bei »Propaganda«) – keinen nennenswerten Widerstand gegen den Krieg. So oder so wird sich alles auf dem Schlachtfeld entscheiden, ein bitterer Moment.

Die übrige Lektüre in diesem Monat ist ein wenig krautig. Meine Liste an Prix Goncourt-Romanen ist um einen gewachsen und was für einen. »Wie später ihre Kinder« war ein großes Leseerlebnis. Mit »Diesseits des Van-Allen-Gürtels« setze ich meinen Streifzug durch Wolfgang Herrndorfs Werk fort, eine der kurzen Erzählungen darin hat es mir ganz besonders angetan, die »Zentrale Intelligenz Agentur« ist so wunderbar böse und komisch. Ganz anders der »Herr der Diebe« von Cornelia Funke, das in Venedig spielt.

Mit »Macht der Karten« habe ich mal wieder ein Sachbuch gelesen, auch als Recherche. Nicht nur in meiner Abenteuerreihe spielen Karten eine wichtige Rolle; was wäre Fantasy ohne? Es gab einige überraschende Erkenntnisse in diesem lesenswerten Buch. Auch der »Gulliver« ist Teil der Recherche gewesen, Joshua, einer der beiden Protagonisten meines Siebenteilers, hat das Buch von Swift im Gepäck.

Steffen Kopetzky: Propaganda

Ganz selten lese ich einen Roman nach kurzer Zeit noch einmal. In diesem Fall habe ich das Hörbuch gewählt, das von Johann von Bülow exzellent vorgetragen wird. Ein absoluter Genuss. Wenn man sich auf so etwas einlässt, betritt man eine Welt, die einem bereits vertraut vorkommt, ein weiteres Mal und nimmt viele größere und kleinere Details wahr, die bei der Erstbegegnung durchgerutscht sind. Da »Propaganda« enorm vielschichtig und umfangreich ist, zudem über eine ausgezeichnete Sprache verfügt, die vom Sprecher wunderbar transportiert wird, ist die erneute Reise ungeheuer gewinnbringend. So viele Andeutungen und Vorbereitungen für das, was später im Roman geschieht! Und seine Kernaussage, eine scharfe Kritik an den USA ohne jede Spur von populistischem, dumpfbackigem Antiamerikanismus, wie er gerade in Deutschland von Linken und Rechten mit Wollust vorgebracht wird, ist bei aller Unterhaltung eben eine zentrale, eine existenzielle.

Ausführliche Buchvorstellung – hier.

Cornelia Funke: Herr der Diebe

Unsere Frühjahrsreise 2022 führte nach Venedig. Die Stadt wäre ein Schmuckkästchen, eigentlich, doch leider erscheint sie dem Untergang geweiht. Auch ohne Erderhitzung, denn der Massentourismus ist wie ein wucherndes Krebsgeschwür. Trotz allem war der Aufenthalt dort in vielerlei Hinsicht ein Gewinn und der perfekte Anlass, endlich eine Leselücke zu schließen. Ich kenne viele Bücher von Cornelia Funke, doch »Herr der Diebe« ist bislang an mir vorüber gegangen. Unmittelbar nach einem Aufenthalt in Venedig ist es tatsächlich etwas Besonderes, den Roman zu lesen. Ein typisches Funke-Buch, die Figuren sind einander verbunden, es herrscht eine charakteristische Wärme, gewürzt mit leichten Antagonismen. Gerade das zeichnet die Literatur der Autorin aus, jedenfalls nach meiner Sicht der Dinge. Die Geschichte selbst ist prima für Kinder geeignet, zum Vorlesen oder für Selbstleser. Ich hatte mein Vergnügen. Und »Der Drachenreiter« ist und bleibt mein Lieblingsbuch von Cornelia Funke.

Wolfgang Herrndorf: Diesseits des Van-Allen-Gürtels

Ein seltsamer Titel. Der Van-Allen-Gürtel ist eine Art Schutzschild für die Erde und seine Bewohner gegen kosmische Strahlung. Es handelt sich also um eine verquere Ortsbezeichnung für die Lebensumwelt des Menschen. Und um die dreht es sich in den sechs Erzählungen, die in diesem Bändchen versammelt sind. Vieles von dem, was die bedauerlicherweise spärliche Literatur Herrndorfs ausmacht, findet sich dort. Es ist ungeheuer spannend, wie der Autor seine Figuren aufeinanderhetzt und die sich daraus ergebenden Irrungen und Wirrungen darbietet. Eine Schlachtplatte menschlicher Beziehungs- und Kommunikationsabgründe, grotesk, irrwitzig und zugleich himmelschreiend banal. Die Frage stellt sich: Welcher Gott sollte je auf die Idee gekommen sein, ausgerechnet diese Wesen mit einem Schutzschild gegen auslöschende Strahlung aus dem Kosmos zu versehen?

Jonathan Swift:  Reise nach Lilliput. Gullivers Reisen erster Teil

Einer der beiden Hauptfiguren meiner Abenteuerreihe nimmt ein Buch mit auf seine Reise in »Eine Neue Welt«. Damit es sich nicht um ein namenloses Werk handelt, vielleicht sogar ein kleiner inhaltlicher Bezug hergestellt werden könnte, habe ich einen kurzen Blick auf die Literatur der Zeit um 1730 geworfen. Swifts Werk, oft als Kinder- und Jugendbuch verstanden, ist rund ein Jahrzehnt vor der Handlung in meinen Romanen entstanden. Es macht Spaß, dem »Clash of Cultures« zu folgen. Die von Swift geschaffene, seine eigene kritisierende Welt, sind für mich überraschend ähnlich fremd. Überhaupt ist es mir ein Rätsel, was Kinder mit dieser Geschichte anfangen sollten; grotesk und überzogen, eine heimliche Kritik an den dank Zensur und Strafe schwer zu kritisierenden Umständen, voller boshaftem Witz.

Ute Schneider: Die Macht der Karten

Ein sehr interessantes Sachbuch über Karten und ihre Geschichte. Vieles, was selbstverständlich erscheint, ist es nicht. Norden ist immer oben? Von wegen! Während der Recherche zu meinen Romanen bin ich mehrfach auf Dinge gestoßen, die mit Karten zu tun haben und die ich ganz direkt in die Handlung einbauen konnte. Kleinigkeiten oft, aber von weitreichender Bedeutung. Die Geschichte der Karten hat viele Facetten, eine für mich ganz besonders interessante, sind »Fehler« und ihre bemerkenswerte Überlebensdauer. Inseln im Atlantik, die es nie gab, wurden über viele Jahrzehnte, ja: Jahrhunderte weitergegeben, obwohl längst hätte klar sein müssen, dass es sie nicht gibt. Und natürlich passt auch der Mensch beim Kartenzeichnen die dort abgebildete Realität seinem Weltbild an, bis in die jüngste Vergangenheit. Vergleichen Sie doch einmal, wer die Krim wem zuschlägt, der Ukraine oder Putins Russland.

Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder

Ein Coming of Age Roman. Jugendliche, Hormone, Partys, Sex, Drogen, zäh verstreichende Nachmittage voller Ödnis. Soweit, so erwartbar. Doch gastiert dieses Buch in Ostfrankreich, einem Ort namens Heillange, ein »Dreckskaff«. Über allem liegt Tristess wie ein dichter Nebel aus den Schloten der Industrie, die einst diese Region geprägt hat. Im Ersten Weltkrieg haben sich deutsche Kriegszielphantasten immer wieder die Finger gerieben, heute sähe die Sache wohl anders aus. Auch wenn der Roman Anfang der 1990er Jahre spielt und sich die Lage seitdem noch einmal dramatisch verschärft hat, ist die Handlung auch vom unaufhaltsamen Niedergang der Industrie geprägt. Die Folgen sind drastisch. Autor Mathieu findet die richtige Sprache, oft lakonisch, knapp, verkürzt und dann – plötzlich wie ein lange schlummernder Vulkan – explosiv und von bedrückendem Reichtum an Bildern; niederschmetternden Bildern, um genau zu sein. Prix Goncourt garantiert fast immer sprachlich hohes Niveau.

Ausführliche Buchvorstellung – hier.